Arbeitsleben
Wie Work-Life-Balance zum Thema wurde
Davon zu sprechen, zwei Dinge auszubalancieren, macht eine Unterscheidung, es trennt begrifflich das eine vom anderen, um es dann durch einen Balance-Akt wieder (mehr oder weniger harmonisch und gelungen) zusammenzuführen. In der Work-Life-Balance-Debatte sind dies die Arbeit und das Leben. Schon mit ein wenig Distanz betrachtet, entsteht zum einen eine Irritation. Ist Arbeit nicht Teil des Lebens? Leben wir bei und in der Arbeit nicht auch? Zum anderen kennen wir alle die Herausforderung des Alltags, unsere Lebenszeit auf Erwerbsarbeit, die Familie, Erholung, soziale Kontakte und soziales Engagement sowie andere Freizeitaktivitäten so aufzuteilen bzw. miteinander zu vereinbaren, dass wir den vielfältigen Erwartungen an uns gerecht werden, gesund bleiben und mit unserem Leben zufrieden sind. Mit dem Begriff Work-Life-Balance (WLB) werden die damit verbundenen Anstrengungen und Konflikte sowie individuelle, betriebliche und gesellschaftliche Handlungsbedarfe benennbar.
Dieser Beitrag geht zunächst der Frage nach, welche Veränderungen dazu geführt haben, dass Work-Life-Balance überhaupt zu einem der großen Themen der heutigen Arbeitswelt geworden ist. Im Anschluss wird diskutiert, welche Implikationen und Ausblendungen mit der dem Begriff Work-Life-Balance zugrundeliegenden Trennung von Arbeit und Leben und mit dem aktuellen WLB-Diskurs verbunden sind.
Ein Phänomen der Moderne
Die heute noch prägende Trennung von Lebenssphären ist ein Phänomen der Moderne. Insbesondere die Industrialisierung führte zu einer zeitlichen, räumlichen und sozialen Abgrenzung der Sphäre der Erwerbsarbeit (in der Fabrik, im Büro) von anderen Lebensbereichen. Angesichts der mit Erwerbsarbeit verbundenen belastenden Arbeitsbedingungen ist zu fragen, warum Work-Life-Balance nicht schon viel früher zum Thema wurde. Zwar enthielt das "Programm Forschung zur Humanisierung des Arbeitslebens" (1974) bereits kurze Hinweise auf die Wechselbeziehungen zwischen Arbeitswelt und anderen Lebensbereichen und Studien zum Thema Work/Family Conflict gab es bereits in den 1980er Jahren, erst in den 1990er Jahren aber kommt der Begriff Work-Life-Balance auf. Anders als damals (auch von mir selbst) vielfach vermutet, hat sich WLB nicht als Modewort erwiesen, sondern in der arbeitspolitischen Praxis und in der Forschung eine bis heute eher wachsende Aufmerksamkeit erfahren.
Gab es vor 1990 keinen Bedarf, Arbeit und Leben auszubalancieren? Hatten zum Beispiel Familien, in denen beide Elternteile in Schichtarbeit beschäftigt waren, keine Vereinbarkeitsprobleme? Waren familiäre Fürsorgeaufgaben, zum Beispiel die Versorgung kranker Eltern oder bei Alleinerziehenden, nicht auch früher schon belastend? Ist nicht die durchschnittliche Arbeitszeit über die Jahrzehnte eher gesunken? Offensichtlich bedurfte es jenseits der Belastung durch Arbeit und Familie weiterer Faktoren, um einen gesellschaftlichen Diskurs über die Work-Life-Balance in Gang zu setzen.
In Großbritannien wird hierzu, zum Beispiel von dem Arbeitssoziologen Chris Warhurst, das Argument der "chattering classes" herangezogen. Hierunter wird die gebildete und sozial vernetzte Mittelschicht verstanden, die ihre Weltwahrnehmung und Meinung medienwirksam und einflussreich äußern kann und auch äußert. Das dahinterliegende Argument ist, dass wahrgenommene Work-Life-Balance-Probleme einer höher qualifizierten erwerbstätigen Mittelschicht eher ausgesprochen und gehört werden als die Vereinbarkeitsprobleme von Arbeiterinnen und Arbeitern oder von Beschäftigten im Niedriglohnsektor. So überrascht es nicht, dass es eher höherqualifizierte Beschäftigtengruppen waren, für die Arbeitgeber WLB-orientierte Maßnahmen entwickelt haben.
Wandel der Arbeitswelt
Das Argument der "chattering classes" ist überzeugend, greift jedoch ohne eine Betrachtung von Veränderungen der Arbeitswelt zu kurz. Vielmehr lassen sich verschiedene weitere ineinandergreifende gesellschaftliche Entwicklungen als mögliche Erklärungsansätze für den WLB-Diskurs nennen: 1. die Zunahme erwerbstätiger Frauen, 2. eine (wahrgenommene) Zunahme von Verantwortlichkeiten und Ansprüchen außerhalb der Erwerbsarbeit, 3. die Intensivierung von Erwerbsarbeit sowie 4. eine veränderte Einstellung zur Bedeutung von Erwerbsarbeit im Leben.
Die Zunahme erwerbstätiger Frauen geht einher mit einem (langsamen) Abrücken von einer Geschlechterordnung, die eine Arbeitsteilung zwischen männlicher Erwerbsarbeit und weiblicher unbezahlter Care-Arbeit normalisierte. Die Gleichzeitigkeit von Erwerbsarbeit, Care-Aufgaben sowie wachsenden Ansprüchen an ein erfülltes Privatleben in einer Multioptionsgesellschaft (Gross) führen zu einer Zunahme der familiär insgesamt zu leistenden Aufgaben ("total responsibilty burden" nach Ransome).
Aber auch die Erwerbsarbeit selbst hat sich verändert. Zeitgleich mit dem Anwachsen des WLB-Diskurses finden sich in der Arbeitsforschung Diagnosen einer Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit. Die Nutzung von Arbeitskraft ist hierbei durch Selbstorganisation und Selbstvermarktung, Eigenverantwortung für die Kompetenzentwicklung (was Fragen einer Work-Learn-Life-Balance aufwirft), die permanente Orientierung an internen und externen Kundenwünschen, die Zunahme von Projektarbeit sowie die Delegation von Risiken auf Beschäftigte durch leistungsabhängige Vergütung und befristete Beschäftigungsverhältnisse geprägt. Im Unterschied zur fordistischen, durch klare Grenzziehungen geprägten Arbeitsorganisation basiert dieses Arbeitsregime auf Marktlogik und indirekter Steuerung durch Zielvorgaben und Kennzahlensysteme. Diese Veränderungen führen nach Voß & Pongratz zu einer "Verbetrieblichung der Lebensführung", das heißt zur Nutzung auch lebensweltlicher Ressourcen und Kompetenzen für die Bewältigung einer selbstverantwortlich zu gestaltenden Arbeit.
Es geht an dieser Stelle nicht darum, diese für Arbeitskräfte mit Chancen und Risiken verbundenen Entwicklungen grundsätzlich zu bewerten. Es wird jedoch deutlich, dass die geschilderten Arbeitsbedingungen nicht nur mit Arbeitsintensivierung und interessierter Selbstgefährdung einhergehen, sondern auch besondere Herausforderungen an die Grenzziehung zwischen Arbeit und anderen Lebenssphären stellen. Auch bedarf es keiner weiteren Erläuterung, dass diese Herausforderungen im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung noch einmal wachsen.
Work-Life-Balance verweist damit auf ein von Erwerbstätigen wahrgenommenes Problem, das seine Ursprünge in gesellschaftlichen und arbeitsweltlichen Entwicklungen hat und auch solche Menschen betrifft, die einen sozio-ökonomisch (Einkommen, Bildung) hohen Status haben. Nichts scheint also dagegen zu sprechen, sich nunmehr den für eine gelungene WLB gebotenen Maßnahmen zuzuwenden. Warum dies zumindest aus arbeitswissenschaftlicher Perspektive nicht der nächste Schritt sein sollte, wird in den verbleibenden Spalten diskutiert. Hierbei steht im Mittelpunkt, welche (oft impliziten) Annahmen im WLB-Diskurs über Leben und Arbeit getroffen werden, welche Zielgruppen adressiert bzw. nicht adressiert werden und welche Verantwortungszuschreibungen für eine gescheiterte WLB vorgenommen werden.
Grenzen und Grenzziehungen
Der Begriff Work-Life-Balance setzt eine Trennung von Arbeit und Leben voraus. Im häufig verwendeten Bild der Waage wird dies besonders deutlich. Doch selbst in einem fordistischen Arbeitsregime finden sich mit Arbeitervereinen und vom Beruf beziehungsweise Arbeitgeber geprägten Identitäten Beispiele, die zeigen, dass das Leben auch bei der Arbeit stattfand und die Arbeit das Leben durchzog. Anstatt eine Trennung vorauszusetzen, ist es erkennntnisreicher zu fragen, welche Formen der Grenzziehung zwischen verschiedenen Lebenssphären, in denen unterschiedliche Handlungserwartungen und Bewertungslogiken gelten, zu beobachten sind. Einen solchen Ansatz verfolgt die Work-Life-Boundaries-Forschung. Zwischen den Polen Integration und Segmentierung finden sich empirisch, unter anderem abhängig von Berufen, Beschäftigungssystemen, individuellen Lebenssituationen und Wertorientierungen, ganz unterschiedliche Formen der Abgrenzung, Durchlässigkeit und gegenseitigen Beeinflussung verschiedener Lebensdomänen.
Auch ist zu fragen, wer Grenzziehungen vornimmt und beeinflusst. Für abhängig Beschäftigte macht es einen Unterschied, ob Organisationen lebensweltliche Praktiken im Arbeitskontext zulassen, dulden oder sogar einfordern. Mit einer Subjektivierung von Arbeit ist nicht zwangsläufig auch verbunden, dass Beschäftigte ihre privaten Probleme mit zur Arbeit bringen dürfen. Vielmehr basieren viele Work-Life-Balance-Maßnahmen darauf, diese Probleme von organisationalen Arbeitsprozessen fern zu halten, obwohl die Arbeit selbst durchaus zeitlich, räumlich und kognitiv entgrenzt ist. Grenzziehungen sind daher immer auch Machtprozesse.
Leistungspolitik und individuelle WLB-Verantwortung
Betriebliche Maßnahmen zur Förderung der Work-Life-Balance zeichnen sich in aller Regel durch zwei Merkmale aus. Sie adressieren nur diejenigen Beschäftigten, für die es sich betriebswirtschaftlich lohnt, in die Arbeitgeberattraktivität zu investieren und aus Überlastung resultierende Leistungs- oder Motivationsminderungen abzufedern. Und sie machen die Arbeitsanforderungen und die Arbeitsintensität, das heißt die Leistungspolitik selbst, nicht zum Gegenstand.
Die Lösung von Vereinbarkeitsproblemen von prekär Beschäftigten im Niedriglohnbereich, von Geringqualifizierten und Soloselbstständigen (zum Beispiel in der IT- und Medienbranche) in der Verantwortung der Arbeit- bzw. Auftraggeber zu sehen, wäre auch angesichts fehlender oder schwacher Mitbestimmung und Arbeitnehmermacht naiv; sie allein in der Verantwortung der Arbeitskräfte zu sehen, zynisch. Hier ist politische Regulierung gefragt.
Für Beschäftigtengruppen, die in den Genuss von WLB-Maßnahmen kommen (zum Beispiel Kinderbetreuung, Arbeitszeitflexibilisierung, Mobile Arbeit, Sabbaticals, Coaching), gilt, dass sie die gewährten Handlungsspielräume und Unterstützungsleistungen eigenverantwortlich so nutzen (sollen), dass ihre Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit aufrechterhalten bleibt und sie so den wachsenden Arbeitsanforderungen standhalten können. Dagegen ist nur auf den ersten Blick nichts einzuwenden, denn es ist arbeitswissenschaftlich belegt, dass Flexibilisierung sowie zeitliche und räumliche Entgrenzung (Mobile Arbeit) nicht nur Lösung, sondern auch Ursache individueller Grenzziehungs- und Vereinbarkeitskonflikte sind. Leistungsdruck, Überarbeitung, Erschöpfung und wahrgenommene Arbeitshetze werden dadurch eher nicht reduziert. Misslingt die Work-Life-Balance "trotz" der genannten Maßnahmen, wird die Verantwortung hierfür nicht strukturell, das heißt der Leistungspolitik, sondern individuell zugeschrieben.
Work-Life-Blending als Zukunft?
Aktuell viel diskutierte Konzepte einer "New Work" propagieren als Gegenmodell zu hierarchischen, unflexiblen und Kreativität eindämmenden Organisationen Formen der Arbeitsorganisation, die auf Augenhöhe, Flexibilität, Agilität, Innovativität, Selbstbestimmung, konsequenter Kundenorientierung und Sinnhaltigkeit (Purpose) basieren. Im Zuge von New Work wird die Entgrenzung von Arbeit als "Work-Life-Blending” zur expliziten Strategie. Arbeit kann immer und überall geleistet werden, Privates darf auch bei und während der Arbeit erledigt werden. Es liegt auf der Hand, dass dies nur unter bestimmten und voraussetzungsvollen Bedingungen einer dann eigentlich eher als Work-Life-Integration zu bezeichnenden Work-Life-Balance zuträglich ist: Wenn die Leistungspolitik die Einhaltung der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit erlaubt, wenn die Integration von Arbeit und anderen Lebenssphären den individuellen Präferenzen entspricht, wenn Kompetenzen und Möglichkeiten für Grenzziehungen vorhanden sind und wenn tatsächlich umfassende Spielräume für selbstorganisierte Arbeit gewährt werden. Aber selbst dann bleibt die grundlegende Frage zu beantworten, ob wir möchten, dass Erwerbsarbeit in abhängiger Beschäftigung – so sinnvoll sie auch sein mag – eins wird mit unserem Leben.