Studentin in leerem Hörsaal
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Wissenschaftsfreiheit
Wie die "neue Normalität" an Universitäten aussehen kann

Das coronabedingte Eingreifen in die Wissenschaftsfreiheit ist dauerhaft nicht gerechtfertigt. Ein Plädoyer für eine differenzierte Diskussion.

Ministerien wie Universitäten wird oft unterstellt, zögerlich und schwerfällig zu agieren. Die letzten Wochen haben ein anderes Bild gezeichnet. Umfassend und bemerkenswert schnell wurde der Hochschulbetrieb auf Online-Lehre und Homeoffice umgestellt. Die Universitäten und Hochschulen haben dadurch ihren Beitrag dazu geleistet, dass Deutschland bisher vergleichsweise gut die erste Welle der Pandemie bewältigt hat. Immerhin zählen Hochschullehrerinnen und -lehrer ebenso wie Studierende zum mobileren Teil der Bevölkerung.

Inzwischen versucht die Gesellschaft unter Berücksichtigung der gebotenen Distanz, wieder mehr persönliche Nähe zu ermöglichen. In den Schulen wird hart darum gekämpft, einen Ausgleich zwischen medizinisch Notwendigem und dem individuellen Anspruch auf möglichst optimale Bildung zu finden. Da es hier in mehrfacher Hinsicht um viel geht, ist die öffentliche Schärfe der Auseinandersetzung um die Wiederaufnahme des Schulunterrichts nicht überraschend. In der Universität findet ein vergleichbarer Streit hingegen nicht statt. Lediglich Einzelstimmen – zumal in der überregionalen Presse – fragen kritisch nach, welche Folgen die Pandemie für die Universitäten zeichnet.

Der ausgebliebene Streit ist bemerkenswert. Immerhin sind die Folgen der rasanten Digitalisierung der Lehre wie des gesamten universitären Miteinanders frappierend. Selbst elementare Fragen wurden bisher in der Hochschulöffentlichkeit in Breite kaum erörtert, sondern weitgehend auf den Austausch zwischen Ministerien und Präsidien begrenzt. Bestenfalls wurden ergänzend die Dekanate bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt. Eine breite Meinungsbildung fand hingegen nicht statt. Im Ergebnis wurden für einige wenige Unterrichtsformate – Übungen im Labor oder am Seziertisch etwa – erste Lockerungen erörtert. Auch arbeiten Verwaltungskräfte wieder häufiger am eigenen Büro- statt am Esstisch. Jenseits dessen jedoch bleiben die Universitäten leer, während sich die Biergärten wieder füllen.

Persönliche Gespräche für viele Fächer fundamental

Das festzustellen, heißt nicht, einer außerhalb der Universität populären, rücksichtslosen Öffnung das Wort zu reden. Über Vorlesungen in überfüllten Hörsälen braucht selbstredend bis auf Weiteres kein Gedanke verloren zu werden. Auch vereinheitlichte Formate, die primär auf standardisierte Wissensvermittlung zielen, werden auf absehbare Zeit nicht im Mittelpunkt des Ringens um den Präsenzunterricht stehen. Freilich gilt auch für die Vermittlung des "Wissens" wie für alle anderen Formen (des Seminars und der Übung) die raison d’être der Universität – die Wissenschaft als Lebensform. Im breiten Spektrum zwischen individuellen Laborarbeiten und Frontalunterricht vor hunderten von Studierenden gibt es deswegen zahlreiche weitere Formate, über die bisher kaum diskutiert wird. Zu denken ist an konzentrierte Seminare, Kolloquien für Examenskandidaten und Doktoranden sowie kritische Gespräche in Forschergruppen. Ihre Teilnehmerzahl ist meist sehr überschaubar. Derartige Formate kennen alle wissenschaftlichen Disziplinen. Für nicht wenige – etwa Geistes-, Rechts- und Sozialwissenschaften oder die Theologien sowie die pädagogischen Fächer – sind solche forschungsorientierten, diskussionsintensiven und oft persönlichen Gespräche fundamental. Videokonferenzen können sie, das räumen inzwischen immer mehr Kolleginnen und Kollegen ein, nur begrenzt ersetzen.

"Für die Vermittlung des 'Wissens' wie für alle anderen Formen (des Seminars und der Übung) gilt die raison d’être der Universität – die Wissenschaft als Lebensform."

Die Umstellung auf den Online-Betrieb war ein Eingriff in die durch das Grundgesetz gesicherte Freiheit von Forschung und Lehre. Die Ausnahmesituation zu Beginn des Sommersemesters hat diesen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit gerechtfertigt. Wenn die Gesellschaft jetzt versucht, das, was euphemistisch als "neue Normalität" beschönigt wird, stückweise und moderat wieder dem Zustand anzunähern, der vor dem Ausbruch der Pandemie bestand, so ist es nachgerade geboten, auch der Wissenschaft überall dort wieder die Freiheit der Lehre und des akademischen Miteinanders zu ermöglichen, wo dies ohne größere medizinische Risiken machbar scheint.

Faktisch wurde jetzt, Mitte des Semesters entschieden, dass die bestehende Online-Lehre fortzuführen ist, obwohl die Situation allmählich Spielräume erlaubte. Wünschenswert wäre eine konstruktive Erprobung beispielsweise von Mischformen aus Präsenz- und Online-Lehre. Die Entscheidung zu verhindern, was zukunftsweisend wäre, fiel über die Köpfe von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern wie Studierenden hinweg. Wenn Pragmatismus die Diskussion ersetzen soll, unterstellt man den Beteiligten Unmündigkeit. Vor allem aber wurde und wird so getan, als falle die Fortsetzung der Online-Lehre allein in die Entscheidungskompetenz von Ministerien und Hochschulleitungen. Das ist mitnichten so.

"Was sich jetzt einbürgert, wird ein Trägheitsmoment besitzen."

Angesichts der Lockerungen seit Mitte Mai ist es nicht mehr verhältnismäßig, den Präsenzbetrieb pauschal auszusetzen. Überall, wo direktiv die Online-Lehre bis zum Semesterende zur alleinigen Unterrichtsform erklärt wurde, zeichnet sich ein Konflikt zwischen dem Dienstrecht und der im Grundgesetz garantierten Wissenschaftsfreiheit ab. Nicht erst seit Humboldt, sondern schon seit den Anfängen in Paris und Bologna ist das Hochschulleben durch die universitas magistrorum et scholarium und fundamental durch die Freiheit von obrigkeitlicher Einflussnahme gekennzeichnet. Die gesamte Institution Universität basiert dabei auf dem Präsenzprinzip, so dass eine Schädigung der Wissenschaftsfreiheit und der gesamten universitären Lebensform droht, wenn es unverhältnismäßig lang außer Kraft gesetzt bleibt. Die Reglementierung dieses Miteinanders ist Ausdruck eines bürokratischen Verständnisses von Universität, das aus Kolleginnen und Kollegen (und übrigens auch Studierenden) Verwaltungsvorgänge macht, die inneruniversitäre Diskussion in der Kommunikation der Gremien untereinander abbildet und die Individualität von Forschung und Lehre konterkariert.

"Angesichts der Lockerungen seit Mitte Mai ist es nicht mehr verhältnismäßig, den Präsenzbetrieb pauschal auszusetzen."

Dass in den nächsten Monaten und vielleicht sogar noch deutlich länger eine völlige Rückkehr zum Status quo ante unwahrscheinlich ist, liegt auf der Hand. Angesichts von weiteren Pandemie-Wellen scheint es realistisch, dass die aktuellen Lockerungen im Laufe des Wintersemesters von einer "zweiten neuen Normalität" wieder eingehegt werden. Was sich jetzt einbürgert, wird ein Trägheitsmoment besitzen. Daher ist jetzt der Zeitpunkt richtig, um die Wissenschaftsfreiheit in ihr Recht zu setzen und möglichst individuelle Lösungen für Forschung und Lehre zu erproben, den Kolleginnen und Kollegen, aber auch den Studierenden mehr Verantwortung zuzumuten und Neues zu wagen. Dass dabei die Interessen von Risikogruppen berücksichtigt werden müssen, braucht nicht eigens hervorgehoben zu werden.

Inzwischen gibt sich fast jede Universität Leitbilder und Profillinien, die die gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Universitäten betonen. Gelten diese Ansprüche jetzt nicht mehr? Die wissenschaftlichen Disziplinen haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse nach Präsenz in Forschung und Lehre. Sie müssen mit den medizinischen Erfordernissen in Einklang gebracht werden. Das kann nicht durch Top-Down-Verfahren gelingen, sondern nur durch Gespräch, Diskussion und im Einzelfall auch Streit. Also durch das, was die Universität als Ort intellektueller Herausforderung im Kern ausmacht.