Symbolbild "Reisen": Illustration der Weltkugel mit wichtigen Touristenattraktionen und einem Flugzeug.
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Mobilität und Nachhaltigkeit
Wenn sich Reiseziele und Klimaziele widersprechen

Mobil zu sein und sich international zu vernetzen haben einen großen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Wie passt das mit Klimaschutz zusammen?

Von Vera Müller 29.12.2022

Forschung & Lehre: Herr Professor Gössling, was zeichnet nachhaltiges Reisen aus?

Stefan Gössling: Eine nachhaltige Reise muss möglichst wenig Treibhausgas-Emissionen verursachen. Schaut man sich die Verkehrswege zum Reiseziel an, dann können aktuell leider viele Reisen, insbesondere Fernreisen, kaum als nachhaltig bezeichnet werden. Sollten Fernreisen weiter zunehmen, sind die Klimaziele unmöglich zu erreichen. Deshalb wäre mein Wunsch, dass Destinationen nicht länger in Fernreisemärkten für sich werben. Deutschland zum Beispiel macht sehr viel Werbung in Australien, in den USA und auf anderen Kontinenten. Wenn man sich das Reiseverhalten von jungen Menschen anschaut, dann reist eine zunehmende Anzahl inzwischen nicht mehr in die USA, sondern orientiert sich lieber in Richtung Neuseeland, Australien oder Asien. Damit steigen auch die Emissionen.

F&L: Das ist doch genau das, was viele junge Menschen wollen und was gewünscht ist: möglichst viele Auslandserfahrungen zu sammeln.

Stefan Gössling: Grundsätzlich halte ich interkulturellen Austausch für sehr wichtig. Ein Semester im Ausland zu verbringen, ist zum Beispiel eine der besten Möglichkeiten, um in eine andere Kultur einzusteigen. Können wir das aber vereinbaren mit den Klimazielen? Hier müssen wir uns schon fragen, warum immer mehr junge Menschen nach Australien oder Neuseeland reisen, wenn man genauso gut in England, Frankreich oder anderen näherliegenden Ländern sehr viel über andere Kulturen lernen kann.

Portraitfoto von Professor Stefan Gössling
Stefan Gössling ist Professor an der School of Business and Economics der Linné-Universität und am Department of Service Management der Universität Lund. Peter Herrmann

F&L: Worauf führen Sie diesen Drang nach fernen Zielen zurück?

Stefan Gössling: Das Exotische liegt für viele Menschen in der Distanz. Außerdem lassen sich solche Reisen auch in den sozialen Medien gut kommunizieren. Hier geht es darum, den eigenen sozialen Status deutlich zu machen. Dieser Status generiert sich dabei aus der Reiseaktivität und dem Reiseziel und ist eine Reflexion auch auf die geringere Mobilität – oder sogar die Immobilität – anderer. Das fing um 2015 mit Facebook an, als das soziale Netzwerk Weltkarten einführte. Auf einmal wurde im Profil angezeigt, wo man überall schon war in der Welt. Damit wurde ein Vergleich automatisch möglich beziehungsweise aufgezwungen. Immobilität wird hier assoziiert mit niedrigem sozialen Status: Das ist wohl jemand, der sich nicht raus traut. Die Frage ist also letztlich, was das Reisemotiv und -ziel bestimmt. Auch viele Universitäten versuchen, Studierende zu rekrutieren, indem sie Austauschmöglichkeiten in sehr weit entfernten Destinationen anbieten. Sie müssen ebenfalls stärker darüber nachdenken, was sie ihren Studierenden anbieten und welche Konsequenzen das hat. Auch über den wissenschaftlichen Austausch und die Frage, ob der in der Art wie vor Corona – mit maximal vielen Reisen – stattfinden muss, wird diskutiert. Diese Fragen kann keine Akademikerin und kein Akademiker beziehungsweise keine Wissenschaftlerin und kein Wissenschaftler und auch keine Universität länger ignorieren.

F&L: Während der Corona-Pandemie zeigte sich, dass der Wissenschaftsaustausch auch virtuell, ohne physischen Kontakt, funktionieren kann. Wie beurteilen Sie das?

Stefan Gössling: Die Corona-Pandemie war ein Lackmustest. Weder Geschäftsreisen noch Reisen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern waren wirklich notwendig, um die Systeme weiter am Leben zu erhalten. Weder gab es einen massiven Einbruch in der Forschungstätigkeit noch ist die Weltwirtschaft stehen geblieben. Oftmals sind Reisewünsche stärker als Reisenotwendigkeiten. Als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler kann man sich schnell ein internationales Netzwerk mit entsprechend vielen Kontakten in der Welt aufbauen. Man arbeitet gerne mit diesen Menschen zusammen und diese werden in gewissem Sinn zu einer Art Familie, die man auch physisch wiedersehen möchte. Dieser physische Reisewunsch ist meiner Meinung nach oftmals stärker als die wissenschaftliche Notwendigkeit eines Treffens. Und natürlich sind solche Reisen häufig aus Fördertöpfen bezahlt, für manchen ist das sicherlich auch ein kleiner Gratisurlaub.

"Die Forschung zeigt, dass freiwillige Verhaltensänderungen im Flugverkehr sehr marginal sind." Stefan Gössling

F&L: Wie stark ist das Bewusstsein der Menschen, die viel und gerne reisen, für Klimaschutz und Nachhaltigkeit?

Stefan Gössling: Es existiert eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem, was wir gerne erreichen möchten, nämlich Klimaschutz, und dem, was Menschen individuell bereit sind, dazu beizutragen. Die Forschung zeigt, dass freiwillige Verhaltensänderungen im Flugverkehr sehr marginal sind. Ein kleiner Teil der Bevölkerung möchte sich korrekt verhalten, er geht sehr proaktiv mit der Klimafrage um und versucht, das "Richtige" zu tun. Das schließt auch die Bereitschaft ein, länger mit der Bahn zu fahren oder auf eine Fern- oder Flugreise zu verzichten, sich vegetarisch oder sogar vegan zu ernähren. Bei der Ernährung ist dieser Trend tatsächlich gar nicht so klein, weil die Vorteile aus einer veganen oder vegetarischen Ernährung – wie zum Beispiel besseres Wohlbefinden, neue Geschmackserlebnisse oder auch das Gefühl das "Richtige" zu tun – einen persönlichen Nutzen darstellen. Bei der CO2-Vermeidung handelt man dagegen altruistisch: Ich mache etwas anders, damit das Gesamtsystem sich verbessert, aber ich ziehe keinen persönlichen Nutzen daraus. Grundsätzlich sind Menschen aber nicht altruistisch. Wir sehen da einen sogenannten Consumer-Citizen-Gap: Als Konsumenten sind Menschen nicht bereit, anders zu handeln, aber als Bürger unterstützen sie gern eine Politik, die die Bedingungen für alle ändert. Das zeigt sich auch im Bereich Tourismus. Es besteht eine große Bereitschaft in der Bevölkerung, die Bedingungen für alle so zu ändern, dass der Flugverkehr nachhaltiger wird, aber der Einzelne gibt ungern eine Flugreise auf. Deswegen liegt ein großes Augenmerk auf der Politik. Wir brauchen sie, damit sich wirklich etwas ändert.

F&L: Wieviel Prozent der Bevölkerung reisen?

Stefan Gössling: In Deutschland verreisen circa 70 Prozent der über 16-Jährigen mindestens einmal im Jahr, davon nutzt knapp die Hälfte für die Haupturlaubsreise das Transportmittel Flugzeug. Global ist das natürlich ein ganz anderes Bild. Wir wissen, dass rund 58 Prozent aller internationalen Touristenankünfte – das schließt auch Geschäftsreisen, Studierende und den akademischen Austausch mit ein – mit dem Flugzeug stattfinden. Global fliegen aber lediglich zwei bis vier Prozent der Weltbevölkerung pro Jahr über eine Grenze hinweg. Fliegen ist also weltweit betrachtet eine sehr elitäre Angelegenheit.

"Global besteht auch das Problem, dass fast jede Destination weiter wächst." Stefan Gössling

F&L: Unterstützt die Tourismuswirtschaft mehr Klimaschutz und nachhaltiges Reisen?

Stefan Gössling: Leider kaum, eigentlich möchte ich sogar sagen: mit wenigen Ausnahmen gar nicht. Die deutsche Tourismusbranche hinkt im Vergleich mit anderen Ländern hinterher, wo deutlich mehr Debatten darüber geführt werden –  insbesondere auch zu der CO2-Problematik. Bei uns in Deutschland wird zwar diskutiert, aber das Hauptthema, nämlich die Frage nach den Emissionen, wird entweder totgeschwiegen oder "grün gewaschen". Global besteht auch das Problem, dass fast jede Destination weiter wächst. Dieses Phänomen entspricht dem Gedanken aus den 1950er Jahren: Alles muss wachsen, überall auf der Welt wird damit gerechnet, dass immer mehr Menschen immer mehr Urlaub machen und man von diesem Wachstum in irgendeiner Form profitieren muss. Das sind keine nachhaltigen Zukunftsmodelle. Ich wünsche mir, dass Destinationen in eine "steady-state-economy" hineingehen, also das bestehende System optimieren. Das hieße zum Beispiel, man versucht nicht, neue Hotels zu bauen oder mehr Gäste in die Destination zu locken, sondern man hält die Gästezahlen auf gleichem Niveau und versucht, den Umsatz pro Gast zu erhöhen. Ziel des Paris Abkommens ist es, alle CO2-Emissionen innerhalb der nächsten 28 Jahre auf null herunterzufahren.

F&L: Der sogenannte Übertourismus wird immer mehr zu einem Problem. Offensichtlich hält er aber wenige davon ab, in die davon betroffenen Orte zu reisen. Wie erklären Sie sich das?

Stefan Gössling: Es gibt Orte auf der Welt, die sehr attraktiv sind, aus dem einfachen Grund, weil sie einzigartig sind – und so viele Menschen dorthin reisen. Das macht sie zu den Reisezielen, die man "abhaken", die man einmal gesehen haben möchte im Leben. Übertourismus bedeutet immer die Perspektive der Einheimischen auf die Touristen. Touristen nehmen es nicht unbedingt als negativ wahr, wenn viel los ist. Im Gegenteil: Man lebt in dem Gefühl, dass man am richtigen Ort ist, gerade, weil so viele andere Menschen auch da sind.

F&L: Wer viel und häufig in der Welt unterwegs ist, wird gerne mit dem Etikett "weltgewandt und offen" versehen. Zu Recht?

Stefan Gössling: Die Frage ist: Wer tauscht sich wo mit wem aus? Da gibt es große Unterschiede. Ein Geschäftsreisender, der weltweit unterwegs ist, aber immer im gleichen Fünf-Sterne-Hotel absteigt und von dort aus seine Geschäfte tätigt mit den entsprechenden Menschen vor Ort – vielleicht oft mit den ökonomischen und politischen Eliten–, der hat vielleicht gar nichts gelernt über das andere Land. Möglicherweise haben sich sogar Vorurteile verstärkt. Im Gegensatz dazu wird ein Schüler oder eine Studentin, der beziehungsweise die in einem anderen Land in einer Familie lebt, ein ganz anderes Verständnis für diese Kultur mitnehmen – im besten Fall prägt das lebenslang und führt auch zu andauernden Freundschaften.