Ein Plakat mit dem Fingeralphabet der Deutschen Gebärdensprache.
picture alliance / dpa | Jens Büttner

Taube Forschende
Stille ist, wenn sich nichts bewegt

Stille ist mehr als das Fehlen akustischer Reize. Kommunikation geschieht auch jenseits der Lautsprache. Welche Hürden begegnen tauben Forschenden?

Von Charlotte Pardey 30.12.2021

Forschung & Lehre: Herr Dr. Barth, gerade im intellektuellen Kontext wird das eigene Stillsein teilweise als mangelndes Interesse oder geringere Intelligenz gelesen. Ist es problematisch Sie als Tauben nach Stille zu fragen?

Ingo Barth: Für mich nicht. Mir ist wichtig: Kommuniziere ich oder nicht? Stille ist für mich nicht nur etwas Akustisches, sonders etwas Visuelles. Still ist es, wenn ich keine Bewegung sehe. Sobald Kommunikation passiert und ich Bewegung wahrnehme, ist es nicht still und ich bin nicht stumm.

Dr. Ingo Barth ist Quantenphysiker und theoretischer Chemiker. Er leitet ein Forschungsprojekt zur Erarbeitung eines Fachgebärdenlexikons in Deutscher Gebärdensprache.

F&L: Um nicht "still" zu sein, verwenden Sie neben der Schrift die Gebärdensprache. Diese ist eigentlich nicht für eine hochspezifische Fachdiskussion ausgelegt. Wie können Sie sich trotzdem über Ihre Forschungen austauschen?

Ingo Barth: In meinem Forschungsbereich in der theoretischen Chemie und Physik ist die Wissenschaftssprache Englisch. In der schriftlichen Sprache, bei Veröffentlichungen und im Mailverkehr mit anderen Forschenden funktioniert das gut. Wenn ich mit jemandem sprechen möchte oder einen Vortrag halte, kommt eine Dolmetscherin oder ein Dolmetscher dazu und übersetzt in beide Richtungen, also in englische Lautsprache und meine Sprache, die Deutsche Gebärdensprache (DGS). Dabei gibt es tatsächlich für viele Fachwörter keine Gebärden. Wenn ein solches Wort in einem Vortrag auftaucht, der für mich gedolmetscht wird, buchstabiert es der oder die Dolmetschende mit einem Fingeralphabet. Das wird allerdings etwas anstrengend, wenn zu oft und zu vieles buchstabiert werden muss. Dann suche ich in Zusammenarbeit mit den Dolmetschenden eine Fachgebärde.

F&L: Ihre Dolmetschenden brauchen also nicht nur Kenntnisse der Deutschen Gebärdensprache, sondern auch Englischkenntnisse und Kenntnisse Ihres Faches?

Ingo Barth: Es gibt relativ wenige Dolmetschende, die das alles mitbringen. Gerade das Fachspezifische aus Physik und Chemie kommt im Studium "Gebärdendolmetschen" nicht vor. Dolmetscherinnen und Dolmetscher müssen also bereit sein, sich einzuarbeiten. Ich unterstütze sie dabei. Insbesondere bei den Formeln erkläre ich die Zusammenhänge und bespreche auch die einzelnen Gebärden. Wenn ich mich allerdings mit Forschungskollegen über Formeln austausche, dann brauche ich für das, was in den mathematischen Formeln passiert, eigentlich gar keine Dolmetscherin oder Dolmetscher. Wir stehen dann an der Tafel und vieles geht ohne zusätzliche Sprache. Das ist der Vorteil von Physik!

F&L: Innerhalb Ihres Forschungsprojekts Sign2MINT entwickeln Sie ein Fachgebärdenlexikon für Taube in den MINT-Fächern. Können Sie den Umfang des Fachvokabulars abschätzen, das Sie selbst benötigen?

Ingo Barth: Das kann man nicht auf die Vokabeln begrenzen. Es geht auch um ein Verständnis der Zusammenhänge. Bei dem Projekt Sign2MINT ist das Ziel, dass wir 5.000 Fachgebärden einerseits sammeln und dokumentieren, aber auch entwickeln. Es gibt natürlich schon einige Fachgebärden, die etwa von tauben Studierenden benutzt werden. Diese sammeln wir aus verschiedenen MINT-Bereichen, nämlich Mathematik, Physik, Chemie, Biologie, Informatik und zusätzlich auch Medizin mit finanzieller Unterstützung der Max-Planck-Förderstiftung. Wenn wir uns für eine neue Gebärde entschieden haben, dokumentieren wir sie in einer kurzen Videosequenz von bis zu drei Sekunden. So haben wir jetzt schon einige Tausend gesammelt. Teilweise gibt es auch verschiedene mögliche Formen, da nehmen wir die Varianten auf, sagen aber, welche unserer Meinung nach die empfohlene ist.

F&L: Können die Begriffe und Gebärden in diesem Fachlexikon dann international verwendet werden?

Ingo Barth: Begrenzt: Wie bei der Lautsprache, hat auch jedes Land eine eigene Gebärdensprache. Wir konzentrieren uns mit dem Lexikon auf die Deutsche Gebärdensprache. Ein paar Begriffe sind vielleicht mit der US-amerikanischen Gebärdensprache kompatibel, so dass sie sich auch dort verbreiten ließen. Andere sind weniger passend, etwa wenn eine Bewegung oder Handform in Amerika recht selten ist. In Amerika gibt es auch wiederum eigene Bestrebungen, Fachgebärdenlexika zu erstellen. Da haben wir einige Gebärden übernommen, andere passen  für unseren Sprachraum weniger gut. In der American Sign Language (ASL) kommt es oft vor, dass Begriffe buchstabiert oder initialisiert werden und das ist dann die Gebärde. Im Vergleich dazu ist DGS visueller und bildhafter.

F&L: Durch Corona hat sich viel in den digitalen Raum und in Videokonferenzformate verlagert. Inwiefern hat das Ihre Arbeit verändert?

Ingo Barth: Für das Sign2MINT Projekt, an dem nur Taube beteiligt sind, ist daraus eine Herausforderung entstanden. Gebärdensprache ist eine dreidimensionale Sprache und Videotelefonie findet auf einem 2D-Bildschirm statt, das macht es anstrengender. Wenn ich zum Beispiel gebärde, muss ich das im Videochat zweimal machen, um zu zeigen, wie es von der Seite aussieht. Auch sind Diskussionen schwieriger. Eine richtig freie, lebhafte und unmoderierte Diskussion ist in einer Videokonferenz nicht möglich. Es ist auch für die Augen sehr anstrengend, die ganze Zeit auf einen Bildschirm zu gucken. Als Hörender kann man zwischendurch auch mal wegschauen und die Augen etwas ausruhen. Richtungsgebärden, wie zum Beispiel die direkte Ansprache von Personen, funktionieren im Videochat gar nicht.

F&L: Wie viele taube Akademikerinnen und Akademiker gibt es in Ihrem Fachgebiet auf der Welt, die Ihnen Gesprächspartner sein könnten?

Ingo Barth: Das kommt auf den Fachbereich an, den Sie betrachten, also Physik oder Chemie, beziehungsweise Quantenphysik. Wenn man sich wirklich auf mein Fachgebiet die theoretische Physik beschränkt, bleibt ein Wissenschaftler in Schweden. In der Biologie und der Chemie gibt es vergleichsweise viele taube Forschende und Studierende. Es ist interessant, dass nicht mehr von ihnen in den mathematisch-physikalischen Bereich gehen. Die Gallaudet University in Washington DC in den Vereinigten Staaten ist die einzige Hochschule weltweit, an der in Gebärdensprache, in diesem Fall ASL, unterrichtet wird. Ab Januar werde ich dort im Rahmen eines Fulbright Stipendiums als Gastwissenschaftler für ein Semester Physik und Quantenbiologie unterrichten.

F&L: Hörende verbinden Stille oft mit besserer Konzentration. Meinen Sie, dass Ihnen Ihre Taubheit so auch hilft?

Ingo Barth: Es gibt Vorteile, ganz sicher, wie das konzentrierte Arbeiten, Störgeräusche, etwa von einer Baustelle, kriege ich nicht mit. Wobei man allerdings sagen muss, das mich visuelle Ablenkungen sehr stören können. Wenn ein Baum vor meinem Fenster steht und starker Wind herrscht und ich andauernd sehe, wie sich die Blätter bewegen, dann irritiert mich das. Mit dem Akustischen mag eine Störquelle zwar weg sein, aber andere sind immer noch da. Die Nachteile der Taubheit, die Barrieren, an die man stößt, überwiegen auf jeden Fall. Zum Beispiel ist das Organisieren von Dolmetscherinnen und Dolmetschern eine Herausforderung und Mehrarbeit. Bei Vorträgen und Dienstreisen muss ich klären, wer wann Zeit hat. Auch bei der Karriereplanung bis hin zur Professur stößt man als tauber Forscher auf viele Hürden.

F&L: Was sollte sich für die kommende Generation an tauben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ändern?

Ingo Barth: Auf jeden Fall ist ein besserer Zugang zu Bildung notwendig, auch damit mehr Karrierewege offenstehen. Da muss sich schon im Grundschulbereich etwas ändern. Das Fach Deutsche Gebärdensprache wird nur selten angeboten. 2002 wurde DGS als vollwertige Sprache in Deutschland gesetzlich anerkannt, seitdem hat sich etwas getan. Die Kultusministerkonferenz hat erst kürzlich in einem Papier verfügt, dass DGS an allen Schulen als Standardschulfach angeboten werden sollte. Das benötigt natürlich auch qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer, und ich befürchte, es wird daran haken, die ganzen Lehrenden für DGS-Unterricht auszubilden. Deshalb sind Vorbilder so wichtig. Ich möchte andere motivieren: Junge taube Menschen sollen sehen, was alles möglich ist. In Europa gibt es keine Universität wie Gallaudet. Es gab zwar bereits Bemühungen, eine europäische Hochschule für Taube zu gründen, die scheiterten jedoch an der Finanzierung. Die Zeit war wohl noch nicht reif, aber Zeiten ändern sich. Es muss auch gar keine Riesenuniversität sein, ein kleines Institut oder eine Kooperation mit einer bestehenden Universität für einen Zweig, an dem in Gebärdensprache unterrichtet wird, das wäre auch bereits ein großer Fortschritt.