Eine Person steckt den Kopf in den Sand
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Serie: 25 Jahre Forschung & Lehre
Irrtum ist wissenschaftlich

Fehler sind in der Forschung unvermeidbar – schon allein dadurch, dass jede Studie auf Annahmen beruht. Entscheidend ist, wie man damit umgeht.

Von Josef H. Reichholf 07.06.2019

Der Irrtum gehört zur Wissenschaft wie die zündende Idee. Gäbe es ihn nicht, wäre die kritische Überprüfung von Fakten, Messwerten und Ergebnissen überflüssig. Skepsis und Kritik, die beiden Haupttriebkräfte für den Fortschritt in der Naturwissenschaft, würden entfallen. Die Folge wären Dogmen, die geglaubt werden müssten, einfach weil sie "wahr" sind. Eine schreckliche Vorstellung, zumindest für einen kritischen Geist.

Doch meistens geht es nicht ums hehre Grundprinzip, sondern um die vermeidbaren Irrtümer. Davon gibt es mehr als genug in der Wissenschaft. Wie kommen sie zustande? Das will ich nachfolgend an der Ökologie darzulegen versuchen, in der ich mich selbst verortet fühle. Sie schöpft weit mehr aus Beobachtungen und Messungen als aus streng kontrollierten Experimenten.

Ernst Haeckel schuf sie 1866 als Begriff. Sein Oikos meinte Haus und Hauswirtschaft, gegliedert in Stockwerke, Zimmer, Ecken und Nischen, die Bewohner und ihre Lebensbedürfnisse. So benannt, löste Ökologie die Vorstellung aus, es müsse sich beim "Haus der Natur" um etwas Wohlgeordnetes handeln; um einen Haushalt, der mit ausgeglichenen Einnahmen und Ausgaben bestens funktioniert.

Diese Ordnung ist klar strukturiert. Sie darf nicht durcheinander gebracht werden. Beeinträchtigungen sind abzuwehren, Schäden zu beheben, damit die diversen Häuser der Natur, die Ökosysteme, wie sie ein halbes Jahrhundert nach Haeckel genannt wurden, erhalten bleiben und die Funktionsfähigkeit des Ganzen gewährleisten.

Ergebnisse abhängig von Zeitgeist und Erhebungsdauer

Diese Sicht orientierte sich klar an der Physiologie. Diese befasst sich mit dem Organismus wie die Ökologie mit den Ökosystemen, die als Funktionseinheiten der Natur benannt und begriffen wurden. Dass Ökosysteme weder abgeschlossen noch voneinander abgrenzbar sind, über keine innere Funktionssteuerung verfügen und sich auch nicht fortpflanzen können, störte bei der analogen Behandlung von Organismen und Ökosystemen nicht.

Vereinnahmt vom Naturschutz und hinausgetragen in die Öffentlichkeit können die Ökosysteme nun belastet, beschädigt, ge- oder zerstört werden. Somit bedürfen sie des Schutzes und der Reparatur. Und da kein interner Hausherr im Ökosystem vorhanden ist, übernimmt der Mensch diese Aufgabe. Was könnte besser zu seiner Selbstherrlichkeit passen?

In den 1970er und 1980er Jahren hatte die Ökosystemforschung Hochsaison. Daran beteiligt war auch ich mit einer vergleichsweise recht bescheidenen Ökosystemforschung an Stauseen. Zurückblickend habe ich selbstkritisch festzustellen, dass ich damals befangen war von einer Sichtweise, die Stabilität heischte und diese möglichst vorbildhaft in der Natur suchte, wo in Wirklichkeit Dynamik und Veränderung herrschen.

Die Überprüfung der damaligen Befunde, die flankiert waren von der öffentlichen Besorgnis über das Waldsterben, das angeblich so verheerend war, dass es bis zur Jahrtausendwende in Mitteleuropa keinen Wald mehr geben sollte, verdeutlicht beides: Erstens die starke Abhängigkeit der Ergebnisse von der Zeitdauer. Viele Freilandforschungen waren und sind zu kurz angesetzt. Sie ergeben lediglich mehr oder minder aussagekräftige Momentanbefunde.

Zweitens die Beeinflussung durch den Zeitgeist. So wie gegenwärtig jegliche Veränderung, die irgendwie registriert oder auch nur vermutet wird, dem Klimawandel zugeschrieben wird, als ob das einfach selbstverständlich sein müsse, so diktierten vor einem halben Jahrhundert die statischen Konzepte der Ökologie die Deutungen der Befunde.

Wissenschaft ist nicht unabhängig vom Zeitgeist. Das macht sie angreifbar, befähigt sie aber auch zu rascher Korrektur. Frei von Irrtümern wird sie nie sein. Entscheidend ist die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Bleibt ihr diese von der Gesellschaft zugebilligt, wirkt der Irrtum konstruktiv.