Interview mit Dr. Andreas Frings
Aus der Verschulungsfalle herauskommen
Forschung & Lehre: Mit welchen Erwartungen kommen Studienanfänger an die Universität? Lassen sie sich für wissenschaftliches Arbeiten begeistern?
Andreas Frings: Sie lassen sich für wissenschaftliches Arbeiten begeistern, weil sie ja häufig etwas anderes erleben wollen als in der Schule. Probleme bereitet, dass man viele Fächer zu kennen glaubt, weil man sie als Schulfach schon hatte. Geschichte ist solch ein Klassiker. Man meint ungefähr zu wissen, wie das dann an der Universität sein wird. Und dann ist die Überraschung entsprechend groß, wenn man nicht nur kurze Schulbuchtexte liest, sondern vor ganz anderen Herausforderungen steht, die dann nicht immer Spaß machen.
F&L: Wie wichtig ist für Studierende die aktive Teilnahme und Erfahrung von "Forschung" im Studium?
Andreas Frings: Uns ist wichtig, ab dem ersten Semester die Bedeutung eines wissenschaftlichen Zugangs deutlich zu machen. Konkret bedeutet das, dass ich als Historiker zum Beispiel den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erklären kann, als Historist des 19. Jahrhunderts, in dem ich nach den großen Männern suche, die den Krieg wollten, oder ich arbeite als Sozialhistoriker oder als Kulturhistoriker. In einer klassischen Übung für Erstsemester lassen wir die Studierenden in der Semestermitte bereits eine Art Exposé zu einem historischen Forschungsprojekt erarbeiten, in dem sie gleich lernen, dass solche Ansätze nicht einfach gleichberechtigt nebeneinander stehen, sondern einander widersprechen können, und dass solche Vorentscheidungen Konsequenzen haben für das, was am Ende überhaupt Ergebnis sein kann. Daraus resultieren unterschiedliche Methoden, unterschiedliche Quellenbestände und unterschiedliche Antworten. Geschichtswissenschaftliche Erkenntnis ist nicht wie im Schulbuch immer schon irgendwie da und ausformuliert, sondern existiert perspektivisch und im Dialog.
F&L: Bei der Frage, wie "Forschung" in das Studium integriert werden kann, fallen immer wieder Begriffe wie "forschungsorientierte Lehre" und "forschendes Lernen". Worin unterscheiden sie sich?
Andreas Frings: Beim forschungsorientierten Lehren gestaltet der Lehrende ein Setting, in dem die Studierenden Fähigkeiten in dem jeweiligen Fach schon erworben haben, auf ein vorgegebenes Problem anwenden und im besten Fall das Problem auch lösen. Der Lehrende gibt das Problem vor und kennt eigentlich auch schon die Lösungen, die herauskommen können. Im forschenden Lernen, dem riskanteren Lernen, durchlaufen die Studierenden den gesamten Forschungsprozess selbstständig. Sie entwickeln eine eigene Fragestellung von einem selbstdefinierten oder -erarbeiteten Problemzusammenhang, sie entscheiden sich eigenständig für Datenmaterial, für Auswertungsmethoden und planen auch die Durchführung selbst. Riskanter ist das deshalb, weil es niemanden gibt, der die Verantwortung dafür übernimmt, ob am Ende auch ein tolles Ergebnis steht. Der Lehrende delegiert Verantwortung an die Studierenden und gibt damit auch Kontrolle auf. Damit erfordert das forschende Lernen eine andere Haltung auf Seiten des Lehrenden.
F&L: Wie reagieren die Studierenden auf das forschende Lernen? Nehmen die Lehrenden dann eher die Rolle des Begleiters ein?
Andreas Frings: Wenn überhaupt, reagieren die Studierenden nur am Anfang irritiert, und dann geht es. Sie fordern eigenständiges Forschen von selbst eher nicht ein. Das wird vom Lehrenden in die Gruppe hineingetragen. Ich glaube auch nicht, dass das Bild vom Lehrenden als Lernbegleiter hilfreich ist, denn er wird auch im forschenden Lernen von den Studierenden immer wieder als Experte angesprochen. Begleiter wäre mir zu defensiv. Er verliert also seine Rolle als Experte nicht. Aber das Interessante ist, dass die Studierenden, wenn die ersten Irritationen überwunden sind, in dieses forschende Lernen sehr motiviert einsteigen.
F&L: Gibt es Erkenntnisse zur Wirksamkeit des "forschenden Lernens"?
Andreas Frings: In Heidelberg wurde 2013 eine Studie durchgeführt, in der die Stresswahrnehmung von Studierenden untersucht wurde. Sie ergab, dass die Stresswahrnehmung reduziert wird oder die Studierzufriedenheit wächst, wenn Studierende mehr Entscheidungsfreiräume haben. Das erinnert ein wenig an das, was die Organisationspsychologie als "Job-Demand-Control-Modell" kennt, also je größer mein eigener Einfluss ist auf das, was ich an der Universität tue, umso größer ist auch meine Zufriedenheit. Meines Erachtens gibt es im forschenden Lernen einen großen Anteil von selbstbestimmtem wissenschaftlichen Arbeiten, und das hat einen großen Einfluss auf die Motivation.
"Meiner Meinung nach gibt es einen Auftrag an die Universitäten, bereits im Bachelorstudium mehr zu machen als nur Wissensvermittlung."
F&L: Einerseits will man die wissenschaftliche Forschung in die Lehre einbeziehen, andererseits gibt es die verschulte Studienstruktur und eine permanente Benotung. Führt das nicht zu Konflikten?
Andreas Frings: Ja, das will ich gar nicht kleinreden. Es gibt unter Bologna-Bedingungen bestimmt eine gewisse Verschulung. Allerdings ist der Bachelor am Deutschen Qualifikationsrahmen und am Europäischen Qualifikationsrahmen ausgerichtet, und er kommt an so etwas wie forschendem Lernen oder ähnlichen Formen meines Erachtens gar nicht vorbei. Stufe 6, also da, wo der Bachelor im Qualifikationsrahmen angesiedelt ist, fordert ein breit integriertes Wissen einschließlich der wissenschaftlichen Grundlagen und praktischen Anwendungen eines wissenschaftlichen Faches und eines kritischen Verständnisses der wichtigsten Theorien und Methoden. Und auf der Ebene der Fähigkeiten sollen Studierende über Methodenkompetenz zur Bearbeitung komplexer Probleme in einem wissenschaftlichen Fach verfügen, neue Lösungen erarbeiten und beurteilen. Meiner Meinung nach gibt es einen Auftrag an die Universitäten, bereits im Bachelorstudium mehr zu machen als nur Wissensvermittlung, also mit den Bachelorstudierenden auch Formen des forschenden Lernens durchzuführen. Ob und wie das gelingen kann, ist von Fach zu Fach sicher unterschiedlich. Die Fächer müssen selbst herausfinden, wieviel Spielraum sie haben, um aus der Verschulungsfalle herauszukommen.
F&L: Wie wichtig sind dafür interaktive Lehr-Formate?
Andreas Frings: Ein Geisteswissenschaftler wird immer sagen, er brauche klassische Lehrveranstaltungsformen wie Übungen und Seminare. Die eignen sich aber nicht immer für das forschende Lernen. In unserem Fach gibt es zum Beispiel Proseminare, die eigentlich an allen historischen Seminaren in Deutschland durchgeführt werden. In denen geht es um die Vermittlung wissenschaftlicher Propädeutik, und da wird es schwierig, forschendes Lernen durchzuführen. Anders kann das beispielsweise in Hauptseminaren sein, die ich jetzt eher im Masterstudium sehen würde. Ein Kollege lässt seine Studierenden aus dem Hauptseminar regelmäßig in regionalen Archiven suchen. Die Alternative wären projektförmige Lehrveranstaltungen, von denen wir auch immer wieder einige anbieten, allerdings mitunter außerhalb der Prüfungsordnung, damit wir eben nicht in diesen Notenrhythmus eintakten müssen. Hier können wir mit den Studierenden freier arbeiten, sind also auch nicht dem Prüfungsrecht unterworfen, müssen keine Noten geben und keine ganz bestimmte definierte Prüfungsform durchführen, sondern können ganz einfach im Projekt arbeiten mit Blick auf ein gemeinsames Ergebnis. Aber auch das Format "Abschlussarbeiten" sollte man nicht vergessen. Bereits für Bachelorarbeiten, häufiger für Masterarbeiten, gehen Studierende mitunter ins Archiv. Hier findet definitiv so etwas wie eigenes Forschen statt, was man zwar selten unter forschendes Lernen fasst, aber auch dazugehört.
F&L: Sie sprachen die Rolle des Lehrenden an. Wie stehen die Lehrenden zu forschendem Lernen?
Andreas Frings: Zum einen gibt es ein Bedürfnis von Kolleginnen und Kollegen, aus dieser Verschulungsfalle herauszukommen, und sich nicht seine Spielräume selbst einzuengen. Zum anderen wollen wir nicht die Erwartung bedienen, dass wir liefern. Vielmehr sollen die Studierenden lernen, selbstständig zu arbeiten und früh mit eigenem Forschen zu beginnen und eigene Interessen zu definieren. Das spielt eine große Rolle. Aber Scheitern ist möglich, und das ist wahrscheinlich der Punkt, an dem man dann immer überlegt, inwieweit man sich als Lehrender darauf einlässt. Damit verbunden ist, dass man im forschenden Lernen nicht immer den Arbeitsaufwand vorher gut abschätzen kann, und der kann am Ende deutlich höher sein als erwartet. Die Frage ist also, ob das in den eigenen beruflichen Alltag integrierbar ist. Schließlich braucht es auch eine gewisse Souveränität im eigenen Fach, in der eigenen Wissenschaft, und auch im Lehren – also eine gewisse Erfahrung, um bereit zu sein, Verantwortung an Studierende zu delegieren.
F&L: Braucht es dafür die Anwesenheit von Studierenden in der Universität – trotz der vielen technologischen Möglichkeiten, die ein ortsunabhängiges Arbeiten und Lernen möglich machen?
Andreas Frings: Ja. Ich bin kein Freund der Aufgabe der Anwesenheitspflicht. Es gibt Möglichkeiten des Fernstudiums, die etabliert sind. Aber das, was wir machen, ist Präsenzlehre, das ist ein Lernprozess. Wir gehen also davon aus, dass Lernen in Interaktion stattfindet, und nicht, indem ich mich zu Hause in mein Zimmer setze und lese. Ein Seminar, eine Übung oder Projekt kann nur funktionieren, wenn sich die Teilnehmer wechselseitig darauf verlassen können, dass sie konstant da sind und miteinander arbeiten. Und so legen wir unsere Lehrveranstaltungen an. Über die Abschaffung der Anwesenheitspflicht in NRW war ich sehr unglücklich. Ich kenne Kolleginnen und Kollegen, die eigentlich der Meinung waren, das sei in Ordnung, man könne die Anwesenheitspflicht aufgeben, besser sei es, auf Freiwilligkeit zu setzen, und die bereits nach einem Semester sehr frustriert waren, dass sie jede Woche einen anderen Studierenden vor sich hatten und eben nicht konstant arbeiten konnten.