Nationales Sicherheitsgesetz
Der Niedergang der Wissenschafts-Freiheit in Hongkong
Die Verabschiedung des neuen Gesetzes zur "Wahrung der Nationalen Sicherheit in der Sonderverwaltungsregion Hongkong" am 30. Juni 2020 und sein Inkrafttreten am 1. Juli, genau zum 23. Jahrestag der Rückgabe Hongkongs an die Volksrepublik China, hat in vielen Ländern der Welt zu einem Aufschrei gegen die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas geführt. Das Gesetz ist die ultimative Antwort der chinesischen Staats- und Parteiführung auf eine seit Mitte 2019 anhaltende Protestwelle gegen die Regierung der Sonderverwaltungsregion (SVR) Hongkong unter Chief Executive Carrie Lam. Diese hatte zunächst versucht, ein spezielles Gesetz durch den Hongkonger Legislativrat, das Parlament der SVR, zu bringen, mit dem es den Hongkonger Behörden möglich gewesen wäre, Hongkonger Bürgerinnen und Bürger für strafrechtliche Verfahren an China auszuliefern. Unter dem Druck der Straße nahm die SVR-Regierung dieses Gesetz schließlich im September 2019 zurück.
Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Protestbewegung bereits radikalisiert und forderte, unter anderem, die Zulassung direkter und freier Wahlen sowohl des Chief Executive als auch der 70 Delegierten des Legislativrats. Die Auseinandersetzungen zwischen den Protestierenden, hauptsächlich jüngere Hongkonger und viele Studierende, und der Polizei nahmen im Laufe der Monate an Härte und Gewalt zu. Erst die Corona-Pandemie setzte ihnen Anfang dieses Jahres ein vorläufiges Ende, bevor es im Frühjahr, im Zuge erster Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen in der SVR, erneut zu Protestdemonstrationen gegen die SVR-Regierung kam. Diese hatte inzwischen, unter massiven Druck Pekings, die Verabschiedung eines neuen "Sicherheitsgesetzes" nach Maßgabe des Artikel 23 des Basic Law, des Hongkonger "Grundgesetzes", in Aussicht gestellt und damit auch den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit in den Reihen der demokratischen Kräfte Hongkongs verspielt. Am Ende zog die chinesische Zentralregierung die Sache an sich.
"Mit dem Sicherheitsgesetz hat die Hongkonger Regierung auch den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit verspielt."
Das nun verabschiedete "Sicherheitsgesetz" wird von den meisten Beobachtern und Experten außerhalb Chinas als Totengräber der im Basic Law festgeschriebenen Autonomie Hongkongs bewertet. Danach darf die Sonderverwaltungsregion für die Dauer von 50 Jahren, beginnend mit dem handover am 1. Juli 1997, das "kapitalistische System" und die politischen Institutionen der Kolonialzeit, einschließlich einer unabhängigen Judikative, beibehalten und sich im Wesentlichen selbst verwalten. Die chinesische Zentralregierung ordnete das "Sicherheitsgesetz" jedoch einfach dem Annex III des Basic Law zu, der die auch in Hongkong zu befolgenden Gesetze der VR China auflistet. Zuvor hatte sie kundgetan, sich nicht länger an den Art. 22 des Basic Law gebunden zu fühlen, der ein Interventionsverbot für zentralchinesische Institutionen in die Verwaltung Hongkongs festlegt.
Das Strafmaß legt allein China fest
Die Zentralregierung hat mit ihrem Vorgehen demonstriert, dass sie die Infragestellung ihrer Souveränität über Hongkong nicht länger dulden will und beruft sich dabei vor allem auf die zuletzt immer lauter gewordenen Rufe einer Minderheit innerhalb der demokratischen Kräfte nach einer Hongkonger Unabhängigkeit. Das "Sicherheitsgesetz" stellt "Sezession", "Subversion", "Terrorismus" und "Verschwörung mit ausländischen Mächten" unter Strafe. Sie können im schlimmsten Fall mit lebenslangem Freiheitsentzug geahndet werden. Die Verfolgung entsprechender Rechtsverstöße obliegt zum einem dem von der SVR-Regierung neu ins Leben gerufenen "Nationalen Sicherheitskomitee" unter der Leitung des Chief Executive sowie einer neuen "Nationalen Sicherheitsabteilung" der Hongkonger Polizei. Zum anderen wird sie von einem ebenfalls neu gegründeten "Nationalen Sicherheitsbüro" wahrgenommen, einem Organ der Zentralregierung, das auf deren Geheiß jeden speziellen Fall an sich ziehen kann und ihn damit der Hongkonger Rechtsprechung entzieht. Es findet dann die chinesische Strafprozessordnung Anwendung. Unter bestimmten Voraussetzungen, die allein von der Zentralregierung definiert werden, können Beschuldigte zudem in China zur Verantwortung gezogen, also dorthin ausgeliefert und abgeurteilt werden.
"Das Gesetz zielt auf alle Personen, die sich über die politischen Zustände in Hongkong äußern. Für Universitäten gilt dies in besonderer Weise."
Neben der von ihm ausgehenden Bedrohung für die demokratischen Kräfte Hongkongs hat das neue "Sicherheitsgesetz" auch unmittelbare Auswirkungen auf die Wissenschaftsfreiheit und die damit eng verbundene Meinungsfreiheit. Auch wenn, wie offizielle Stimmen aus China betonen, zuvorderst Hongkonger Bürgerinnen und Bürger adressiert sind, zielt der Text des Gesetzes auf alle Personen, die sich in "unbotmäßiger" Weise über die politischen Zustände in Hongkong äußern oder gar politisch engagieren. Für die Schulen und Universitäten gilt dies in besonderer Weise, wurden sie doch von der SVR-Regierung, allen voran Carrie Lam, und chinesischen Politikern als Quelle und Brandbeschleuniger der jüngsten Protestbewegung identifiziert. Lehrerinnen und Lehrer, Professorinnen und Professoren befürchten angesichts der unbestimmten Straftatbestände des "Sicherheitsgesetzes" zu Recht massive Einschränkungen der Lehrfreiheit.
Lehre: Distanz zu den "sieben Unaussprechbaren" wahren
Faktisch ist diese bereits seit Jahren einem schleichenden Erosionsprozess ausgesetzt. Die ersten Anzeichen deuten darauf hin, dass dieser sich nunmehr stark beschleunigen könnte: Nur eine Woche nach Inkrafttreten des "Sicherheitsgesetzes" wurde der Lehrkörper eines Colleges der renommierten University of Hong Kong von seiner Leitung aufgefordert, jede Diskussion über "sensible Themen" zu vermeiden und gewarnt, dass es keine Toleranz für Politik oder eigene politische Ansichten im Seminarraum mehr geben werde. Dieser müsse "politisch neutral" sein und allein dem akademischen Lernen dienen. Aus öffentlichen Bibliotheken sowie solchen von Schulen und Universitäten werden nun Bücher entfernt, deren Inhalt mit dem "Geist" der neuen Bestimmungen kollidieren könnte. Einige "pro-chinesische" Politiker haben gefordert, Unterrichtsräume mit Kameras auszustatten, um das Lehrpersonal zu kontrollieren. Ein Mitglied des Kabinetts der SVR-Regierung und des Hochschulrats der ebenfalls hochangesehenen Chinese University of Hong Kong gab zu Protokoll, dass die Wissenschaftsfreiheit nicht das Gesetz brechen dürfe und Studierenden nicht das Recht gäbe, zu tun was sie wollten.
Auch wenn es schon seit Jahren kaum mehr möglich ist, wissenschaftliche Konferenzen und Vorträge zu kontroversen Themen wie Taiwan, Tiananmen, Tibet oder Xinjiang in Hongkong durchzuführen, wird durch das Sicherheitsgesetz die Vorsicht, kontroverse Themen anzufassen, weiter zunehmen. Schon seit 2013 gilt eine Direktive des ZK-Generalbüros der KP China, Distanz zu den "sieben Unaussprechbaren" zu wahren, Themen, die nach Wahrnehmung der Staats- und Parteiführung die nationale Sicherheit Chinas bedrohen: "Universelle Werte", "Meinungsfreiheit", "Zivilgesellschaft", "Bürgerrechte", "historische Fehler der Partei", "Crony-Kapitalismus" und "richterliche Unabhängigkeit". Faktisch bedeutet dies, dass unter diesen Katalog fallende kritische Erörterungen mit Bezug auf China zukünftig durch das "Sicherheitsgesetz" geahndet werden können.
"Niemand kann in Hongkong mehr sagen, wo genau die Grenze des noch Sagbaren in einem wissenschaftlichen Diskurs verläuft."
Niemand kann in Hongkong mehr sagen, wo genau die Grenze des noch Sagbaren in einem wissenschaftlichen Diskurs verläuft. Diese Unsicherheit erzeugt Misstrauen und Angst unter Professorinnen und Professoren sowie Lehrerinnen und Lehrern, Studierenden, Schülerinnen und Schülern, und auch innerhalb der Verwaltungen – Gift für jede freie und produktive Entfaltung des Geistes. Ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auch solche, die in Hongkong arbeiten, werden zukünftig sehr zurückhaltend sein, sich politisch zu äußern, egal ob in Hongkong selbst oder anderenorts. Gleichzeitig stehen sie unter zunehmendem Druck, auf ihre Hongkonger Kolleginnen und Kollegen Rücksicht zu nehmen, die sich durch ebensolche Äußerungen, zum Beispiel auf internationalen Konferenzen im Ausland, zuhause politisch kompromittieren könnten.
Das gleiche gilt für im Ausland eingeschriebene Studierende aus Hongkong: Sie müssen zukünftig besonders achtsam sein, wenn sie die Protestbewegung in der SVR eintreten oder gar für diese agitieren. Es könnte ihnen zukünftig ähnlich gehen wie einem chinesischen Studenten, der an der University of Minnesota studierte und im Juli 2019 in seiner Heimatstadt Wuhan zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde. Er hatte sich lediglich in einigen in den USA geposteten Tweets über einen chinesischen Politiker lustig gemacht. Bürger der SVR, die im Ausland nach Maßgabe des "Sicherheitsgesetzes" straffällig geworden sind, können nach ihrer Wiedereinreise in die VR China ausgeliefert und dort angeklagt werden – auch dieses Damoklesschwert dürfte den akademischen Austausch mit Hongkong zukünftig erheblich beeinträchtigen. Abgesehen davon befürchtet man in der Hongkonger Studierendenschaft eine Zunahme von Infiltration und Überwachung – in Hongkong gesteuert durch das neue "Nationale Sicherheitsbüro", im Ausland durch die chinesischen Botschaften und Konsulate. Entsprechende Erfahrungen scheinen chinesische Studierende in Deutschland in den vergangenen Jahren bereits gemacht zu haben.
Zunehmende ideologische Indoktrinierung der Lehre
Die jüngste Ankündigung von US-Präsident Trump, das etablierte Fullbright-Austauschprogamm mit der VR China und Hongkong zu beenden, könnte einen akademischen Rückzug des Westens einläuten. Auch wenn hier ganz andere, vor allem wahltaktische, Erwägungen im Vordergrund stehen dürften, droht diese Entscheidung auf den globalen akademischen Austausch mit Hongkong durchzuschlagen. Die Attraktivität der dortigen Universitäten, die zu den besten in Asien zählen, könnte angesichts der nun geschaffenen politischen Atmosphäre spürbar nachlassen. So sind es schon heute vor allem chinesische Studierende, die nach Hongkong kommen. Sie wurden bisher durch das lebendige akademische Leben in der SVR positiv überrascht. Nun steht zu erwarten, dass sie dort schon bald genau das vorfinden werden, was sie von festlandchinesischen Universitäten gewöhnt sind: Eine zunehmende ideologische Indoktrinierung der Lehrpläne und mancherorts einer lähmende Stromlinienförmigkeit der akademischen Diskussion.
Dies alles deutet auf einen traurigen Niedergang der akademischen Freiheit in Hongkong hin. Zu erwarten steht zwar eine weiterhin gute Finanzierung der Universitäten, die professionell-technokratisch geführt werden und vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern weiterhin internationale Spitzenleistungen erbringen, die aber nicht mehr länger einem liberalen offenen Geist verpflichtet sind sondern der Ausrichtung der Hongkonger Gesellschaft auf das ideologische und nationalistische Selbstverständnis der chinesischen Staats- und Parteiführung. Aus deren Perspektive besteht offensichtlich kein Widerspruch zwischen einer mittels staatlicher Zwangsmaßnahmen herbeigeführten Loyalität der SVR gegenüber dem "Mutterland" einerseits und einer akademisch unterfütterten Kreativität durch freies Denken, die ein zukunftsorientiertes Land braucht.
Es bleibt die Frage, wie die Hochschulen in Deutschland auf diese Problematik reagieren sollten. Ein sinnvoller Schritt sind Angebote an Hongkonger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sich dem politischen Druck in der SVR zumindest periodisch zu entziehen. In diesem Sinne scheint die Bundesregierung bereits über spezielle Stipendienprogramme nachzudenken, die von den Universitäten verwaltet würden. Ob und in welchem Umfang diese zu Plattformen für eine politische Solidarisierung mit Hongkongs demokratischen Kräften werden sollten, ist unter Berücksichtigung der Reichweite des "Sicherheitsgesetzes" nicht allgemein zu beantworten. Dass es die intellektuelle Redlichkeit gebietet, sich das wissenschaftlich begründete Wort nicht verbieten zu lassen, braucht nicht erwähnt zu werden. Wieviel Risiko dies bedeutet, muss jeder für sich abwägen.
"Deutsche Universitäten setzen nach wie vor auf enge Wissenschaftsbeziehungen zu China."
Anders gelagert ist die zukünftige Gestaltung von Hochschulpartnerschaften mit Hongkong und die Frage, ob man diese angesichts der sich rapide verschlechternden Beziehungen zwischen China und dem Westen beenden sollte oder nicht. Hierzu ist zu sagen, dass die chinesischen Hochschulen hinsichtlich der eingeforderten Kompatibilität wissenschaftlicher Lehre mit ideologischer Disziplin und Staatstreue unter einem ähnlichen großen Druck stehen wie Hongkong. Dies hat jedoch hierzulande bisher nicht zu politischen Forderungen geführt, Partnerschaften mit ihnen zu beenden. Im Gegenteil setzen die deutschen Universitäten angesichts der globalen Bedeutung Chinas und einer ungebrochenen Überzeugung von der Wirksamkeit kultureller Austauschprozesse für die Verständigung auf gemeinsame Werte und Normen nach wie vor auf enge Wissenschaftsbeziehungen zu China und versuchen, diese nach Möglichkeit noch auszubauen. Dies ist und bleibt der richtige Weg, der auch mit Blick auf Hongkong zu gehen ist.
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