Literatur und Politik
Wie politisch kompetent sind Schriftsteller?
Schriftsteller bilden – das ist eine Binsenweisheit – keine homogene Gruppe, sie sind weder an formalen noch an inhaltlichen Übereinstimmungen mit ihresgleichen sonderlich interessiert. Es wäre schlicht langweilig, wenn Goethe und Hölderlin, Thomas Mann und Bertolt Brecht, Juli Zeh und Martin Mosebach im selben genus dicendi schrieben, ähnliche Geschichten erzählten und dieselben Botschaften vermittelten. Diese Lust an der Differenz und am Dissens unterscheidet Schriftsteller von Wissenschaftlern. So unterschiedliche Disziplinen wie Mathematik und Jura sind der regulativen Idee verpflichtet, verbindliche Aussagen und Urteilssätze zu liefern. Juristen sollten aufgrund von Gesetzestexten zu intersubjektiv gültigen Urteilen kommen; Mathematiker müssen sogar davon ausgehen, dass alle Berechnungen der Zahl Pi dieselbe Ziffernfolge aufweisen.
"Die Lust an der Differenz und am Dissens unterscheidet Schriftsteller von Wissenschaftlern."
Nun gibt es – eine weitere Binsenweisheit – auch in der Sphäre der universitär etablierten Wissenschaften Disziplinen, die sich an hochgradig unterschiedliche, gar an miteinander inkompatible Aussagen, Thesen, Modelle, Prognosen gewöhnt haben und diese in mal friedlicher, mal polemischer Koexistenz kultivieren. Die Politologie gehört zu diesen Disziplinen. Das zeigt sich zur Zeit besonders scharf an den unterschiedlichen Einschätzungen über die angemessene Reaktion auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Zu diesem medial dauerpräsenten und auch lebensweltlich bedrängenden Thema (Welternährung, Energiesicherheit, militärisch bedrohte AKWs et cetera) haben anders als etwa zu Problemen der Nano- oder Wasserstofftechnologie "alle" etwas zu sagen. Wenn alle mitreden, ist es angezeigt, besonders markante Stimmen herauszufiltern. Und das geschieht erstaunlicherweise immer noch in einem alten Format: dem des offenen Briefes oder des öffentlichen Appells. Ein solcher Text hat dann besonderes Gewicht, wenn ihn nicht nur prominente Köpfe etwa aus der Wissenschafts- und Mediensphäre, sondern auch renommierte Schriftsteller unterzeichnen. Offenbar halten sich viele Schriftsteller für politisch überdurchschnittlich kompetent und urteilssicher – und werden von vielen dafür gehalten.
Tradition der politischen Äußerung von Schriftstellern
Dass Schriftsteller sich politisch äußern, hat eine lange Tradition; man kann sie getrost mit dem Gilgameschepos, der Bibel oder Homer beginnen lassen. Nun ist es leicht, Beispiele für beides anzuführen: dass Schriftsteller in politisch komplexen Konstellationen eine beeindruckende Urteilskraft oder aber dass sie eine hochnotpeinliche Parteinahme für das schlechthin Inakzeptable (etwa die Politik Hitlers oder Stalins) bewiesen. Niemand, der bei Trost ist, dürfte ernsthaft argumentieren, dass Schriftsteller per se über eine höhere politische Urteilskraft verfügen als ihre Zeitgenossen. Dennoch gibt es viele Schriftsteller, die sich zu direkten politischen Interventionen, Urteilen und Taten berufen fühlen, und umgekehrt solche, die dies vermeiden.
Am berühmtesten deutschen Klassiker fällt auf, dass er zwar jahrzehntelang als nüchterner Berufspolitiker aktiv war, aber dezidierte öffentliche Appelle mit System vermieden hat. Anders als etwa Kleist mochte Goethe nicht zu militantem Widerstand gegen das napoleonische Frankreich aufrufen. Seine Texte, Dramen wie Tasso, Egmont und Faust voran, scheuen zwar nicht vor politischen Themen und Problemen, wohl aber vor pathetischen und polemischen Direktheiten zurück. Militante Verse wie die von Kleist "Schlagt ihn (den Franzos) tot, das Weltgericht / Fragt nach Euren Gründen nicht" wird man in Goethes Werk nicht finden. Wohl aber eine Lust an unbequemen Fragen und funktionalen Feststellungen dies- und jenseits aller politmoralisch aufgeladenen Pro- und Contra-Stellungnahmen. Zu den gerade auch für Literaturfreunde unbequemen Feststellungen des Tasso-Dramas gehört es, dass der geniale Ausnahmedichter Tasso politisch ein Totalversager ist; als Berufspolitiker wäre er schlicht eine Fehlbesetzung; die Befreiung Jerusalems kann er zwar eindrucksvoll bedichten, nicht aber an- beziehungsweise ausführen. Was bei Goethe nicht zur Aufwertung von Tassos intriganten Gegenspielern aus der professionellen Politsphäre führt, sondern zu einer funktionalen Analyse der Frage, ob und gegebenenfalls was so unterschiedliche Köpfe wie der eines Dichters und der eines Berufspolitikers einander zu sagen haben.
Appelle von Literaten zum Ukraine-Krieg
Die Antwort auf diese Frage ist unpoetisch: Politik und Poesie haben sich wenig Relevantes zu sagen. Die Rhetoriken der Politik und der Literatur reden aneinander vorbei, sie können sich aber gerade deshalb im günstigsten Fall wechselseitig produktiv irritieren. Es wäre schlicht komisch, wenn Bundeskanzler Scholz seine Erklärung zum Krieg gegen die Ukraine in Hexametern vortragen würde; und es wäre hochproblematisch, wenn die Exekutive Appellen von Schriftstellern von vornherein mehr Gehör schenken würde als Hinweisen von Journalisten, Diplomaten, Politikwissenschaftlern, Militärs et cetera. Dies schon deshalb, weil Schriftsteller (siehe oben) keine homogene Gruppe sind und durchaus unterschiedliche, ja einander widersprechende Ratschläge geben – akut zur angemessenen Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine. Um nur die drei am meisten beachteten unter den von bekannten Schriftstellern unterzeichneten Appelle zum Krieg gegen die Ukraine zu nennen: In einem offenen Brief vom April 2022 an Bundeskanzler Scholz forderten unter anderem Alexander Kluge, Martin Walser, Franziska Walser und Juli Zeh, die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen, weil diese nur den Krieg verlängerten. In einem offenen Brief vom Mai 2022, der in der Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht wurde, forderten unter anderem Eva Menasse, Daniel Kehlmann und Maxim Biller das schiere Gegenteil: die Ukraine verlässlich mit Waffenlieferungen zu unterstützen, da nur so Putins Russland von weiteren schweren Aggressionen abgehalten werden könne. Darauf reagierte im selben Blatt ein unter anderem von Ilija Trojanow, Alexander Kluge und Josef Haslinger unterschriebener Appell Waffenstillstand jetzt (Zeit 27/2022), der ebenfalls die Einstellung von Waffenlieferungen an die Ukraine forderte.
"Die Rhetoriken der Politik und der Literatur reden aneinander vorbei, sie können sich aber gerade deshalb wechselseitig produktiv irritieren."
Gemeinsam ist den drei Appellen die wenn auch unterschiedlich instrumentierte Verurteilung des völkerrechtswidrigen Kriegs gegen die Ukraine. Gemeinsam ist ihnen auch der Umstand, dass diese Appelle nicht nur von Schriftstellern, sondern auch von Wissenschaftlern, Medienvertretern, Militärs, Politikwissenschaftlern et cetera unterzeichnet wurden. Gemeinsam ist ihnen aber vor allem, dass sie zu einander strikt widersprechenden Schlussfolgerungen gelangen. Welche Schriftstellerunterschrift überzeugender ist und mehr Gewicht hat, lässt sich nicht "objektiv" entscheiden. Es wäre sinnlos, in einer Schriftsteller-Rankingliste nachzuschlagen, ob Juli Zeh und Martin Walser besser platziert sind als Daniel Kehlmann und Eva Menasse und aus dieser Platzierung Rückschlüsse auf ihre politische Urteilskraft abzuleiten. Auffallend ist an den genannten Appellen aber zumindest zweierlei: erstens ihre mangelnde poetische Qualität; es handelt sich um Durchschnittsprosa, nicht um eine poetisch pointierte und argumentativ bedrängende Rhetorik, wie sie Zola bei der legendären Dreyfus-Affaire in seinem Aufruf J’accuse beeindruckend und konsequenzenreich entfaltete. Und zweitens sind alle drei Aufrufe in einem spezifischen Sinne unoriginell; sie haben über das "Auch ich bin für beziehungsweise gegen Waffenlieferungen" hinaus nichts zu sagen, was nicht bereits zuvor in öffentlichen Debatten gesagt wurde. Originell wäre zum Beispiel die Frage, ob die Befürworter eines Stopps von Waffenlieferungen an die Ukraine einen gleichgesinnten Appell erneut unterschreiben würden, wenn Putins Russland (das ja schon gegen Tschetschenien, Georgien und Syrien Krieg führte) in ein paar Jahren Staaten wie Moldawien, die Restukraine oder Estland angreifen würde.
Einfluss nicht erkennbar
Erkennbaren Einfluss auf die große Politik hat (anders als Zolas Aufruf) keiner dieser drei Appelle. Das ist nicht verwunderlich, sind sie doch schlichter, unterkomplexer Ausdruck von Meinungen, die man haben beziehungsweise ablehnen kann. Operative Hinweise, wie man Selenski und Putin dazu bewegen kann, sich für einen sofortigen Waffenstillstand zu entscheiden, kann keiner der drei Appelle geben. So bleibt es bei so sympathischen wie hilflosen Bekundungen: auch xyz ist für den Frieden. Über den Weg zum Frieden herrscht ein geradezu klassischer Dissens – gilt der alte "si vis pacem, para bellum"-Spruch im Hinblick auf die Ukraine oder nicht? Schriftsteller bleiben unter ihren Möglichkeiten, wenn sie nur ihre Meinungen und ihren guten Willen kundtun, denn diese Meinungen und Willensbekundungen sind als solche nicht relevanter als die von Handwerkern, Studienräten, Landwirten, Ingenieuren oder Friseuren. Von guter Literatur aber erwarten wir zu Recht mehr: dass sie uns mit Narrativen, die sowohl überraschend als auch in sich kohärent sind, die wohlfeilen Meinungen raubt – und neue, unvertraute Perspektiven schenkt. Wäre ich ein guter Schriftsteller, so würde ich darzustellen versuchen, wie ein gekränkter Russe sein nicht sonderlich dynamisches Land, dem er Größe und Respekt verleihen will, einer schrecklichen Lächerlichkeit ("alles läuft nach Plan") preisgibt, wenn er einen Krieg, nein: einen Bürgerkrieg gegen ein Land anzettelt, von dem er behauptet, es sei eigentlich russisch.
Goethe und der Ukraine-Krieg
Die Frage, wie Goethe sich zum Ukraine-Krieg positioniert hätte, ist selbstredend nicht seriös zu beantworten. Eine unseriöse Philologen-Phantasie ist aber möglich: den besten deutschsprachigen Schriftsteller dürften genau solche Widersprüchlichkeiten interessiert haben, die gewaltsam nach außen projiziert und niedergemacht werden. Interne Inkohärenzen sind der Stoff, aus dem gute Literatur gemacht ist, die auf formale Kohärenz setzt und gerade über diesen Umweg Einsichten erschließen kann, die anderen Diskursformen versagt bleiben. Große Literatur kann dann sehen, was andere nicht sehen. Unheimlich ist, so eine tiefe literarische Einsicht, nicht der bedrohliche Fremde, sondern der heimisch Vertraute, der es den Feinden mal so richtig zeigt und damit sich und die Seinen essenziell bedroht, weil er übersieht, was gute Literatur vorführen kann: dass der Feind die eigene Frage als Gestalt ist.
Zum Weiterlesen
Jochen Hörisch: Poesie und Politik. Szenen einer riskanten Beziehung. Carl Hanser Verlag. München, 2022.
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