Akten mit der Beschriftung Bewerbungen
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Berufungsverhandlungen
Anonymisierte Bewerbungen in der Wissenschaft?

Vorurteile werden oft nebenbei ausgelöst. Lassen sich wissenschaftliche Bewerbungsverfahren durch teils anonymisierte Bewerbungen verbessern?

Von Moritz Schulz 18.10.2021

Wenn heute eine wissenschaftliche Arbeit bei einer großen, internationalen Zeitschrift eingereicht wird, dann wird die Arbeit vielerorts doppelt blind begutachtet. In diesem Fall weiß die Autorin beziehungsweise der Autor nicht, wer gutachtet, und auch die Gutachter wissen nicht, wessen Arbeit vor ihnen liegt. Doppelt blinden Begutachtungsprozessen liegt dabei ein einfacher Gedanke zugrunde: Merkmale wie Herkunft, Geschlecht und institutionelle Zugehörigkeit sollten bei der Bewertung eines Manuskripts keine Rolle spielen. Ein einfacher Weg, dies zu erreichen, besteht darin, entsprechende Informationen gar nicht erst zugänglich zu machen. So können Vorurteile, die möglicherweise mit diesen Informationen verknüpft sind, nicht ausgelöst werden.

Doppelt blinde Begutachtungsprozesse sind zu einem Ausweis von Qualitätssicherung geworden (und mancherorts gehen Zeitschriften bereits einen Schritt weiter und nutzen dreifach blinde Prozesse, bei denen auch die Auswertung der Gutachten anonym erfolgt). Auch innerhalb der Wissenschaft werden Experimente regelmäßig anonymisiert, um für mehr Objektivität bei der Auswertung der erhobenen Daten zu sorgen. Es kann deshalb überraschen, dass die Anonymisierung von Komponenten in wissenschaftlichen Bewerbungsverfahren bisher keine signifikante Rolle spielt. Könnte damit nicht leicht ein Beitrag zu mehr Chancengleichheit in der Wissenschaft geleistet werden?

"Außerhalb der Wissenschaft gibt es deutliche Hinweise, dass die Anonymisierung von Bewerbungen positive Effekte haben kann."

Außerhalb der Wissenschaft gibt es deutliche Hinweise, dass die Anonymisierung von Bewerbungen positive Effekte haben kann. Das zeigt beispielsweise die Auswertung eines Pilotprojekts, das 2010 von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gestartet wurde. Durch das Anonymisieren der Bewerbungen bewegte sich die Einladungswahrscheinlichkeit (für ein Vorstellungsgespräch) der von Diskriminierung betroffenen Gruppen auf die Einladungswahrscheinlichkeit der von Diskriminierung nicht betroffenen Gruppen zu. Es wird auch vermutet, dass es Mitglieder einer diskriminierten Gruppe ermutigen kann, sich überhaupt zu bewerben, wenn sie wissen, dass ihre Bewerbungen anonymisiert verarbeitet werden.

Mögliche Modelle für Bewerbungsverfahren

Wie könnte ein anonymisiertes Bewerbungsverfahren in der Wissenschaft aussehen? Teile der Bewerbung könnten beispielsweise bereits anonymisiert eingereicht werden (vergleichbar mit der anonymisierten Einreichung eines Zeitschriftenbeitrags). Je nach Fach kann das eine Arbeitsprobe, die Skizze eines Forschungsprojekts oder auch ein Lehrkonzept umfassen. Die anonymisierten Komponenten einer Bewerbung werden dann ausgewertet und zu einer ersten Einschätzung, einem "pre-ranking", zusammengeführt. In einem zweiten Schritt können nicht-anonymisierte Aspekte wie zum Beispiel das Publikations- und Vortragsverzeichnis hinzugenommen werden, um ein "post-ranking" zu erstellen, das über eine Einladung zu einem Bewerbungsgespräch entscheidet. Denkbar ist zudem, dass dort, wo Bewerbungen bereits digital verarbeitet werden, Teile des CVs mittels einer Eingabemaske anonym erfasst werden und so für ein "pre-ranking" herangezogen werden können.

Für eine erfolgreiche Karriere in der Wissenschaft spielen Drittmittel zunehmend eine bedeutende Rolle. Ein nicht unerheblicher Teil von Stellen in der Wissenschaft wird inzwischen über Drittmittel vergeben. Da so von Drittmittelgebern direkt oder indirekt auf den wissenschaftlichen Arbeitsmarkt eingewirkt wird, wäre es wünschenswert zu prüfen, ob eine teilweise Anonymisierung nicht auch bei bestimmten Antragsformaten bei Drittmittelgebern positive Effekte haben könnte.

Stärken und Schwächen von anonymen Bewerbungen

Anonymisierungen bei Bewerbungsverfahren sind natürlich kein Allheilmittel. Je nach Ausgestaltung des Bewerbungsprozesses kommt es spätestens im Zuge des Vorstellungsgesprächs zu einer Offenlegung der zunächst geschützten Informationen, die Hinweise etwa auf Herkunft, Geschlecht und institutionelle Zugehörigkeit liefern. Damit geht die Tür zu möglichen Diskriminierungen zwar auf, das muss aber nicht automatisch alle positiven Effekte der anonymisierten Phase zunichtemachen. Dazu führt der oben zitierte Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zwei Erwägungen an: Zum einen gibt es Hinweise, dass Diskriminierungen am stärksten in der allerersten Phase des Bewerbungsprozesses auftreten, wo zunächst grob aussortiert wird. Zum anderen wird berichtet, dass eine teilweise Anonymisierung zu einer stärkeren Fokussierung auf die objektiven Merkmale einer Bewerbung führen kann.

Anonymisierte Bewerbungsverfahren spielen ihre Stärken besonders bei breit ausgeschriebenen Stellen aus, auf die sich eine Vielzahl von Personen bewerben. Ist der zu erwartende Kandidatenkreis sehr klein, so bestehen Anreize zu pro-aktivem "head-hunting". Wird aber eine mögliche Kandidatin beziehungsweise ein möglicher Kandidat im Vorfeld aktiv angesprochen und zur Bewerbung ermutigt, so ist es wahrscheinlich, dass ihre bzw. seine Bewerbung trotz Anonymisierung wiedererkannt wird. Ähnlich verhält es sich, wenn eine Ausschreibung einen sehr kleinen oder besonders gut bekannten Personenkreis anspricht, wie es bei W2-/3-Professuren leicht der Fall sein kann. Deshalb könnten sich anonymisierte Bewerbungsverfahren in der Wissenschaft vornehmlich für breit ausgeschriebene Stellen eignen, die auf eine frühe Karrierephase ausgelegt sind.

"Eine wichtige Frage ist die Praktikabilität anonymisierter Bewerbungen."

Eine wichtige Frage ist die Praktikabilität anonymisierter Bewerbungen. Typischerweise werden Bewerbungen in der Wissenschaft als ein großes Dokument elektronisch per E-Mail übermittelt. Um eine anonyme Auswertung zu garantieren, bedarf es einer Person, die in einem ersten Schritt lediglich die anonymisierten Komponenten an das Jobkomitee weiterleitet (das gegebenenfalls aus nur einer Person besteht). Zudem muss sichergestellt werden, dass Rückfragen zur Bewerbung nicht direkt an die Mitglieder des Jobkomitees gestellt werden. Eine solche Mittlerrolle kann beispielsweise das Sekretariat eines Instituts übernehmen. Alternativ kann auch ein Mitglied des Jobkomitees die Mittlerrolle einnehmen und die anderen Mitglieder bitten, die anonymisierten Komponenten auszuwerten. In diesem Fall agiert ein Mitglied des Jobkomitees ähnlich wie die Herausgeberin einer doppelt (aber nicht dreifach) blind begutachtenden Zeitschrift. All diese Aspekte lassen sich stark vereinfachen, wenn Bewerbungsprozesse digital abgebildet werden. Das Management der anonymisierten Komponenten könnte dann nahezu vollständig digitalisiert werden.

P.S. Meine persönlichen Erfahrungen mit anonymisierten Komponenten bei wissenschaftlichen Bewerbungsverfahren sind positiv. Sie lassen sich leicht – auch in Eigenregie – erproben. Der Mehraufwand ist überschaubar. Aber für belastbare Aussagen wird es größer angelegte Pilotprojekte brauchen.