Illustration von drei paar Händen, die gemeinsam an Geräten arbeiten
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Fächervielfalt
Drittmittel per Los

Die Förderung interdisziplinärer Forschung bleibt eine Herausforderung. Woran mangelt es und was kann verbessert werden?

Forschung & Lehre: Herr Dr. Bornefeld, wir sprechen über Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit unkonventionellen Ideen abseits des Mainstreams. Wie hat sich deren Förderung in den letzten Jahren entwickelt?

Gero Bornefeld: Es hat sich in den letzten Jahren nicht viel getan, das heißt, es gibt weiterhin wenige Formate auf nationaler wie europäischer Ebene. Neue und unkonventionelle Ideen haben es nach wie vor sehr schwer. Die Bewilligungsquote eingereichter Förderanträge in diesem Segment ist erschreckend gering. Interdisziplinäre Verbünde haben zudem Schwierigkeiten, wenn sie neue Themen angehen wollen, die noch nicht auf einer jahrelangen Zusammenarbeit basieren. Diese Konsortien fühlen sich manchmal von den Gutachtenden nicht richtig verstanden oder es besteht der Eindruck, dass die Begutachtungsgruppe nicht optimal zusammengesetzt war.

Portraitfoto von Dr.-Ing. Gero Bornefeld, RWTH Aachen
Dr.-Ing. Gero Bornefeld ist Abteilungsleiter im Forschungsdezernat an der RWTH Aachen. privat

F&L: Woran liegt das?

Gero Bornefeld: Insgesamt fehlt es an Risikobereitschaft und vielleicht auch an Vertrauen bei den großen Geldgebern. Wir sollten mehr Ideen abseits eingetretener Pfade und deren Förderung zulassen. Wie ein Kommentar-Artikel bei Nature zeigt, hat traditionelle Forschungsförderung oft einen "Innovation Bias", das heißt, es werden eher inkrementelle Forschungsansätze gefördert, weil diese sich besser bewerten lassen als diejenigen, die als bahnbrechend angekündigt werden. Zudem gibt es weitere mögliche Falltüren, zum Beispiel Seniorität, das Standing in der Community, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Organisation, die – bewusst oder unbewusst – die Auswahlprozesse bei der Förderentscheidung beeinflussen können. Auch rein fachlich können Bewilligungen nicht immer nur auf eindeutiger Evidenz basieren. Es sind Bewertungen, die sich bei unterschiedlichen Gutachtenden auch deutlich unterscheiden können.

F&L: Welche Ideen werden diskutiert, damit sich diese Situation verändert?

Gero Bornefeld: Es gibt Ansätze für neue Verfahren, die in der Wissenschaftsöffentlichkeit vermehrt gefordert werden, aber bisher nur in Einzelfällen und noch nicht von den großen Forschungsförderern wie der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) oder der EU getestet werden. Hierzu zählt das Losverfahren: Wenn es nach Bewertung aller Förderkriterien zu viele förderfähige Anträge gibt, die allerdings so gut sind, dass die Entscheidung für oder gegen einen Antrag gegebenenfalls willkürlich erscheinen könnte, entscheidet das Los über die Förderung. Das würde weitere aufwändige Begutachtungen erübrigen. Oder man lässt bereits in einem früheren Stadium das Los entscheiden. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt darin, dass alle verzerrenden Vorannahmen, wie Renommee, Alter, Geschlecht und Nationalität ausgeschaltet werden können. Es ist damit in gewisser Weise ein gerechteres Verfahren. Eine andere Möglichkeit bietet das sogenannte "Golden Ticket", ein Pilotprojekt der National Science Foundation der USA. Es befugt einzelne Gutachterinnen und Gutachter dazu, Forschungsanträge auch dann zu bewilligen, wenn im Begutachtungsverfahren kein Konsens besteht. Damit soll vermieden werden, dass nur die am wenigsten umstrittenen Anträge unterstützt werden. Diese Art "Wildcard" könnte aber auch zu einer Art von Patronage führen.

F&L: Wo sehen Sie Handlungsbedarf von Seiten der Politik?

Gero Bornefeld: Von Bundes- oder Landesministerien sind vielleicht nicht als Erstes Impulse zu erwarten, da hier die Politik über die Programmforschung die großen Themen definiert, was in einer hochdifferenzierten Förderlandschaft sicher auch seine Berechtigung hat. Es sollten allerdings insgesamt mehr Mittel in die Grundausstattung der Hochschulen fließen, denn Forschung mit eigenen Mitteln findet so gut wie gar nicht mehr statt. Die Eigenmittel werden stattdessen benötigt, um Drittmittelprojekte kozufinanzieren. Die Drittmittelförderung ist fast nie auskömmlich, insbesondere weil Overheads – wenn sie überhaupt gezahlt werden – die Kosten nicht decken. Mit einer erhöhten Grundausstattung könnten alle Universitäten eine interne Förderung für Ungewöhnliches und Neues aufbauen, was bisher Zusatzmittel erfordert.

F&L: …und wo sehen Sie die Rolle der großen Player in der Forschungsförderung?

Gero Bornefeld: Geldgebern und Förderinitiativen wie der DFG und der EU stünde es gut an, neue Verfahren zu erproben.  Sie sollten eine grundlegendere Überarbeitung ihrer Vergabekriterien in Betracht ziehen, um den erforderlichen Zeitaufwand der Antragsteller und der Gutachtenden zu reduzieren. Erfolgsversprechende Optionen sind zweistufige Bewerbungsverfahren, der Übergang von faktischen hin zu tatsächlichen Finanzierungslotterien oder eine allgemeine Verlagerung von der wettbewerbsorientierten Verteilung hin zu einer erhöhten Grundfinanzierung der Universitäten. Die DFG hat allerdings ein sehr gutes und lange erprobtes Verfahren der Forschungsförderung, durch das Verzerrungen bei der Entscheidung über Förderanträge aufgelöst werden können, zum Beispiel durch die Einholung weiterer Gutachten und natürlich durch das Fachkollegium, das die Entscheidungen vorbereitet. Insgesamt ist es ein sehr aufwändiger Prozess, aber für mich der beste, den es im traditionellen Peer-Review-Verfahren gibt.

F&L: Wie gehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit der nach wie vor schwierigen Lage um und welche Folgen hat dies für die Innnovationskraft der Forschung in Deutschland?

Gero Bornefeld: Die Forschenden haben sich auf das System eingestellt und leben mehr schlecht als recht damit. Die hohe Überzeichnung von Programmen, die die Umsetzung von außergewöhnlichen Forschungsideen ermöglichen, zeigen aber sehr deutlich, wo Handlungsbedarf besteht. Grundsätzlich bin ich der Überzeugung, dass so viele gute Ideen wie möglich eine Chance bekommen sollten, verfolgt zu werden. Nichts ist besser, als wenn Forscherinnen und Forscher ihrer intrinsischen Motivation freien Lauf lassen können. Es wird automatisch Gewinnbringendes für die Gesellschaft entstehen, auch wenn das gerade zu Beginn oft nicht absehbar ist. Wenn sich eine ungewöhnliche Idee als tragfähig erwiesen hat, gibt es an den Universitäten viele Möglichkeiten, diese im Rahmen der klassischen Forschungsförderung (zum Beispiel Kooperationsprojekte mit Unternehmen, Ausgründungen), aufzugreifen und sie in die Praxis umzusetzen.

"Grundsätzlich sollte der Weg vom 'Lotteriegefühl' in bestimmten Förderverfahren mit sehr niedrigen Bewilligungsquoten hin zu echten Losverfahren gegangen werden."

F&L: Welche Rolle wird die Künstliche Intelligenz bei der Forschungsförderung in Zukunft spielen?

Gero Bornefeld: Es ergibt keinen Sinn, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft­ler zu bitten, Dokumente zu verfassen, die mit KI leicht erstellt werden können. Daher hat KI das Potenzial, die Forschungsförderung radikal zu verändern, aber vielleicht anders, als man zunächst vermuten würde. Im bisherigen Antrags- und Begutachtungssystem erleichtert KI Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern das Antragsschreiben, so dass diese mehr Zeit für die Forschung gewinnen können – oder aber die gewonnene Zeit nutzen, um noch mehr Anträge zu stellen und damit das klassische Begutachtungssystem mehr und mehr zu überlasten. Dieses Szenario zeigt, dass die Nutzung von KI im Antragsprozess das Gesamtsystem vermutlich nicht effizienter machen wird. Auch deshalb mein Plädoyer für die Erprobung von Losverfahren. 

F&L: Lassen Sie uns am Schluss noch genauer über das Losverfahren sprechen. Kann das ein zukunftsweisender Weg sein? Was spricht dafür und was dagegen?

Gero Bornefeld: Grundsätzlich sollte der Weg vom "Lotteriegefühl" in bestimmten Förderverfahren mit sehr niedrigen Bewilligungsquoten hin zu echten Losverfahren gegangen werden. In einer radikalen Variante, die auch im anfangs angesprochenen Nature-Artikel vorgeschlagen wird, wird bereits über die Möglichkeit der Teilnahme an einem Förderverfahren per Los entschieden. Alle, die formell die Ausschrei­bungskriterien erfüllen, dürfen teilnehmen. Nur in dieser Verlosung erfolgreiche Forscherinnen und Forscher können Anträge stellen, die dann auch bewilligt werden. Dies hät­te zwei Vorteile: Es gäbe weniger Verzerrungen bei den Entscheidungen und weniger Ressourcenbindung beim Entscheidungsprozess. Der alternative Weg, dass alle Interessierten zunächst – wie üblich – ihren Antrag schreiben und dass anschließend das Los entscheidet, ist sicher der aufwändigere. Ich bin noch unsicher, was besser ist. Optimal wäre, wenn verschiedene Varianten getestet würden. Aber grundsätzlich kann ich dem Prozess des Antragschreibens viel abgewinnen, denn eine dezidierte Projektplanung ist im Sinne der guten wissenschaftlichen Praxis wünschenswert. Niedergeschriebene gute Ideen verschwinden ja auch nicht, sondern erhalten oft an anderer Stelle eine Chance. Ein wesentlicher Vorteil bei den beschriebenen Losverfahren ist: Eigenverantwortung wird gestärkt. Warum nicht auf das intrinsische Erkenntnisinteresse vertrauen? Zudem muss ja nicht das komplette System der Forschungsförderung umgebaut werden. Programme wie die Exzellenzstrategie oder die Förderprogramme der Ministerien werden sicher auf absehbare Zeit erhalten bleiben. 

Die Fragen stellte Friederike Invernizzi.  

Schwerpunkt: Forschungsfelder im Wandel

In der Ausgabe 12/23 widmet sich Forschung & Lehre im Schwerpunkt der interdisziplinären Forschung. Die Ausgabe enthält Beiträge unter anderem von Professor Eva Barlösisus, Dr. Gero Bornefeld, Professor Jan Cornelius Schmidt und vielen weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

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