Teilnehmer einer Konferenz
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Wissenschaft in Großbritannien
Hoffnung auf enge Zusammenarbeit nach dem Brexit

Der Brexit kommt mit vielen Unsicherheiten für die Wissenschaft. Am europäischen Austausch wollen Vertreter festhalten. Welche Erwartungen haben sie?

Von Katrin Schmermund 31.01.2020

"Let’s arrange a project meeting for Wednesday." "Wann müssen wir den Research Proposal einreichen?" "Tu es dispo pour un déjeuner ensemble?" – Stimmengewirr am Euston Square nahe des University College London (UCL). Beschäftigte und Studierende der Hochschule wechseln das Veranstaltungsgebäude oder sind auf der Suche nach einem schnellen Mittagsimbiss in einem der nahe liegenden Cafés.

In einem davon sitzt die Leiterin des European Institutes der UCL, Dr. Uta Staiger. Obwohl das Treiben vor den Fenstern "business as usual" vortäuscht, kann davon keine Rede sein. Der EU-Austritt Großbritanniens zum 1. Februar 2020 steht kurz bevor. Die Wissenschaft tappt bei vielen Fragen noch immer im Dunkeln. "100-prozentig sicher ist aktuell nichts – zumindest nicht für die Zeit nach 2020", sagt Staiger. Seit dem Referendum 2016 beschäftigt sie die Frage, wie sich die UCL am besten auf den Brexit vorbereiten kann.

Bis Ende dieses Jahres bleibt zunächst rechtlich alles beim Alten. In einer Übergangszeit greifen trotz Austritt Großbritanniens weiterhin die bisherigen Regelungen. "In dieser Phase bestärken wir alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Großbritannien, sich zum Beispiel auch weiter für Projekte über das "Horizon 2020"-Programm der EU zu bewerben", sagt Staiger. Die Regierung hatte zugesichert, alle bis Ende des Programms geförderten Projekte weiter zu tragen. Die Beteiligung britischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an EU-Projekten ist laut Angaben der britischen "Royal Society" zwischen 2015 und 2018 schon zurückgegangen, von 16 auf 11 Prozent.

"Ich glaube, dass der Regierung die Bedeutung der Forschung für die Weiterentwicklung des Landes durchaus bewusst ist." Uta Staiger, University College London

Bis Ende 2020 soll die britische Regierung theoretisch mit ihren europäischen Partnern geregelt haben, wie die weitere Zusammenarbeit aussehen soll. "Ich fürchte jedoch, dass die Forschungspolitik bis dahin keine große Rolle spielen wird", sagt Staiger. Über Netzwerke wie die "Russell Group", ein Zusammenschluss britischer Universitäten, mache auch die UCL weiterhin deutlich, dass Großbritannien gerade auf die europäische Zusammenarbeit in der Forschung nicht verzichten könne, sagt sie. "Ich glaube, dass der Regierung die Bedeutung der Forschung für die Weiterentwicklung des Landes durchaus bewusst ist." Die künftige Zusammenarbeit mit der EU bereite ihr dennoch Sorgen. "Eine starke Einbindung in EU-Projekte passt nicht zum dominierenden Narrativ der britischen Politik eines 'Großbritanniens im neuen Glanz', unabhängig von der EU", meint Staiger. Sie bleibe optimistisch: "Noch ist nichts entschieden."

Die European University Association (EUA) hält Forschung und Bildung laut einem aktuellen Papier für "relativ unproblematische Politikfelder". Sowohl die EU als auch Großbritannien seien an einer engen Zusammenarbeit interessiert. Das Netzwerk zitiert etwa aus der Erklärung der EU-Kommission zum Brexit, in der die Behörde schreibt, dass grundlegende Prinzipien und Bedingungen für die Teilnahme Großbritanniens an EU-Programmen festgelegt werden sollten. Den Zeitrahmen, innerhalb dessen diese feststehen sollen, hält jedoch auch die EUA für knapp, weil andere "hochkomplexe" Verhandlungen anstünden – etwa zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU.

Experten: Visa-Vorschriften für Forscher unproblematisch

Als ein positives Signal wurde von Wissenschaftsvertretern das zuletzt von Premier Boris Johnson vorgestellte "Global Talent Visa" aufgenommen. Ab dem 20. Februar sollen damit "the most talented minds in the world" von einem vereinfachten Visumsverfahren profitieren. Für andere sind die Einreisebestimmungen bislang ungeklärt.

Die "Royal Society" beschrieb die Schnell-Visa als "eine attraktive Visa-Option, die Forscher und Experten aus der ganzen Welt anlocken wird – unabhängig davon, an welchem Punkt ihrer Karriere sie stehen", wie Präsident Professor Venki Ramakrishnan sagte. Der Wissenschaftsvertreter sprach von einem Gewinn für die gesamte Gesellschaft: Durch den europäischen Austausch könnten Forscherinnen und Forscher weiter wichtige gesellschaftliche Herausforderungen angehen, zum Beispiel den Klimawandel oder Krankheiten.

Auch die Leiterin des Londoner Büros des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) zeigte sich erfreut. "Die Regierung hat gezeigt, dass sie auch weiterhin an der Einreise europäischer 'Talente' interessiert ist", sagte Ruth Krahe. "Wir gehen davon aus, dass über den DAAD geförderte Forschende und Studierende damit auch künftig keine Probleme haben werden, nach Großbritannien einzureisen."

Ein Rückgang der Zahlen von Forschenden und Studierenden wäre nicht nur ein Schlag für den wissenschaftlichen Austausch. Er hätte auch finanzielle Konsequenzen: Studiengebühren finanzieren die britischen Universitäten zu einem großem Anteil. Zuletzt waren es laut dem Netzwerk "Universities UK" 44 Prozent.

Noch steige die Zahl der EU-Studierenden, berichtet Staiger von der UCL. Aktuell liege ihr Anteil bei rund 13 Prozent. Das könne sich jedoch ändern, wenn Studierende aus EU-Staaten dieselben Gebühren zahlen müssten wie andere internationale Studierende – was Staiger für wahrscheinlich hält. "Die Regierung müsste EU-Studierende explizit von den geltenden Regeln für internationale Studenten ausnehmen, um ihre Gebühren an das bisherige Niveau anzupassen."

Dass zum Beispiel eine Studentin aus Deutschland weniger als eine Studentin aus Ghana zahlen müsse, ließe sich jedoch ohne eine entsprechende Grundlage im EU-Recht wohl nicht mehr verteidigen, argumentiert Staiger. "Außerdem passt eine solche Regelung kaum zu dem von der Regierung vertretenen 'Global Britain'". Besonders stark würden den Rückgang von Studierenden aus der EU wohl die kleinen Universitäten zu spüren bekommen, schätzt sie. "Große und hoch gerankte Universitäten werden es leichter haben."

"Wir werden vor allem auf die Universitäten zugehen, an die in der Vergangenheit viele Geförderte von uns gegangen sind." Ruth Krahe, Deutscher Akademischer Austauschdienst

Richard Mole ist Professor der "Political Sociology School of Slavonic and East European Studies" an der UCL. Er fürchtet, dass mit höheren Gebühren vor allem Studierende aus den osteuropäischen Staaten wegfallen könnten, weil es für sie im Schnitt immer noch schwieriger sei, ihr Studium zu finanzieren als etwa für Studierende aus Deutschland oder Frankreich. "Dem internationalen Diskurs an der Universität würde das extrem schaden, sagt der Wissenschaftler. Die Studierenden aus diesen Ländern bringen interessante Perspektiven für Studierende aus anderen Ländern ein, können etwa über alltägliche Erfahrungen ihrer Familien aus dem Leben unter dem Kommunismus."

Der DAAD will sich laut Krahe für seine Stipendiatinnen und Stipendiaten um Abkommen mit einzelnen Universitäten bemühen, damit deutschen Studierenden höhere Studiengebühren erspart blieben. "Wir werden vor allem auf die Universitäten zugehen, an die in der Vergangenheit viele Geförderte von uns gegangen sind", sagt sie. Dazu zählten verschiedene Londoner Universitäten sowie Oxford, Cambridge, Birmingham, Lancaster oder Leeds. Mit vielen Universitäten hätte der DAAD bereits enge Kooperationen, unter anderem, weil Lektoren und Sprachassistenten dort tätig seien.

Deutsche Unis schaffen neue Professuren für britische Forscher

Die offenen Fragen zur künftigen Wissenschaftspolitik in Großbritannien verunsichern viele Forschende. Einige hätten das Land bereits verlassen oder planten zu gehen, heißt es aus London. Von einem "Brexodus", wie eine massenhafte Abwanderung aus Großbritannien auch bezeichnet wurde, könne man jedoch nicht sprechen, betont Krahe mit Blick auf die Entwicklung der Stipendien des DAAD. Aktuelle Zahlen würden gerade zusammengestellt. An der UCL ist die Lage laut Staiger ähnlich. Nur in Einzelfällen habe sie davon gehört, dass sich Beschäftigte entschieden hätten, das Land zu verlassen. "Trotzdem fürchten wir, renommierte Forscherinnen und Forscher zu verlieren – vor allem diejenigen, die einen längeren Aufenthalt planen."

Internationalität an britischen Universitäten

Forscherinnen und Forscher aus der EU machen laut "BBC" rund die Hälfte der wissenschaftlich Beschäftigten in Großbritannien aus. An der UCL kommen der Hochschule zufolge 26 Prozent der Forschenden ohne Lehraufträge aus anderen EU-Ländern. Seit dem Referendum übersteige die Zahl derjenigen, die Großbritannien verließen, die Zahl der Forschenden, die aus der EU neu eingestellt würden – zuletzt um sechs Prozent. Der Anteil der Bewerbungen aus anderen EU-Ländern auf freie Stellen sei insgesamt seit dem Referendum von 27 Prozent auf 23 Prozent gesunken. Im Bereich der wissenschaftlich Festangestellten seien die Zahlen dagegen von 19 Prozent auf 21 Prozent gestiegen.

Die TU München hat laut eigenen Angaben im Jahr 2019 vier neue Professuren für Wissenschaftler aus Großbritannien geschaffen. Drei weitere Rufe seien ausgesprochen, andere Verhandlungen liefen. Für andere Universitäten liegen keine vergleichbaren Angaben vor. Die Nationalität der Berufenen wird in der Regel nicht nach Ländern ausgewertet.

Wissenschaftler Mole wolle Großbritannien nicht verlassen, sagt er. "Hier weiß ich genau, wie das wissenschaftliche System funktioniert und habe Perspektiven für meine weitere wissenschaftliche Karriere." Sollte er keine Perspektiven in der Wissenschaft mehr in Großbritannien sehen, könne er sich vorstellen, nach Berlin zu gehen. Dort sei er bereits mehrmals beruflich gewesen und kenne andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Wechsel könne für ihn jedoch nur eine Notlösung sein. Aus seinem direkten Team habe ebenfalls noch niemand Großbritannien verlassen. Eine Professorin, die neu starten sollte, habe sich jedoch auf Anraten von anderen kurzfristig für ein anderes Land entschieden.

Der Wissenschaftler verlasse sich darauf, dass sich die UCL und Wissenschaftsverbünde für die Interessen der Forscherinnen und Forscher im Land starkmachten. An ausländische Forschende appelliert er, weiter mit Großbritannien zu kooperieren. Auch er ist an "Horizon 2020"-Projekten beteiligt.

Forderung nach eigenem Abkommen für Forschung

37 britische und europäische Wissenschaftsorganisationen haben sich kurz vor dem Austritt Großbritanniens positioniert. Aus Deutschland hat sich die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) beteiligt. Sie fordern von der EU und ihren nationalen Regierungen eine Beteiligung des Landes an den Programmen "Horizon" und "Erasmus+". Das müsse bald erfolgen, um die wissenschaftliche Zusammenarbeit nicht zu gefährden. Auch der britische "Wellcome Trust" und der Brüsseler Think Tank "Bruegel" plädierten für eine schnelle Klarheit. Dabei solle man nicht auf die Ergebnisse der übrigen Verhandlungen warten. Die beiden Organisationen schlagen ein unabhängiges Abkommen für Forschung und Innovation vor.

Selbst wenn die Beratungen unmittelbar begännen, sei die Zeit knapp, so das Autorenteam. Im Schnitt habe es in der Vergangenheit rund sechs Jahre gedauert, bis Assoziierungsabkommen abschließend verhandelt und umgesetzt worden seien. In einem Planspiel haben die Organisationen einen möglichen Ausgang der Verhandlungen simuliert – auf die Teilnahme an "Horizon Europe" konnten sich die fiktiven Verhandlungsteams einigen.

Ein unabhängig von anderen Bereichen getroffenes Abkommen hält DAAD-Mitarbeiterin Krahe für unrealistisch. "Die regulatorische Ausgestaltung anderer Bereiche hat Auswirkungen auf die Forschung, zum Beispiel die Vorgaben zum Datenaustausch und zur Datensicherheit sowie Standards für klinische Studien oder Zulassungsfragen in der Pharmakologie Auswirkungen auf die Forschung", sagt sie. Auch UCL-Mitarbeiterin Staiger wartet auf schnelle entsprechende Beschlüsse, bevor es konkret um die Wissenschaft gehen könne. "Bis dahin versuchen wir so gut es geht weiterzumachen", sagt sie und schnappt sich ihr Notebook vom Bistrotisch. Sie hat noch einen Termin mit einer Studentin – deren Bachelorarbeit will besprochen werden.

Brexit: Was passiert als nächstes? Welche Regeln gelten?

Großbritannien wird die EU mit dem 31. Januar 2020 verlassen. Zuletzt hatte auch das Europäische Parlament dem Austritt zugestimmt. Bis Ende 2020 läuft eine Übergangsfrist. Danach ist unsicher, ob Großbritannien zum Beispiel noch an Programmen wie Horizon oder Erasmus+ teilnehmen kann. Im Anschluss an die Abstimmung betonte der Vorsitzende des Brexit-Ausschusses, Guy Verhofstadt: Das Ergebnis könne nur das Interesse an einem geregelten Austritt spiegeln, nicht die Befürwortung des Brexits als solchem.

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