Windräder drehen sich vor dem Braunkohlekraftwerk Schkopau in Sachsen-Anhalt
picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt

Energie in Vergangenheit und Zukunft
Wunden des fossilen Zeitalters

Historische, ökonomische, politische und moralische Faktoren bestimmen die Energiebeschaffung. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung.

In der aktuellen Situation der Energiekrise hören wir tagtäglich von Gaspipelines, Turbinen, Elektrizitätskabeln und Kraftwerken. Privat wie auch im universitären Alltag beschäftigen wir uns mit Energiepreisen und Sparmaßnahmen. Infrastrukturen und Technologien der Energieversorgung, die normalerweise im Hintergrund und unbemerkt ihre Arbeit erledigen, werden in dieser Situation sichtbar, auch für Nicht-Expertinnen und -Experten. Zum Vorschein kommen zugleich ökonomische Abhängigkeiten, historische Beziehungen und politische sowie moralische Entscheidungen, die dem Einsatz dieser scheinbar neutralen Technologien zugrunde liegen. Folgen einer neoliberalen Energiepolitik fallen in dieser Situation genauso auf wie die fragilen Konfigurationen globaler Lieferketten. Es wird somit deutlich, wie sehr die westlichen "carbon democracies" (Mitchell 2011) von fossilen Energien abhängen und auf sie aufbauen.

Krise einer fossilen Moderne

Die Energiekrise stellt Mythen der industriellen Moderne, die lange Zeit technologischen Fortschritt als einen geradlinigen Prozess imaginierte, nachhaltig in Frage. Sie erinnert daran, dass die Ressourcenausbeutung nicht nur Wohlstand und Innovation, sondern auch Zonen des technologischen Verfalls, sozialer Ungleichheit und ökologischer Degradierung hinterlassen hat. Über die aktuelle geopolitische Lage in Europa hinaus erscheint die gegenwärtige Situation auch als Krise einer fossilen Moderne, deren Effekte – wie Naturkatastrophen, Artenverlust oder klimabedingte Fluchtbewegungen – nun planetare Dimensionen erreichen. Für Politik, Zivilgesellschaft und Forschung stellt sich damit die Frage, was nach Wachstum und Fortschritt kommt, ob die Wunden des fossilen Zeitalters geheilt werden können und inwiefern eine postfossile Zukunft möglich ist.

"Nirgends sonst wird so viel Braunkohle verbrannt wie hierzulande."

Für Deutschland ist die Frage nach einer postfossilen Zukunft in nun besonders dringlicher Weise relevant. Mit dem sogenannten "Kohleausstieg" hat die Bundesregierung der Tatsache Rechnung getragen, dass die deutsche Braunkohleverstromung überproportional zum weltweiten CO2-Ausstoß beiträgt. Nirgends sonst wird so viel Braunkohle verbrannt wie hierzulande. Im Zuge der Verhandlungen über den Kohlekompromiss wurde eine Einigung über den Ausstieg aus der Braunkohleverstromung bis 2038 erzielt. Damit hat sich vor dem Hintergrund des Klimawandels eine globale Sicht der Dinge gegen regionale Wirtschaftsinteressen durchgesetzt. Im Gegenzug wurden 40 Milliarden Euro für einen grundlegenden Strukturwandel der drei deutschen Braunkohlereviere bereitgestellt. Ein wesentlicher Bestandteil des Wandels soll das Etablieren neuer ökologisch verträglicher Formen des Wirtschaftens und der Ausbau alternativer und regenerativer Energieträger werden. Neben Finanzierungshilfen werden Instrumente zur Regulierung und Umsetzung des Vorhabens entwickelt, so dass ein erfolgreicher Übergang zum fossilfreien Leben zum Greifen nah zu sein scheint. Doch nach dem Preisschock für Gas, Öl und Strom in der Folge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine zeigt sich, dass auch die Energiewende und der daraus resultierende Strukturwandel keine geradlinigen, sondern komplexe und teilweise ergebnisoffene Prozesse darstellen. Sie beinhalten Widersprüche, weisen unterschiedliche Richtungen und Zeitlichkeiten auf und bedürfen ständiger Aushandlung oder Neujustierung. So zeigt sich aktuell, dass der geplante Übergang zu nicht-fossilen Energieträgern zu langsam verläuft. Obwohl Umweltschützerinnen und -schützer seit geraumer Zeit darauf dringen, diesen Prozess zu beschleunigen, führt der Mangel an Gas und Öl paradoxerweise dazu, dass es zu einer Renaissance von Atomkraft und Kohle kommen könnte.

Sozio-ökologische Dynamiken der Energiebeschaffung und -verteilung

Um diese paradoxe Situation in einer historischen Phase akkumulierter Krisen hinsichtlich ihrer Relevanz für Menschen, Gesellschaften und Umwelt zu verstehen, reicht ein technologisches oder naturwissenschaftliches Wissen allein nicht aus. Vielmehr bedarf es der Analyse und Anstrengung verschiedener Disziplinen, insbesondere auch der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg widmen sich mehrere Institute, Zentren und Initiativen dieser Aufgabe. Im Rahmen des Zentrums für interdisziplinäre Regionalstudien (ZIRS) etwa engagieren sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ethnologie und Humangeographie sowie aus den Rechts-, Geschichts-, Erziehungswissenschaften und weiteren Disziplinen. Sie untersuchen soziale und ökologische Dynamiken, die durch proklamierte und tatsächliche "Ressourcenwenden" in lokalen Kontexten ausgelöst werden. Erforscht werden diese Dynamiken als übergreifende Prozesse, die unterschiedliche Akteurinnen und Akteure und gesellschaftliche Bereiche umfassen und in verschiedensten Orten und Alltagswelten gelebt werden. Sie sind von ebenso unterschiedlichen Erfahrungen sozialen Wandels, Verständnissen ökologischer Dringlichkeit oder Vorstellungen von Gerechtigkeit und Teilhabe geprägt. Wunschdenken trifft auf Beharrungstendenzen, Veränderungswille auf pragmatische Notwendigkeiten.

So wird beispielsweise eine Zuckerfabrik in Sachsen-Anhalt mit Braunkohle beliefert, die im Verarbeitungsprozess eine zentrale Rolle spielt. Die schrittweise Umstellung auf Erdgas läuft bereits, doch in der aktuellen Situation bleibt auch dieser Weg verschlossen. Technologische Innovationen sind dringend gefragt, doch die Investitionen in Zukunftstechnologien sind mit hohen Risiken verbunden. Auf lokalpolitischer Ebene freuen sich Akteure über "Kohlegelder", müssen sich aber zugleich über den tatsächlichen Nutzen der geförderten Projekte wundern, so etwa über die Fassadensanierung von Baudenkmälern oder den Bau von Umgehungsstraßen und Kreisverkehren. Menschen in der Region wiederum fragen sich, was Strukturwandel und Energiewende mit ihnen zu tun haben. Für das Mitteldeutsche Revier wird in Planungskreisen und Politik von 5.000 Arbeitsplätzen gesprochen, die direkt und indirekt mit der Braunkohle in Verbindung stehen und mit dem Kohleausstieg verloren gehen werden. Was viel klingt, ist im Kontext der Mitteldeutschen Metropolregion gesehen mit den Großstädten Leipzig und Halle eher marginal. Auch im Vergleich zu den vor 1990 vorhandenen und dann zum großen Teil verlorenen 60.000 Arbeitsplätzen im mitteldeutschen Kohlerevier stellt sich die Frage, ob der (wirtschaftliche) Strukturwandel nicht längst gelaufen ist und ob das Vertrauen der Menschen in die Möglichkeit eines gerechten Wandels nicht bereits verspielt wurde. Viele Arbeitsplätze werden aber auch nach dem Ende der Braunkohleverstromung erhalten bleiben (oder neu geschaffen werden müssen), da das Management von Tagebaufolgelandschaften und toxischen Hinterlassenschaften des fossilen Zeitalters Ewigkeitsaufgaben bleiben werden.

Regionale Forschung zu globalen Problemen

Es sind solche komplexen Verflechtungen von Orten, Zeiten, Akteuren und Interessen in Prozessen der Energieversorgung, die gesellschaftswissenschaftlicher Analysen bedürfen: Was hält eine Gesellschaft ohne Kohle und andere fossile Ressourcen zusammen? Fragen wie diese verlangen nach qualitativer Forschung, die nahe am Menschen verortet ist, lokale Belange ernst nimmt und für Unbekanntes offen bleibt, denn die fossilfreie Gesellschaft muss aus heutigen (noch fossilen) Lebenswelten heraus erschaffen werden.

Vor Ort zu forschen, bedeutet aber keinesfalls regionale Einfalt. Globale Herausforderungen müssen aus verschiedenen Regionen der Welt heraus betrachtet werden. Auch aus solchen Orten, die noch immer auf den Ausbau fossiler Energien setzen oder solchen, die bereits heute durch den Klimawandel in ihrer Existenz bedroht sind. Eine transregionale Perspektive ermöglicht es, das Ausmaß der (Energie-)Krisen zu begreifen. Sie macht die ungleiche Verteilung von negativen Folgen fossiler Energieproduktion zwischen Regionen und Akteursgruppen sichtbar, wie auch die transnationalen Öffentlichkeiten und Solidaritäten, die sich für Energiegerechtigkeit einsetzen. Transregionale Forschung wertschätzt also die Vielfalt von lokalem Wissen und Erfahrungen. Sie fragt, welche Strategien Menschen in verschiedenen Regionen der Welt entwickelt haben, um auf dem (durch das fossile Zeitalter beschädigten) Planeten zu (über-)leben. Wie gehen sie mit Energie- und anderen Krisen um? Was lässt sich aus diesem Wissen lernen, etwa von denjenigen, die ihr Leben schon immer "off the grid" gestalten mussten und müssen?

"Energie ist mehr als nur Physik, sie ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts."

Unsere Forschungen und Aktivitäten verstehen wir als Beitrag zu gesamtgesellschaftlichen Aushandlungen. Diese Positionierung geht über die aus der Politik und Wissenschaftsförderung oft zu hörende Forderung nach Lösungs- und anwendungsorientiertem Wissen hinaus. Soziale Aushandlungen stellen einen kontinuierlichen Prozess dar und müssen entsprechend aufrechterhalten, nicht einfach zu Ende verhandelt oder gelöst werden. Es geht somit darum, Freiräume für Teilhabe, Auseinandersetzungen und Diskussionen zu öffnen und offen zu halten. Energie ist mehr als nur Physik, sie ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts und bedarf daher auch einer gesellschaftspolitischen wie gesellschaftswissenschaftlichen Perspektive. In den besorgniserregenden Zeiten der Energiekrise kann die Erinnerung an Physik trösten, insofern Energie als Erhaltungsgröße nicht verschwindet. Daher bleibt in dieser Situation der Energieknappheit die Hoffnung, dass eine intensive interdisziplinäre Beschäftigung mit den Herausforderungen des fossilen Zeitalters Energien freisetzen kann, die postfossile Zukünfte möglich machen.

Literaturhinweis:
Mitchell, T. "Carbon Democracy. Political Power in the Age of Oil". Verso 2011.