Illustration einer Frau, die am Strand arbeitet
picture alliance / Zoonar | Elada Vasilyeva

Untersuchung
Führt Remote-Arbeit zu weniger Innovation?

Laut einer "Nature"-Studie erzeugen remote-zusammenarbeitende Forschende weniger Innovation. Eine Kölner Forscherin hält dagegen.

04.12.2023

Wie eine Studie Anfang des Jahres zeigte, gab es trotz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien innerhalb der vergangenen Jahrzehnte weniger bahnbrechende Publikationen. Einer der Gründe dafür ist laut Forschenden der University of Pittsburgh und der University of Oxford die Zunahme an remote-arbeitenden Forschungsgruppen. Ihre Studie dazu erschien bereits im Oktober, jetzt aber schlägt sie medial immer höhere Wellen. Dafür hatten die Autorinnen und Autoren 20 Millionen Forschungsartikel und vier Millionen Patentanmeldungen aus dem vergangenen halben Jahrhundert in einem "Disruption Score" analysiert. Dieser gebe an, wie disruptiv oder auch bahnbrechend eine Studie sei.

Laut ihren Forschungsergebnissen sei die Wahrscheinlichkeit bahnbrechender Erkenntnisse höher, wenn Teams vor Ort zusammenarbeiteten. Remote-Teams verbrächten hingegen weniger Zeit mit der Ideenfindung und involvierten weniger Personen. Zudem brächten sich Neuzugänge weniger ein. Als Remote-Team zählten in der Untersuchung Forschungsgruppen, die über zwei oder mehr Städte verteilt sind.

Auf die Mischung kommt es an

Professorin Beatrix Busse, Prorektorin für Lehre und Studium an der Universität zu Köln, äußert sich auf Anfrage von Forschung & Lehre zu ihren Erfahrungen mit verschiedenen Formaten der Zusammenarbeit, ob gemeinsam vor Ort oder im virtuellen Raum.

Sie weist auf die scharfe Kritik hin, die die Nature-Studie auf sich gezogen hat und betont den Wert von digitaler Zusammenarbeit. "Als Prorektorin für Lehre und Studium an der Universität zu Köln sehe ich, dass Innovation auch und gerade in virtueller Zusammenarbeit entstehen kann. In Köln wird das zum Beispiel an Arenen – Räumen und Formate zur Ko-Kreation – deutlich." Virutelle Formate könnten "Kreativität, Imagination und Innovation" auch entfesseln statt sie zu behindern.

"Digitale Kollaboration ermöglicht beispielsweise einzigartige Dynamiken über geografische Grenzen hinweg, spart Ressourcen und fördert eine ausgewogene Life-Work-Balance", erläutert Busse. "Natürlich hängt das Gelingen der Online-Zusammenarbeit auch immer mit dem Reifegrade der Gruppe zusammen. Menschen, die sich schon gut kennen, können online auch einfacher zusammenarbeiten."

Virtuelle Zusammenarbeit stärke auch die Gleichberechtigung, betont Busse. "Durch die Option zur virtuellen Zusammenarbeit können zum Beispiel mehr und diversere Menschen partizipieren. Dies fördert einen hohen und exzellenten Output und individuelles 'Well-Being' und eröffnet Raum für vielseitiges Denken – zu jeder Zeit an jedem Ort."

Busse wünscht sich einen "ausgewogenen Mix" statt "einer binären Betrachtungsweise." Virtuelle Zusammenarbeit sei kein homogenes Konstrukt. "Ganz im Gegenteil: Es gibt höchst immersive und ko-kreative Formen und Formate der virtuellen Zusammenarbeit! Hier stellt sich auch die Frage, ob die in der Studie genannte Herausforderung der Wissensintegration nicht durch diverse Formate angegangen werden kann", gibt Busse zu bedenken. "Vergleichbar mit einem Zusammenklang in der Musik, der durch Hinzufügen eines 'entfernten' Tones eine ganz neue Qualität erhält – sozusagen ein symbiotischer Ansatz für wissenschaftliche Spitzenleistungen."

Scharfe Kritik an der Studie

Forschende übten starke Kritik an der "Nature"-Studie. Für den Rückgang bahnbrechender Forschungsergebnisse gibt es laut einem Artikel des Science Media Center alternative Erklärungen, wie dass die leichter zu findenden großen Entdeckungen bereits gemacht wurden, dass der Publikationsdruck auf junge Forschende zu weniger riskanten Untersuchungen führte, oder dass die große Menge an Publikationen neuartige Ideen verhindere.

In dem Artikel kritisieren unabhängige Experten die Studie scharf. Unter anderem halten sie die Messmethode für unzureichend und monieren die Schlussfolgerungen. So schreibt Christian Leibel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU): "Obwohl der Disruption Index in der Studie eine zentrale Rolle spielt, wird die Forschungsliteratur, die sich mit den Stärken und Schwächen des Index beschäftigt, weitgehend ignoriert." Studien, welche die Validität des Disruption Index testen, kämen zu gemischten und teils widersprüchlichen Ergebnissen. "Insgesamt betrachtet ist die Anwendung des Disruption Index mit einiger Unsicherheit verbunden und wirft viele offene Fragen auf", so Leibel.

Professor Ulrich Dirnagl, Direktor Experimentelle Neurologie an der Charité- Universitätsmedizin Berlin, steht "sowohl gegenüber der Methodik des Artikels als auch den Schlussfolgerungen daraus sehr skeptisch" gegenüber. Er stellt fest: "Wissenschaft findet mittlerweile in einer komplexen Mischung aus remote und lokaler Kooperation statt, selbst mit den Teamkollegen des eigenen Labors trifft man sich heute häufiger in Videocalls als im wirklichen Leben." Und er stellt die rhetorische Frage: "Warum wird das eigentlich in Nature publiziert: Weil es der Zeitschrift Aufmerksamkeit garantiert. Damit hat man ganz nebenbei einen Grund, warum neben vielen anderen Gründen Wissenschaft zunehmend ein Effektivitätsproblem hat."

Also ist der negative Einfluss von Remote-Arbeit auf Innovation eher ein hochgehyptes Thema statt ein echtes Problem? Jedenfalls scheint die "Nature"-Studie für viele Forschende keine fundierten Erkenntnisse zu liefern.

pj