Symbolbild energieeffizientes Bauen: Frau sitzt am Schreibtisch, vor ihr steht ein Hausmodell mit den verschienenen Energieklassen als Pfeilen daneben.
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Energieeffizienz
Wie gut sind die Hochschulen in der Energiekrise aufgestellt?

Genügt die Baustruktur der deutschen Hochschulen den Anforderungen der Energiekrise? Ein Gespräch über Nachhaltigkeit und energetische Optimierung.

Von Friederike Invernizzi 15.11.2022

Forschung & Lehre: Frau Professorin Messari-Becker, wie beurteilen Sie die Baustruktur deutscher Hochschulen angesichts der Energiekrise?

Lamia Messari-Becker: Etwa 80 Prozent des Gebäudebestands in Deutschland gilt als energieineffizient und damit sanierungsbedürftig. Natürlich sind die Gebäude in unterschiedlichem Ausmaß betroffen. Insofern bestehen gewiss auch im Hochschulbau Potenziale, und zwar sowohl für die Energieeinsparung im Betrieb als auch für die Energieversorgung, etwa über die Gewinnung erneuerbarer Energien. Da Energie vermutlich teuer bleiben wird, lohnt es sich, Sanierungsvorhaben, die bei der "Kosten-Nutzen-Analyse" früher andere Ergebnisse aufgewiesen haben, erneut zu prüfen, auch wenn die Baupreise ebenfalls stark gestiegen sind.

F&L: Wie gut sind die Hochschulen auf die kommende Energieknappheit vorbereitet?

Lamia Messari-Becker: Alle Gesellschaftsbereiche sind von der Energiekrise betroffen, also auch die Hochschulen. Die Energieeinsparverordnung, die die Bundesregierung kürzlich verabschiedet hat, sieht unter anderem vor, Arbeitsräume weniger zu heizen, wobei differenziert wird zwischen Arbeitsräumen, wo Menschen vor allem am Computer sitzen oder wo sie mittelschwere oder schwere Arbeit ausführen. Viele Hochschulen, so auch meine, sehen Energieeinsparmaßnahmen vor, dass etwa Hörsäle in der Heizperiode auf maximal 19 °C geheizt werden oder dass Bereiche wie Flure oder Foyers, wenn möglich, nicht beheizt werden. Das Ziel ist es, 20 Prozent des üblichen Energieverbrauchs einzusparen. Es wird informiert und aufgeklärt, um mehr Achtsamkeit im Umgang mit Energie zu fördern – das ist das A und O.

Portraitfoto von Professorin Lamia Messari-Becker
Lamia Messari-Becker ist Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen, zudem Mitglied im Club of Rome. Als Regierungsberaterin schlug sie beispielsweise einen lebens­zyklusbasierten Ressourcenpass für Gebäude und Quartierslösungen vor. Beide sind Bestandteil des Koalitionsvertrags. Enrico Santifaller

F&L: Wie zentral sind Nachhaltigkeit und Energieoptimierung bei der Planung neuer Hochschulgebäude?

Lamia Messari-Becker: Sehr zentral. Ich verstehe unter Energieoptimierung bei der Planung neuer Gebäude mehr als nur Verbesserungen im Gebäudebetrieb, etwa bei Heizung, Kühlung, Lüftung und Beleuchtung. Alle Aufwände, die bei der Gebäudeherstellung entstehen, sollten miteinbezogen werden. Denn auch für Rohstoffabbau, Produktion, Transport und Einbau der Materialien und der Technik wird Energie aufgewendet und dabei entstehen auch Umwelteffekte inklusive CO2-Emissionen. Daher ist es wichtig, die Gebäude im gesamten "Lebenszyklus", das heißt, in allen Lebensphasen zu betrachten und umfassend zu optimieren, von der Wiege bis zur Bahre. Zukunftsfähiges Bauen ist kreislauffähig und reversibel, Stichwort Rohstoffknappheit. Wir müssen Neubauten heute so planen und bauen, dass sie ohne großen Aufwand verändert und angepasst werden können. Das wäre ein Riesengewinn für den Klima- und Ressourcenschutz. Der Club of Rome warnte bereits vor 50 Jahren vor den Folgen des ungehemmten Rohstoffabbaus. Außerdem macht die Energiekrise einmal mehr deutlich, wofür ich schon länger werbe: Wir müssen im Neubau und im Bestand von (Hochschul)Gebäuden Optionen zur eigenen Energiegewinnung nutzen, etwa über Photovoltaik, Solarthermie und Geothermie. Darüber hinaus sollte man Gebäude in und mit ihrem Quartier energetisch und sozial klug vernetzen. Auf der "Quartiersebene" lassen sich Projekte auf diese Weise ökologischer, ressourceneffizienter, kostengünstiger und sozialverträglicher realisieren.

F&L: Werden diese Maßnahmen auch umgesetzt?

Lamia Messari-Becker: Wir müssen Quartiersansätze weiter ausbauen. Viel wird für eine bessere Energieeffizienz im Betrieb der Gebäude aufgewendet. Für kreislauffähiges Bauen fehlen bislang Rahmenbedingungen, von Vorgaben und Baustandards über Förderungen bis hin zu Zulassungen etwa beim Einsatz von Recycling. Und auch bei der Gewinnung erneuerbarer Energien am Gebäude ist noch viel zu tun. Es macht mich fassungslos, dass man in Deutschland für den eigens erzeugten und eingespeisten Photovoltaik-Strom weniger Vergütung bekommt, als für den Strom, den man später einkauft. Das ist irrsinnig und verhindert eine zielführende und breit getragene Energiewende.

F&L: Wie können Hochschulen mit bestehender Bausubstanz ihren Energieverbrauch aktuell in der Krise optimieren?

Lamia Messari-Becker: Hohe Potenziale liegen kurzfristig in der Optimierung des Heizbetriebs, in der Digitalisierung und im Nutzerverhalten. Bei der Optimierung der Heizanlage geht es um eine Art Abstimmung zwischen der sogenannten Heizlast und der Heizanlage an sich. Beim Betrieb lohnen sich beispielsweise die Nachtabsenkung der Raumtemperaturen, Heizungssperren bei Lüftung und die Räume möglichst auf maximal 19 Grad zu heizen. Eine digital gesteuerte Technik kann viel dazu beitragen, bedarfsorientiert zu heizen, dass also ungenutzte Räume nicht beheizt werden. Grundsätzlich ist das Nutzerverhalten gerade in Bildungsbauten extrem wichtig. Es geht oft um einfache Dinge wie richtiges Lüften oder darum, Türen und Fenster nicht unnötig offen zu halten.

F&L: Wie sinnvoll sind Nachrüstungen bei Sanierungen?

Lamia Messari-Becker: Sinnvolle Maßnahmen sind zum Beispiel Sanierungen der Gebäudehülle, die Modernisierung der Heiztechnik, ein Umstieg auf erneuerbare Energien für die Gebäudeversorgung und der Einbau digitalisierter Steuerungstechnik. Es kommt da natürlich auf den Einzelfall sowie technische oder finanzielle Voraussetzungen an.

F&L: Ist die Frage der Finanzierung geklärt?

Lamia Messari-Becker: Die Situation ist gerade in jeder Hinsicht kritisch. Einerseits hatten wir schon vor dem Ukraine-Krieg Baukostensteigerungen wie schon seit 50 Jahren nicht. Lieferkettenprobleme und Engpässe aufgrund der Corona-Pandemie waren nicht behoben, da kam der Krieg noch dazu, der die Situation grundlegend und dramatisch verändert hat. Bund und Länder müssen zahlreiche Entlastungspakete finanzieren. Im Bau herrscht zudem ein eklatanter Fachkräftemangel, der die Preise hochtreibt. Der lässt sich nicht so schnell beheben. Das Problem ist aufgrund der demografischen Entwicklung schon länger bekannt und wird viel gravierender werden, zumal mehrere Sektoren um Fachkräfte kämpfen.

F&L: Gibt es kurzfristige energiepolitische Lösungen für den Winter 2022/2023?

Lamia Messari-Becker: Auch wenn es klimapolitisch ungut ist: Wir werden konventionelle Reserven aktivieren müssen. Stand heute sind die Gasspeicher gut gefüllt. Aber der Winter 2023/24 wird womöglich noch schwieriger, wenn bis dahin ein Teil der Gasspeicher ohne Ersatz aufgebraucht wird.

F&L: Was ist aus Ihrer Sicht mittelfristig zu tun?

Lamia Messari-Becker: Erstens: Die Energiewende diversifizieren, denn nur mit Strom aus Wind- und Solarkraft werden wir den Energiebedarf der viertstärksten Industrienation der Erde nicht decken können. Dazu müssen weitere Optionen kommen, etwa Geothermie, Biomasse, Solarthermie. Zweitens: Das Energienetz muss ausgebaut sowie eine leistungsfähige Speicherinfrastruktur aufgebaut werden mit den dazugehörigen Speicherkapazitäten. Drittens: Die Bürokratie muss abgebaut und Genehmigungsverfahren für Energieprojekte müssen beschleunigt werden. Viertens: Bei Brückentechnologien sollte man auf eigene Energiequellen setzen anstatt auf Despoten. Auch das ist eine bittere Lehre dieser Krise. Insgesamt braucht es eine konsistentere Energiepolitik. Was nicht sein kann: Kohleausstieg, aber munter Kohle aus Russland importieren. Erdgasförderung hierzulande nein, aber Erdgas in großen Mengen aus Russland. Fracking-Gas auf keinen Fall hier, aber nun aus den USA mit teils schlechterer CO2-Bilanz als Kohle. Atomausstieg hier, aber Atomstrom aus Frankreich nutzen. Unser Stromnetz ist europäisch vernetzt. CCS-Technologie (carbon dioxide capture and storage) hier ablehnen, aber Verträge dazu in Norwegen suchen. Diese Inkonsistenz hat, wie wir gerade erleben, sehr kurze Beine. Wir müssen unser Energiesystem diversifizieren, erneuerbar und speicherfähig aufstellen und die Ausstiege mit den Einstiegen koordinieren.

F&L: Inwiefern finden ehrgeizige Ziele nicht auch in begrenzten Ressourcen, etwa Personal, ihre Grenzen?

Lamia Messari-Becker: Das tun sie leider. Die Baubranche droht zum Flaschenhals aller Klimaschutzziele zu werden. Von ihr werden die energetische Sanierung des Gebäudebestands, der Ausbau erneuerbarer Energien, die Modernisierung unserer Infrastruktur und die Schaffung ressourceneffizienten und bezahlbaren Wohnraums erwartet, um nur einige Aufgaben zu nennen.

F&L: Könnte weniger ideale Bausubstanz nicht auch mit angepasstem Verhalten ausgeglichen werden? Und kann umgekehrt nicht auch nachhaltige Bausubstanz unter dem Verhalten der Nutzer und Nutzerinnen leiden?

Lamia Messari-Becker: Sie sprechen einen sehr wichtigen Aspekt an. Ich bin der Auffassung, dass Abriss und Neubau nicht automatisch ökologischer sind, wenn man bedenkt, dass im Bestand die Energie für Herstellung, Transport, Lagerung, Verkauf und Entsorgung ("graue Energie") und CO2-Emissionen gebunden sind. Oft erschweren aber viele Vorschriften eine angemessene Weiterentwicklung, Modernisierung und Umnutzung des Bestands. Deshalb brauchen wir Reformen, ein Umbaurecht und eine Umbaukultur, die die Potenziale im Bestand nutzen. Und ja, ein nachhaltig geplantes und gebautes Gebäude kann durch falsches Nutzerverhalten seine eigentlichen Energiekennwerte regelmäßig verfehlen. Auch hier ist der Gedanke grundsätzlich richtig, dass das Beziehungsgespann "Gebäude, Nutzer, Umwelt, Ressourcen" stimmig sein muss. Ein hochenergieeffizientes Passivhaus braucht sehr "aktive" Nutzer, die das Haus entsprechend seinem Energiekonzept nutzen.