Selbstmanagement
Leistungsfähiger dank Achtsamkeits-Training
Forschung & Lehre: Herr Professor Sandbothe, Achtsamkeit ist ein Trend-Begriff, mit dem derzeit viele werben. Sie haben in Thüringen das Pilotprojekt "Achtsame Hochschulen in der digitalen Gesellschaft" gestartet. Was bedeutet in diesem Zusammenhang Achtsamkeit?
Mike Sandbothe: Die Definition des amerikanischen Medizinprofessors Jon Kabat-Zinn aus klinischem Kontext lautet: "Achtsamkeit beinhaltet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein, bewusst im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen." Der im Change-Management erfahrene Wirtschaftswissenschaftler Claus Otto Scharmer definierte es so: "Achtsamkeit ist die Fähigkeit sich auf das Erleben des gegenwärtigen Augenblicks einzulassen, während man der eigenen Aufmerksamkeit gegenüber aufmerksam wird." Was Achtsamkeit im sich digitalisierenden Bildungswesen des 21. Jahrhunderts sein wird, muss sich erst noch zeigen. Da befinden wir uns mitten in einem spannenden Bildungsexperiment. Die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer unseres Thüringer Modellprojekts nutzen Achtsamkeitsübungen, um sich bewusst mit sich selbst und ihrer Umwelt zu verbinden. Zu diesem Zweck lernen sie, bewusst zwischen Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken zu unterscheiden.
F&L: Warum ist Achtsamkeit im Bildungssystem notwendig?
Mike Sandbothe: Durch die Digitalisierung haben sich die Anforderungen an Menschen verändert und intensiviert. Um dieser Situation gerecht zu werden, brauchen wir heute vermehrt Fähigkeiten, die in der digitalen Kultur nicht mehr automatisch verankert sind. Achtsamkeit stärkt nachweislich die Aufmerksamkeit, die Konzentration, die Kreativität, das Gesundheitsbewusstsein und reduziert Stress. Als Teil einer universellen Bildung kann Achtsamkeit unsere Gesellschaft grundlegend verändern.
F&L: Ihr Modell richtet sich gezielt auf das Hochschulwesen. Was ist dort besonders?
Mike Sandbothe: Es zeichnet sich ab, dass sich Studierende durch die häufig exzessive Nutzung digitaler Medien in einer Art Dauerbeanspruchung befinden, die ihre Aufmerksamkeit in Seminaren und Vorlesungen beeinträchtigt. Anders als die meisten Lehrkräfte und Hochschulleitungen, die nicht zu den "digital natives" gehören, besitzen Studierende oft Grundfähigkeiten nicht mehr so, wie es vor 20 Jahren noch selbstverständlich war – etwa die Fähigkeiten zur Selbstreflexion, zur inneren Klarheit über den eigenen Willen und zur eigenen Vision, aber auch Mitgefühl, Neugierde und Mut. Sowohl für die Persönlichkeitsbildung als auch für die akademische Ausbildung von zukünftigen Führungskräften sind diese Eigenschaften essenziell.
F&L: Brauchen Professorinnen und Professoren oder Hochschulleitungen, die nicht in der digitalisierten Welt groß geworden sind, nicht auch Nachhilfe in Sachen Achtsamkeit?
Mike Sandbothe: Personen, die keine "digital-natives" sind, profitieren häufig noch mehr von einem Achtsamkeitstraining als "digital-natives". Sie bringen zwar Grundfertigkeiten mit, haben aber häufig kein ausreichendes Bewusstsein dafür entwickelt, wie wichtig es ist, diese Fertigkeiten in digitalen Zeiten bewusst zu kultivieren. Die ältere Generation digitalisiert aktuell euphorisch das Bildungssystem, hat aber selbst relativ wenig Erfahrung mit den für "digital-natives" längst spürbar gewordenen Auswirkungen auf das menschliche Bewusstsein.
F&L: An wen richten sich die Angebote in Thüringen?
Mike Sandbothe: Unser Hauptziel waren zunächst Studierende, da repräsentative Studien von Krankenkassen über massive Stresslevel unter Studierenden berichtet haben. Hier wollten wir zuerst ansetzen. Angesichts überfüllter Studienpläne haben wir uns entschieden, keine zusätzlichen Add-On-Trainings anzubieten. Als integraler Bestandteil des Studiums, mit zwei Semesterwochenstunden und ETCS-Punkten in der Studienordnung verankert, sind unsere zwölfwöchigen Seminarkurse nicht nur besser besucht, sondern bewirken auch mehr. Aufmerksam mit der eigenen Aufmerksamkeit umzugehen, ist im Thüringer Modellprojekt keine Zusatzqualifikation, sondern gehört zum Kern der Bildung. Ausgehend von dem Format für Studierende aller Fächer haben wir weitere zielgruppenspezifische Formate entwickelt: für Dozentinnen und Dozenten, für wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hochschule sowie für Hochschulführungskräfte. Bei allen Statusgruppen haben wir je spezifische Bedarfe festgestellt und die Kursformate inhaltlich und im zeitlichen Umfang danach ausgerichtet. Gerade bei den Hochschulleitungen geht es dabei auch um Visionen und kreative Formen der Hochschulentwicklung im 21. Jahrhundert.
F&L: Mit welchen Methoden arbeiten Sie in den Kursen?
Mike Sandbothe: In den Kursen machen wir Körperwahrnehmungsübungen wie den "Body Scan", Yoga mit achtsamen Bewegungsübungen, Sitz- und Geh-Meditationen sowie gezielte Verhaltenstrainings. Hinzu kommen dialogische Meditationsformen, die sogenannten Dyadenübungen. Diese hochkonzentrierten Dialogtechniken schulen die Fähigkeit, fokussiert und klar zu reden sowie bewusst und wertfrei zuzuhören. Die verschiedenen Elemente werden komplementär unterrichtet. Ziel ist es, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach dem Semester ihre Tagesstruktur an ihre Bedürfnisse anpassen und selbst zusammengestellte Achtsamkeitsübungen Teil ihres alltäglichen Lebens werden. Ich nenne es gerne "Mental-Hygiene". Bereits mit 20 bis 30 Minuten täglicher Übung lässt sich eine achtsame Grundhaltung langfristig erhalten.
F&L: Sie haben die Vorteile für die Studierenden hervorgehoben. Welchen Nutzen ziehen Forschende aus diesen Übungen?
Mike Sandbothe: Neben klassischen Kompetenzen wie Selbstreflexion und geistiger Klarheit fördern unsere Trainings die Fähigkeit zur präzisen Wahrnehmung, die gerade in der Forschung von grundlegender Bedeutung ist. Hierbei helfen vor allem die Sitz-Meditationen. Diese lenken die kontrollierte Aufmerksamkeit sowohl auf unsere Innen- und Außenwahrnehmung als auch auf unsere Gefühle und Gedanken. Die meisten Menschen neigen dazu, immer wieder in dieselben Gedankenschleifen zu geraten. Das ist das Gegenteil von Kreativität. Wir verlieren mit der Zeit die Fähigkeit, unsere eigenen Gedanken zu falsifizieren. Unsere etablierten wissenschaftlichen Gedankenmuster können uns beim Forschen auch blockieren. Der blinde Fleck, der dadurch entsteht, lässt sich durch Achtsamkeit in die eigene Forschung integrieren. Meditation kann dazu beitragen, den fachwissenschaftlichen "Autopiloten" auch mal zu stoppen, die disziplinäre Perspektive, das Forschungsprogramm oder das wissenschaftliche Paradigma zu wechseln, die Situation oder das Problem neu oder überhaupt bewusst wahrzunehmen und Bestehendes mehrdimensional zu interpretieren. Im Forschungskontext kann Achtsamkeit sowohl die wissenschaftliche Kreativität als auch das Potential von disziplinärer und interdisziplinärer Innovation deutlich verstärken, wie insbesondere die renommierte Harvard-Psychologin Ellen Langer (1997, 2006) gezeigt hat.
F&L: Welche Bilanz ziehen Sie bislang?
Mike Sandbothe: Über 3.000 Menschen haben an den Achtsamkeitsformaten der sechs involvierten Thüringer Hochschulen in 2018 und 2019 teilgenommen – das können wir als großen Erfolg werten. Die in unserem Auftrag durchgeführte medizinische Studie zeigt zudem eine signifikante Reduzierung des physiologischen Stresslevels bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Vergleich zur Kontrollgruppe. Die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Untersuchungen liegen noch nicht vor.
F&L: In welchen Situationen des Hochschulalltags kann das Achtsamkeitstraining konkret helfen?
Mike Sandbothe: Ich unterrichte selbst den von uns entwickelten Kurs "Mindfulness Based Student Training". Dieser hilft insbesondere dabei, Prokrastination bei der Vorbereitung von Hausarbeiten und Prüfungen zu vermeiden, die Teamfähigkeit und die Lust am Lernen zu stärken, sowie beim Umgang mit Prüfungs-, Versagens- und Zukunftsängsten. Lehrkräfte lernen im "Mindfulness Based Teacher Training", ihren Alltag zu strukturieren und in der Doppelbelastung aus Forschung und Lehre den Überblick zu behalten. In Aufbaumodulen zum "Achtsamen Hochschullehrenden" leiten wir Lehrkräfte zudem dazu an, Achtsamkeitsübungen in ihre Vorlesungen zu integrieren. Das hilft dann beiden Seiten, am Ball zu bleiben.
"Lehrkräfte lernen, in der Doppelbelastung aus Forschung und Lehre den Überblick zu behalten."
F&L: Wie gelingt die individuelle Umsetzung im Alltag?
Mike Sandbothe: Bei Studierenden habe ich beobachtet, dass eine besonders große Trainingsmotivation bei denjenigen besteht, die aus dem Praxissemester kommen und schon Kontakt mit den Belastungen ihrer späteren Arbeitswelt hatten. Vielen wird dann klar, wie wichtig Achtsamkeit im Berufsleben ist, und das Interesse, täglich gut für sich zu sorgen und mit Stressoren umzugehen, steigt. Studierende in den ersten Semestern brauchen in der Regel noch den wöchentlichen Austausch mit den Achtsamkeitslehrenden sowie den Kommilitoninnen und Kommilitonen im Achtsamkeitsseminar, um die Übungen regelmäßig durchzuführen. Auch bei Professorinnen und Professoren besteht nach dem ersten Kurs der Wunsch nach mehr Unterstützung. In Zukunft können hier auch entsprechende Smartphone-Apps helfen.
F&L: Gibt es die "Achtsame Hochschule" bald bundesweit?
Mike Sandbothe: Anders als die Digitalisierung ist Achtsamkeit im hochschulpolitischen Kontext nicht selbstverständlich. Wir haben daher nicht versucht, das Projekt flächendeckend in einem Studiengang, einer Hochschule, einem Bundesland oder gar in Deutschland umzusetzen. Wir setzen vielmehr auf eine "Kooperation der Willigen". Anfangs waren das neben der Jenaer Ernst-Abbe-Hochschule zunächst die Friedrich-Schiller-Universität Jena und die TU Ilmenau. Finanzielle Unterstützung haben wir von der Gesundheitskasse für Sachsen und Thüringen AOK PLUS sowie vom Thüringer Wissenschaftsministerium erhalten. Anschließend kamen zu diesem Netzwerk die Bauhaus-Universität Weimar, die Hochschule Nordhausen und die Universität Erfurt hinzu. Wir haben dann die überregionale Kooperationsplattform "Achtsame Hochschulen" initiiert, an der mittlerweile 250 Personen von 50 Hochschulen aus elf Bundesländern teilnehmen. Verbündete mit ähnlichen Aktivitäten haben wir etwa an der Frankfurt University of Applied Sciences und der Hochschule Osnabrück gefunden. Auch an der TU Dresden und der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Dresden starten nun ähnliche Kurse. Damit haben wir einen Anstoß gegeben für eine in unseren Augen notwendige Komplementärbewegung zur Digitalisierung. Ich bin selbst gespannt, wie sich das entwickeln wird.