Mehrere junge Mediziner im Gespräch
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Hochschullehre
Gute Lehre ist Teamleistung

Nachwuchswissenschaftler schultern einen großen Teil der Lehre an Hochschulen. Junge Dozierende sind dabei oft motivierter als etablierte Experten.

Von Caroline Klingner 13.09.2019

Der Humanmedizin sagt man nach, dass sich das Wissen heutzutage alle fünf Jahre verdoppele. Ob dies so ist, weiß ich nicht mit Sicherheit zu sagen, jedoch entspricht es sehr meiner persönlichen Wahrnehmung in meinem Fach,  der Neurologie. Die daraus resultierenden Herausforderungen, denen man sich als lebenslang lernender Mediziner beziehungsweise Medizinerin stellen muss, lassen sich 1:1 in die Lehre übertragen. Doch wie lehrt man Erkenntnisse, die wahrscheinlich schon beim Staatsexamen unserer ärztlichen Absolventinnen und Absolventen nicht mehr gültig sein werden?

In den letzten Jahren entwickelte sich ein starker Trend zu einer kompetenzbasierten Ausbildung, was in der anstehenden Änderung der ärztlichen Approbationsordnung dann auch verbindlich verankert werden wird. Kompetenzen werden hierbei, vereinfacht gesagt, zusammengesetzt aus der Verknüpfung von theoretischem Grundlagenwissen und Anwendungspraxis. Die Herausforderung besteht darin, den Lernenden zu vermitteln, dass sie bereits im Studium ständig neue Erkenntnisgewinne in ihr Lerngebäude einbauen müssen. Hier eignet sich ein konstruktivistischer Ansatz in der Lehre, der die Lernenden in eine aktive Rolle bringt – vor allem durch die Schaffung klinischer Kontexte und Fragestellungen.

Fachexperten für Basiswissen?

Aber auch die Rolle der Dozierenden muss in diesem Kontext neu definiert werden. In der Erstellung des Curriculums frage ich mich häufig, ob es wirklich sinnvoll und notwendig ist, einen hochspezialisierten habilitierten Fachexperten in der Vermittlung von grundlegenden basalen Fertigkeiten einzusetzen. Kann dieser Experte oder diese Expertin überhaupt noch die Probleme einer Anfängerin beziehungsweise eines Anfängers beim Erwerb praktischer Fähigkeiten nachvollziehen und sinnvolle Lösungsansätze vermitteln?

Beim Konzeptionieren von Veranstaltungen arbeite ich gerne mit der Bloomschen Taxonomie. Angesichts der Lernziele im Bereich der "Low Order Skills" und der "High Order Skills" erscheint der Einsatz von Expertinnen und Experten insbesondere bei der Vermittlung von "High Order Skills" sinnvoll. Aber sind Berufsanfänger und -anfängerinnen nicht auch Expertinnen und Experten im Bereich der "Low Order Skills", da sie diese Kompetenzen erst vor Kurzem gemeistert haben und sich der Schwierigkeiten noch genau bewusst sind? Ein Lehrender, der kürzlich erworbene Kompetenzen vermittelt, ist wesentlich geduldiger, verständiger und kann sich besser in die Herausforderungen der Studierenden einfühlen.

Auch die Motivation der Dozierenden sollte nicht außer Acht gelassen werden, da diese den Erfolg guter Lehre wesentlich bestimmt. Ein junger Dozierender, der gerade selbst erworbenes Wissen weitergeben kann, erlebt dadurch ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit, was eine Hauptkomponente von Motivation darstellt. Außerdem vertieft der Lehrende automatisch sein eigenes Wissen, da er beziehungsweise sie durch die Durchführung einer Lehrveranstaltung in der Bloomschen Taxonomie aufsteigt.

Die Lehr-Lern-Kaskade

Daraus ergibt sich eine Lehr-Lern-Kaskade, in der Wissen von den Expertinnen und Experten am oberen Ende der Expertise nach unten fließt und dabei jeden, der lehrt, eine Wissensstufe aufsteigen lässt. In der Medizin würde dies bedeuten: Die Chefärztin führt eine Lehrvisite durch, diskutiert hier fachliche Details mit dem Oberarzt und unterrichtet dabei die Stationsärztinnen und -ärzte. Diese unterrichten im Alltag die Studierenden im Praktischen Jahr sowie die Jungassistentinnen und -assistenten. Durch die Beantwortung von Fragen werden sie selbst zu Expertinnen und Experten. Die Studierenden im Praktischen Jahr unterweisen die Famulantinnen und Famulanten in basalen medizinischen Techniken und Stationsabläufen. Diese Kaskade ist nicht zwangsläufig einzuhalten, doch beobachte ich im Alltag, dass sich Lernende häufig an den Lehrenden der Wissensstufe über ihnen orientieren und diese auch ein hohes Maß an Motivation für die Lehre aufweisen. Schließlich können gut eingewiesene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dem Lehrenden in kürzester Zeit selbst wieder Arbeit abnehmen.

"Peer Teacher können sich gut in die Situation des Lernenden einfühlen."

Dieser Wissensfluss von oben nach unten lässt sich einfach in ein Curriculum übertragen. Neben den klassischen Lehrkonzepten wie Vorlesungen und Seminaren bieten sich hier viele modernere, gut evaluierte Lehrformate an. In der Medizin sind etwa "Skills Labs" (Einrichtungen, in denen praktische medizinische Tätigkeiten meist an Dummies und Modellen oder Simulationspatienten fehlertolerant geübt und erlernt werden können) mittlerweile eine weit verbreitete Lehreinrichtung. Hier lehren meist keine Expertinnen und Experten, sondern gut geschulte Peer Teacher, also ältere Studierende. Dass diese Art der Lehre funktioniert, ist bereits bestens evaluiert.  Seitens der Oberärzte sowie anderer medizinischer Expertinnen bestünde sicherlich wenig Bereitschaft, geduldig einer Studienanfängerin oder einem Studienanfänger über die Schulter zu schauen, wenn er oder sie die ersten zehn Male ungeschickt die Venen an einem Plastikarm zersticht. Peer Teacher können sich jedoch gut in die Situation des Lernenden einfühlen und praktische Hilfestellung geben.

Junge Lehrende sind geduldiger als erfahrene Ärzte

In unserer Klinik schauen wir nun auf 15 Jahre Erfahrung mit PBL (Problem Based Learning) nach Maastrichter Modell zurück. Jährlich betreut jeweils ein Tutor oder eine Tutorin 26 Kleingruppen in 11 PBL-Fällen. PBL ist eine Methode, die die Lernenden im Wissenserwerb aktiv in den Mittelpunkt setzt, und diese durch geschulte Tutoren methodisch, aber nicht oder kaum inhaltlich, angeleitet werden. Aus den Evaluationen geht hervor, dass junge Assistenzärztinnen und -ärzte den Problemen der Studierenden im Wissenserwerb am nächsten sind, und sowohl geduldig als auch motiviert die Gruppe anleiten, sich das Wissen anzueignen.

Erfahrene Fachärzte und Oberärztinnen tendieren in einem derartigen Lernsetting dazu, die Kontrolle an sich zu reißen, da der Wissenserwerb für sie gefühlt zu zäh ist, zu oberflächlich und nicht das Niveau erreicht, mit dem sie sich selbst beschäftigen. Diese Dozierenden neigen dann dazu, das Tutorium zu monologbasierten Seminaren umzuwandeln, was die Methodik von PBL völlig ad absurdum führt.

Je spezialisierter das zu vermittelnde Wissen ist, desto sinnvoller ist es, den umso höher qualifizierten Experten in diesem Lehrformat einzusetzen. So kann die Motivation auf beiden Seiten langfristig aufrechterhalten werden.

In unserer Klinik bedeutet dies, dass jede ärztliche Mitarbeiterin und jeder ärztliche Mitarbeiter an der Lehre beteiligt ist und in der Lehr-Lern-Kaskade seiner Kompetenz entsprechend eingesetzt wird. Konkret unterrichten bei uns ein Klinikdirektor, elf Oberärzte, zwölf Fachärzte und -ärztinnen und 33 Assistenzärztinnen- und -ärzte sowie 18 studentische Peer Teacher in 889 Einzelveranstaltungen gemeinsam etwa 80.000 Minuten neurologische Lehre im Wintersemester. Lehre wird als Teamleistung und integraler Bestandteil der Arbeit an einem Universitätsklinikum wahrgenommen.

Natürlich bringt ein derartig feingliedriges Curriculum einen großen organisatorischen Aufwand mit sich, der von der Lehrkoordination weit mehr fordert, als Flipchartbögen und Filzstifte zu bestellen. Jedoch sprechen die Lehrevaluationen und reichlicher, motivierter Mitarbeiternachwuchs ganz klar für das Konzept.