Eine Frau stützt ihren Kopf am Schreibtisch in die Hände
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Selbstzweifel
Hoch fliegen, ­tief stapeln

Viele erfolgreiche Personen schreiben ihren Erfolg äußeren Faktoren zu. Gerade unter Wissenschaftlern ist das "Hochstapler-Selbstkonzept" typisch.

Von Sonja Rohrmann 02.03.2019

Eine Vielzahl erfolgreicher Personen neigt dazu, ihre beruflichen Erfolge nicht mit den eigenen Fähigkeiten zu erklären, sondern diese auf übermäßige Anstrengungen oder glückliche äußere Umstände, wie zum Beispiel Zufall, ein glückliches Timing, gute Beziehungen zu relevanten Personen oder Charme, zurückzuführen. Sie erfahren hohe Anerkennung von anderen, sind aber – trotz einer Reihe von Belegen für ihre hervorragenden Leistungen – davon überzeugt, von anderen überschätzt zu werden.

Statt die mit hohem Erfolg verbundenen Merkmale wie Anerkennung, Macht und Status zu genießen, haben sie das Gefühl, diese nicht verdient zu haben. Sie leben in ständiger Angst vor Versagen und der Entlarvung als Hochstapler, wenn andere den vermeintlichen Schwindel durchschauen. Dieses Phänomen wird als Hochstapler-Selbstkonzept oder auch Impostor-Phänomen bezeichnet.

Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelteinflüssen

Die Entstehungsmechanismen dieses Selbstkonzepts sind komplex und multifaktoriell. Es ist von einer Wechselwirkung zwischen Anlage (einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur, die vor allem durch Ängstlichkeit und ein geringes Selbstwertgefühl geprägt ist) und Umwelteinflüssen auszugehen, wobei die familiäre Sozialisation eine bedeutsame Rolle zu spielen scheint.

Ein wichtiger Faktor kann eine hohe Leistungs- und Wettbewerbsorientierung in der Familie sein, die einen leistungsabhängigen Selbstwert bedingt. Das Hochstapler-Selbstkonzept ist geschlechts- und kulturübergreifend (mit jedoch deutlich höherer Prävalenz in leistungs- und wettbewerbsorientierten Gesellschaften) unter begabten und erfolgreichen Personen aller Berufsgruppen weit verbreitet.

"Das Hochschulwissenschaftssystem scheint ein besonders geeigneter Nährboden für die Entwicklung eines Hochstapler-Selbstkonzepts zu sein."

Besonders häufig betroffen sind Personen mit höherem Bildungsniveau, qualifizierten Abschlüssen und insbesondere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren Arbeitskontext einerseits durch eine Vielfalt an Rollen und Rollenerwartungen sowie andererseits durch Rollenwidersprüche charakterisiert ist.

Das Hochschulwissenschaftssystem scheint ein besonders geeigneter Nährboden für die Entwicklung eines Hochstapler-Selbstkonzepts zu sein. Trotz ihrer erwiesenen Erfolge etwa in Form von akademischen Titeln, Publikationen, Zertifikaten, eingeworbenen Forschungsgeldern und Führungspositionen, schreiben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihren beruflichen Erfolg oft nicht selbst zu.

Klinkhammer und Saul-Soprun führen verschiedene Faktoren an, die zur Entwicklung des Hochstapler-Selbstkonzepts und dessen starker Verbreitung im Hochschulsystem beitragen: Hierzu gehört, ständig Bewertungen ausgesetzt zu sein, die implizieren, dass die Karriere von objektiv messbaren Leistungen abhängen würde.

Berufliche Unsicherheit und vielfältige Erwartungen

Ferner tragen zum Hochstapler-Selbstkonzept Krisen bei, die zu jeder wissenschaftlichen Karriere gehören, die aber vor anderen verborgen werden müssen und unbewusst das Gefühl nähren, eigentlich nichts zu können.

Ein weiterer Faktor hierbei ist die Unsicherheit der Hochschulkarriere, die zwischen den Polen des Scheiterns und des Erlangens einer Professur liegt, ein schmaler Grat zwischen sozialem Abstieg und wissenschaftlichem Aufstieg. Diejenigen, die es geschafft haben, haben andere Personen trotz hoher Befähigung scheitern sehen, so dass bei ihnen leicht das Gefühl entsteht, selbst gegebenenfalls einfach nur Glück oder das richtige Netzwerk gehabt zu haben.

Um in der Wissenschaft Karriere machen zu können, ist man gelegentlich gezwungen, sich selbstbewusster, souveräner und kompetenter zu geben als man eigentlich ist, was unter Umständen so erlebt werden kann, dass man anderen etwas vormacht.

Hinzu kommt, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vielfältigen Erwartungen gerecht werden müssen. Neben Forschung und Lehre gehört Personalführung und -entwicklung zu ihren Aufgaben, sie müssen Mittel für Forschung einwerben, Forschungsprojekte managen, über pädagogische Fähigkeiten verfügen und Aufgaben in der universitären Selbstverwaltung übernehmen.

Für viele dieser Aufgaben wurden sie jedoch nie ausgebildet. Sie füllen Rollen aus, denen sie sich nicht voll gewachsen fühlen, was ein Gefühl des Hochstapelns erzeugt. Es wird sozusagen die Erwartung an Wissenschaftler herangetragen, eine eierlegende Wollmilchsau zu sein.

Auch das Geschlecht scheint bei der Entwicklung eines Hochstapler-Selbstkonzepts im Wissenschaftskontext eine Rolle zu spielen. Klinkhammer und Saul-Soprun zufolge haben Frauen sozialisationsbedingt eine stärker ausgeprägte Angst vor Machtpositionen als Männer. Ferner schwinge bei Frauen immer die Angst mit, nicht wegen ihrer Leistung, sondern wegen ihres Geschlechts – aufgrund der Unterrepräsentation von Frauen in Professuren – in die Position gekommen zu sein.

Verschiedentlich wird das Hochstapler-Selbstkonzept gar als ein wesentlicher Faktor für abgebrochene weibliche Universitätskarrieren betrachtet, was auch den Mangel an Professorinnen erklären könnte. Das passt zu der Beobachtung, dass sich Personen mit Hochstapler-Selbstkonzept lieber in ihrem gesicherten Rahmen bewegen, als sich neuen Herausforderungen zu stellen, und ihr Potenzial in Ausbildung und Beruf infolgedessen häufig nicht ausschöpfen.

Ausgeprägter Antrieb und starke Leistungsmotivation

Trotzdem gelangt ein großer Teil von Personen mit Hochstapler-Selbstkonzept in Führungspositionen. Betrachtet man die Merkmale, die Personen mit Hochstapler-Selbstkonzept charakterisieren (wie etwa Ängstlichkeit, geringer Selbstwert, Introversion) sind das keine Eigenschaften, die mit erfolgreichen Personen und Führungskräften in unserer Gesellschaft in Verbindung gebracht werden. Es stellt sich daher die Frage, wie diese Personen es dennoch schaffen, erfolgreich zu sein.

Das Zusammenwirken verschiedener Faktoren trägt offenbar zum Erfolg dieser Personen bei: Es handelt sich um außergewöhnlich kompetente Personen, deren Persönlichkeitsmerkmale, die auf den ersten Blick maladaptiv erscheinen, es ihnen ermöglichen, ihre Angst vor Versagen und das Bedürfnis, besonders leistungsfähig zu sein, in einen ausgeprägten Antrieb und eine starke Leistungsmotivation umzuwandeln. Sie sind bereit, außergewöhnlich hart zu arbeiten, und ihr Hang zu Perfektionismus trägt ebenfalls zu sehr positiven Arbeitsergebnissen bei.

Der Erfolg ist aber hart erkauft, denn letztlich überschreiten Personen mit Hochstapler-Selbstkonzept häufig ihre Grenzen, und die Arbeit nimmt einen so großen Anteil in ihrem Leben ein, dass die Work-Life-Balance nicht mehr gegeben ist. Infolgedessen kommt es häufig zu einer starken körperlichen und psychischen Belastung bis hin zur Entwicklung einer Depression. Im Rahmen eines Coachings können eingefahrene dysfunktionale Denk- und Verhaltensmuster identifiziert und verändert werden, wobei im Fokus steht, sich von positiven Bewertungen anderer unabhängig zu machen und ein realistisches Selbstkonzept und verinnerlichtes Selbstwertgefühl auszubauen, um den Erfolg genießen zu können und nicht länger hierunter zu leiden.

Literatur

Klinkhammer, M. & Saul-Soprun, G. (2009). Das 2Hochstapler­syndrom" in der Wissenschaft. Organisationsberatung, Supervision, Coaching, 16, 165–182.

Magnet, S. (2018). Und was, wenn alle merken, dass ich gar nichts kann? Über die Angst, nicht genug zu sein. Das Impostor-Phänomen. München: mvgVerlag.

Rohrmann, Sonja (2018) Wenn große Leistungen zu großen Selbstzweifeln führen. Das Hochstapler-Selbstkonzept und seine Auswirkungen. Bern: Hogrefe.