Eine große Menschenmasse demonstiert vor dem Reichstag in Berlin.
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Rechtsextremismus in Deutschland
"Demokratie ist eine Zumutung"

Frank Decker blickt im Gespräch auf die parteipolitischen Entwicklungen Deutschlands. Ist der Ruck ins Rechtsextreme demokratisch zu verhindern?

Von Katrin Schmermund 04.03.2024

Forschung & Lehre: Herr Professor Decker, Sie beobachten seit Jahren die parteipolitischen Entwicklungen in Deutschland. Aktuell sticht vor allem der Zuspruch zur AfD hervor, während scheinbar fest im System etablierte Parteien zunehmend zersplittern. Was sagen Sie: Wie schlecht steht es um die Demokratie hierzulande? 

Frank Decker: Die Stimmung ist nervös und gereizt. Wenn eine rechtsextreme Partei in einigen Bundesländern laut Umfragen mehr als 30 Prozent der Wählerstimmen erreichen könnte, muss man das ernst nehmen und reagieren. Aktuell haben die demokratischen Parteien, die – das darf man nicht vergessen – immer noch die Mehrheit der Bevölkerung vertreten, der AfD leider nicht viel entgegenzusetzen. Stattdessen verzetteln sie sich in zum Teil kleinlichen Streitereien, die die Unzufriedenheit in der Wählerschaft weiter verstärken. Was mir Sorge macht und womit ich nicht gerechnet hätte: dass die AfD trotz ihres Extremismus auch in Westdeutschland immer mehr Unterstützung erfährt. Das Eis ist dünner, als wir geglaubt haben. Optimistisch stimmt, dass sich jetzt aus der Gesellschaft heraus eine Gegenbewegung formiert. Hunderttausende gehen auf die Straße und machen deutlich, wo die Mehrheit steht.

Porträt eines älteren Herren im grauen Anzug.
Frank Decker ist Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Volker Lannert/Universität Bonn

F&L: Wie kann die AfD auf das politische System in Deutschland Einfluss nehmen? 

Frank Decker: Wenn die AfD etwa im Deutschen Bundestag über 25 Prozent der Sitze verfügen würde – wozu ein Wahlergebnis von 21 oder 22 Prozent vermutlich ausreichen würde –, hätte sie das Recht, Verfahren vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen oder einen Untersuchungsausschuss zu fordern. Die AfD würde diese Instrumente gewiss zu Obstruktionszwecken einsetzen, deshalb ist es wichtig, dagegen Vorkehrungen zu treffen. Einige Bundesländer haben inzwischen Gesetzesentwürfe erarbeitet, die das Bundesverfassungsgericht besser schützen sollen. Das ist richtig und wichtig. Denn wie man in Ungarn, Polen und den USA gesehen hat, ist die Gerichtsbarkeit der erste Schritt, über den extreme Parteien ein demokratisches System nach und nach aushöhlen, meist gefolgt von Eingriffen in die Medienfreiheit. Es ist das typische Drehbuch der Verwandlung einer Demokratie in ein autoritäres System.

F&L: Innenministerin Nancy Faeser will das Thema auch auf Bundesebene angehen und hat vor kurzem einen 13-Punkte-Plan bekanntgegeben, zu dem ebenfalls ein verbesserter Schutz des Bundesverfassungsgerichts gehört. Worauf kommt es dabei insbesondere an? 

Frank Decker: Im Grundgesetz stehen nur die groben Zuständigkeiten des Gerichts. Das Wahlverfahren und die Amtsdauer von Richtern sind nicht geregelt. Beides auch in die Verfassung zu verankern, würde dazu führen, dass Änderungen nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit möglich wären. Es könnte verhindert werden, was etwa in den USA passiert ist: Die Republikaner haben mit ihrer Mehrheit im Senat einen ihnen nicht genehmen Richterkandidaten blockiert und Donald Trump, der im Anschluss die Präsidentschaftswahl gewann, hatte die Möglichkeit, selbst einen Richter zu ernennen, sodass der Supreme Court jetzt von einer klaren Mehrheit konservativer Richter dominiert wird. 

F&L: Das Bundesamt für Verfassungsschutz führt die AfD als sogenannten Verdachtsfall des Rechtsextremismus. Laut Medienberichten deuten interne Mails und Vermerke der Behörde darauf hin, dass die Partei bald als "gesichert extremistische Bestrebung" eingestuft werden könnte. Parallel wird über ein Parteiverbot diskutiert, ein erfolgversprechender Schritt gegen die Ausbreitung von Rechtsextremismus in Deutschland? 

"Es geht darum, ein Signal zu setzen, dass der Staat, dass die Demokratie – anders als in der Weimarer Zeit – wehrhaft ist."
Frank Decker, Universität Bonn

Frank Decker: Aus meiner Sicht ist ein Verbot der AfD das letzte Mittel. Aber warum ist zum Beispiel jemand wie Björn Höcke immer noch beurlaubter Lehrer in Hessen? Ich glaube, dass es rechtlich sehr gut möglich wäre, ihn dort zu entlassen. Auch halte ich die Diskussion für gerechtfertigt, ob AfD-Mitglieder ihre Grundrechte verwirken, wenn sie gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstoßen, wie es aktuell mit Blick auf Höcke diskutiert wird. Es geht darum, ein Signal zu setzen, dass der Staat, dass die Demokratie – anders als in der Weimarer Zeit – wehrhaft ist.

F&L: Sind wir jetzt wehrhaft genug? 

Frank Decker: Repressive Instrumente gegen extremistische Bedrohungen stehen uns ausreichend zur Verfügung. Es kommt jetzt darauf an, diese klug und entschlossen einzusetzen. Nicht alles, was rechtlich möglich ist, ist zugleich politisch sinnvoll. Zusätzlich muss man darüber nachdenken, wie man das Regierungssystem besser wappnet. Neben dem Verfassungsgericht betrifft das zum Beispiel das Wahlrecht und hier vor allem die Fünf-Prozent-Klausel. Wenn 15 oder 20 Prozent der Stimmen, die für demokratische Parteien abgegeben werden, wegen der Hürde unberücksichtigt bleiben, geht der Sitzanteil der AfD in den Parlamenten automatisch in die Höhe.

F&L: Inwiefern halten Sie Vergleiche zwischen dem Erstarken der NSDAP und dem der AfD für gerechtfertigt und was lässt sich daraus lernen? 

Frank Decker: Es ist insofern übertragbar, als wir die Folgen einer Machtbeteiligung rechtsextremer Parteien nicht unterschätzen sollten und uns darüber klar sein sollten, wie schnell der Zuspruch aus der Bevölkerung wachsen kann. 

So viel Wählerzustimmung, wie die AfD in Teilen Deutschlands heute erzielt, hatte die NSDAP erst 1932, also weniger als ein Jahr vor ihrer Machtübernahme. Gleichzeitig befinden wir uns in einer anderen Zeit. Damals waren von der Weltwirtschaftskrise Millionen Deutsche unmittelbar und heftig betroffen. Zwar sind wir auch heute mit Krisen konfrontiert, die – wie etwa der Klimawandel – dramatische Ausmaße annehmen können und es zum Teil schon tun, aber es geht uns deutlich besser als früher. 

F&L: Dem würden sicher einige Menschen widersprechen – auch wenn es verglichen mit den 30er-Jahren zutrifft. Kommen wir mit Maßnahmen, die alleine die Symptome von Rechtsextremismus bekämpfen wirklich weiter ohne die Ursache anzugehen: die bewusste Entscheidung für eine rechtsextremistische Partei – oftmals aus Frust oder Sorge vor der eigenen Zukunft? 

"Die Politik muss an den von der AfD aufgebrachten Problemen arbeiten und zwar so, dass das bei den Menschen Vertrauen erzeugt."
Frank Decker, Universität Bonn

Frank Decker: Die Politik muss an den von der AfD aufgebrachten Problemen arbeiten und zwar so, dass das bei den Menschen Vertrauen erzeugt. Je komplexer die Probleme sind, umso wichtiger ist es zu erklären, wie man sie angehen möchte und warum das vielleicht gar nicht so leicht ist. Die Politik darf keine falschen Versprechungen machen und den eigenen Machtvorteil nicht über das Gesamtinteresse stellen. Regierung und Opposition haben gegen diese Maximen wiederholt verstoßen. Warum lehnt zum Beispiel die Union eine Lockerung der Schuldenbremse vehement ab, wo sie doch genau weiß, dass sie das gleiche machen müsste, wenn sie selbst wieder in der Regierung wäre? Oder warum weckt Olaf Scholz die Erwartung, wir könnten und würden nicht bleibeberechtigte Migranten "in großem Stil" abschieben? Wenn solche Erwartungen absehbar enttäuscht werden, nutzt das allein den Rechtspopulisten. Die demokratischen Parteien müssten auch stärker versuchen, den Menschen eine positive Vorstellung der künftigen Gesellschaft anzubieten, die Ängste abbaut. Die Wählerschaft der AfD ist die mit Abstand zukunftspessimistischste. Die Ampelparteien wollten diesem Pessimismus das Projekt einer „Fortschrittskoalition“ entgegensetzen. Davon sehe ich wenig. 

F&L: Welche Rolle kann der Erfolg einer Partei wie der des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) in dieser Gemengelage spielen? 

"Umso wichtiger wären überzeugende Persönlichkeiten bei den anderen Parteien."
Frank Decker, Universität Bonn

Frank Decker: Wenn Sahra Wagenknecht Wahlergebnisse von zehn oder mehr Prozent erzielt, wie es manche Umfragen jetzt prognostizieren, ginge das sicher auch zu Lasten der AfD. Das BSW könnte für manche unzufriedene Protestwähler eine Alternative zur AfD sein: Weil das BSW mit Wagenknecht über eine charismatische Führungspersönlichkeit verfügt, weil es nicht extremistisch ist und trotzdem ähnlich restriktive Positionen in der Migrationsfrage vertritt und weil es in der Sozial- und Wirtschaftspolitik, wo die AfD bis heute an marktliberalen Positionen festhält, eher für linke Positionen steht. Hinzu kommt die prorussische Linie von Wagenknecht, was vor allem in Ostdeutschland auf breite Unterstützung stößt. Wenn Wagenknecht mit dieser Formel bei den Europawahlen Erfolg hat, könnte das ein Signal für die anstehenden Landtagswahlen im Herbst sein. Wagenknechts Populismus ist aber ebenfalls demokratiegefährdend. Umso wichtiger wären überzeugende Persönlichkeiten bei den anderen Parteien. 

F&L: Was haben wir als Demokratie noch in der Hand? 

Frank Decker: Die Demokratie sind wir alle, also haben wir auch ihre Zukunft in der Hand. Als Politikwissenschaftler setze ich natürlich vor allem auf Aufklärung und politische Bildung. Wir müssen für die Demokratie werben, indem wir ihre Funktionsprinzipien erklären. Es wird immer Phasen geben, in denen wir zufriedener, und Phasen, in denen wir unzufriedener mit unserer gewählten Regierung sind. Das sollte nicht in eine Ablehnung der Demokratie selbst münden. Das Problem der Demokratie ist, dass sie eine äußerst anspruchsvolle Staats- und Lebensform darstellt. Sie ist – wenn man so will – eine Zumutung und produziert ständig Enttäuschungen. Damit müssen wir leben, und das müssen wir den Menschen wieder besser vermitteln. 

"Das Problem der Demokratie ist, dass sie eine äußerst anspruchsvolle Staats- und Lebensform darstellt." Frank Decker, Universität Bonn

F&L: Warum sprechen Sie von einer Zumutung? 

Frank Decker: Weil die Demokratie sich nicht von selbst macht. Für ihren Zustand sind nicht nur die Regierenden verantwortlich, sondern auch die Regierten. Ich finde, dass wir in der heutigen Gesellschaft zu stark in Rechten denken, wie es unser Grundgesetz ja auch betont. Es gibt aber zugleich Pflichten. Zur Demokratie gehört auch das Verbindende, der Einsatz für das Gemeinwohl, und daran muss man die Menschen erinnern. Als Bürgerinnen und Bürger haben wir auch eine Bringschuld.

Themen-Schwerpunkt "Demokratie"

  • In unserem Schwerpunkt "Demokratie" finden Sie gesammelte Beiträg rund um aktuelle Fragen wie: Die Demokratie wird weltweit auf vielfältige Weise herausgefordert. Welche Bedrohung geht für sie von Populisten aus? Welche Antworten haben ihre Repräsentanten auf gesellschaftliche Entwicklungen? Wie stehen Wissenschaft und Demokratie zueinander?
  • Unser Interview-Partner Professor Frank Decker ist bereits mehrmals für Forschung & Lehre als Autor tätig gewesen. Entdecken Sie, welche politikwissenschaftlichen Aspekte er für Sie beleuchtet.