Soldatenfiguren auf den Fahnen von Russland und der Ukraine, Symbolfoto Ukraine-Krieg.
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Ukraine-Krieg
"Keine Seite kann gewinnen"

Vor mehr als sechs Wochen begannen russische Truppen, die Ukraine anzugreifen. Ein Gespräch über die Hintergründe und die Zukunft der beiden Länder.

Von Charlotte Pardey 11.04.2022

Forschung & Lehre: Herr Professor Schmid, wie beurteilen Sie den aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine? Können Sie einen Vergleich ziehen zum Konflikt 2014/2015?

Ulrich Schmid: Es ist aktuell eindeutig eine Lose-Lose-Situation, keine Seite kann gewinnen. Der Kreml und Präsident Wladimir Putin haben sich komplett verschätzt. Sie waren fest davon überzeugt, dass sich die Ukraine zu einem historischen Russland zugehörig fühlt, in dem Ukrainer, Belarussen und Russen eine Einheit bilden. Sie erwarteten, dass die ukrainische Bevölkerung die russischen Truppen als Befreier begrüßen würde. Diese Vorstellung hat nichts mit der tatsächlichen Stimmung im Land zu tun. Ich befürchte, es steht uns nun ein längerer Partisanenkrieg bevor. Der Unterschied zu 2014 besteht darin, dass Russland damals verdeckt in die Krim und in den Donbass einmarschiert ist. Putin hat dies erst nach Monaten zugegeben. Auch damals ist der Angriffsplan allerdings größtenteils gescheitert. Nur die Gebiete um Donezk und Luhansk wurden zu Volksrepubliken. Die ursprüngliche Vorstellung war, dass alle Städte im Osten der Ukraine wie Charkiw, Dnipro und Odessa sich dem großrussischen Projekt anschließen.

Portraitfoto von Professor Ulrich Schmid
Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen.

F&L: Das entspricht der Theorie, dass der Osten der Ukraine eher russisch und der Westen eher westlich orientiert sei. Stimmt diese Theorie nicht?

Ulrich Schmid: Man kann das Land nicht in einen europafreundlichen Westen und einen prorussischen Osten aufteilen. Das ostukrainische Dnipro etwa ist eine überwiegend russischsprachige Stadt, aber in den letzten 15 Jahren hat sich dort ein ukrainisches Zivilbewusstsein entwickelt. In der Ukraine möchte niemand zu sowjetischen Verhältnissen zurück und schon gar nicht unter Bedingungen leben, wie sie seit den Gesetzesänderungen von Anfang März in Russland herrschen. Russland hat sich in einen offenen Polizeistaat verwandelt.

F&L: Wie könnte es weitergehen? Rechnen Sie mit einem neuen Kalten Krieg?

Ulrich Schmid: Die Metapher des Kalten Krieges trifft nicht. Der Kalte Krieg bestand auf einem Systemgegensatz, der seit 1991 nicht mehr gilt. Auch im Kreml gibt es kein Bestreben, die existierende Form von Marktwirtschaft wieder abzuschaffen. Während des Kalten Krieges gab es ein ganzes Lager sozialistischer Staaten. Heute hat sich Russland ziemlich isoliert, an seiner Seite sind nur noch Belarus, Syrien, Eritrea und Nordkorea. Damit lässt sich kein neuer Kalter Krieg aufziehen. Mittelfristig glaube ich, dass Donezk und Luhansk in die Russische Föderation aufgenommen werden. Der russische Plan sah wohl vor, einen großen, von Moskau abhängigen Satellitenstaat zu schaffen mit Kiew als Hauptstadt. Galizien im Westen wäre dann als ukrainischer Rumpfstaat übriggeblieben. Was sich jetzt abzeichnet, ist eine "Donbassisierung" der gesamten Ukraine. Dem Land droht, was dem Donbass seit 2014 widerfährt: wirtschaftliche Isolation, eine große Fluchtbewegung und die Destabilisierung aller gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen und des Bildungssektors. Die Ukraine soll daran gehindert werden, ein funktionierender Staat zu sein.

F&L: Das ist keine Friedensperspektive...

Ulrich Schmid: Es gibt Friedensverhandlungen, aber die russische Seite fordert im Grunde eine ukrainische Kapitulation: Es geht um die Installierung eines russlandfreundlichen Premierministers, die Anerkennung der Krim als russisch, den Verzicht auf einen NATO-Beitritt und die Demilitarisierung des Landes. Selbst wenn die ukrainischen Verhandler das Blutvergießen mit allen Mitteln stoppen wollten, dann würden diese Bedingungen von der ukrainischen Bevölkerung nicht angenommen werden. Die Kampfmoral ist enorm hoch und jeder, der diesen Bedingungen zustimmte, würde als Verräter angesehen. In der Ukraine kämpfen nicht nur die Soldaten der Armee, sondern auch die Territorialverteidigungsverbände – einfache Bürger, die zu den Waffen gegriffen haben. Die Regierung hat auf sie keinen Zugriff. Die Territorialverteidigung untersteht direkt dem ukrainischen Generalstab.

F&L: Welche Folgen hat der aktuelle Krieg für die Orientierungen der Ukrainer?

Ulrich Schmid: Der von der politischen Elite betriebene Anschlussprozess an den Westen wird nun in weiteren Gebieten Unterstützung finden. Im Winter 2013/2014 hatte der "Euromaidan" diesen Effekt etwa in der Zentralukraine. Die ukrainische Regierung hatte sich geweigert, das EU-Assoziierungsabkommen zu unterschreiben und viele Tausende protestierten dagegen. Die Auseinandersetzungen führten zur Flucht und Absetzung des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Eine weitere Stärkung des ukrainischen Nationalprojekts ist nun auch zu erwarten, wie sie ebenfalls bereits 2014 geschah. Am 28. Februar hat die Ukraine ein EU-Beitrittsgesuch gestellt. Der normale Beitrittsprozess wird nun beginnen, der viele Gesetzesänderungen erfordern dürfte. Für die Ukraine ist das eine Herausforderung, weil von einem regulären Gesetzgebungsbetrieb aktuell keine Rede sein kann.

F&L: Was bedeutet der Krieg für die Menschen in Russland?

Ulrich Schmid: Es ist die entscheidende Frage der nächsten Monate, ob die öffentliche Meinung in Russland kippt. Im Moment sieht man nur wenige Proteste in Russland selbst. Einschüchterung ist dabei ein wichtiges Thema. Die Zustimmungsraten für Putin, ermittelt von unabhängigen Meinungsforschern, lagen in den letzten dreißig Jahren stets zwischen 60 und 90 Prozent. Die Annexion der Krim 2014 hat eine Welle der Begeisterung in der russischen Bevölkerung ausgelöst und sogar Putins prominentester Gegner, Alexei Nawalny, hat sich geweigert, klar Stellung dagegen zu beziehen. In der Wahrnehmung vieler ist Putin derjenige, der Russland vor dem wirtschaftlichen und politischen Zerfall nach der katastrophalen Erfahrung der 1990er Jahre bewahrt hat. Putin hat ihnen das Gefühl gegeben, wieder jemand zu sein. Russinnen und Russen werden die staatlichen Sanktionen des Westens im Alltag kaum merken. Allerdings wird es ihnen auffallen, dass Marken aus dem Kleider-, Unterhaltungs- und Technikbereich nicht mehr verfügbar sind. Wenn sie die Konsequenzen erleben, wird sich zeigen, ob Putins Unterstützung bröckelt.

F&L: Sie hatten die Gesetzesänderungen in Russland angesprochen, es ist nun etwa strafbar, den Ukrainekrieg als solchen zu bezeichnen...

Ulrich Schmid: Diese Sprachregelung, das Verbot des Wortes "Krieg", ist im Kontext einer ganzen Reihe von Maßnahmen zu sehen. Die russischsprachigen Dienste von BBC, Deutsche Welle und Radio Free Europe sind blockiert worden, Facebook und Twitter ebenso. Es geht darum, die Hoheit über die Deutung des Konflikts zu bewahren. In Russland erklärt die Propagandamaschine der breiten Bevölkerung seit langem, dass im Donbass Landsleute unterdrückt würden. Es wird schwierig sein, dieses Narrativ zu brechen. Über 7.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben einen Offenen Brief gegen den Einmarsch in die Ukraine unterzeichnet. Natürlich ist das nur ein Bruchteil der Gesamtbevölkerung von 140 Millionen, aber immerhin. Wann müssen wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Westeuropa schon gegen die ganze Macht des Staates für unsere Ideale einstehen? Die Unterschriften sind öffentlich einsehbar. Die Vergeltung kommt nicht sofort, aber sie droht und das schüchtert ein. Es werden harte Strafen für kleine Vergehen verhängt, auch wenn diese nicht flächendeckend durchgesetzt werden können. Es geht darum, Exempel zu statuieren. Peers sollen einander vor den Konsequenzen warnen, das ist effizienter als jede direkte Strafandrohung: Werbung für die Selbstdisziplinierung.

F&L: Die russischen Hochschulrektoren haben in einem Offenen Brief ihre Unterstützung für den Einmarsch in die Ukraine ausgedrückt. Wie beurteilen Sie dies?

Ulrich Schmid: Ich denke, dass einige russische Hochschulrektorinnen und -rektoren unter Druck oder aus vorauseilendem Gehorsam unterzeichnet haben, aber ich würde auch die patriotischen Überzeugungen innerhalb der russischen akademischen Landschaft nicht unterschätzen. Es gibt viele patriotisch eingestellte Rektoren, wie etwa der Rektor der Moskauer Staatlichen Universität. Inhaltlich ist die Erklärung der Rektoren natürlich skandalös. Gerade ihr Satz, dass die Universitäten immer dem Staat gedient hätten, ist für Westeuropäer problematisch, weil wir genau auf der akademischen Freiheit und der Unabhängigkeit der Universitäten vom Staat insistieren. Wir müssen an diejenigen Kolleginnen und Kollegen an den russischen Universitäten denken, die sich jetzt durch ein falsches Wort strafbar machen können.

F&L: Welche Folgen erwarten Sie für die Slawistik und Ukrainistik?

Ulrich Schmid: Der Austausch von Studierenden und Dozierenden wird leiden. Allerdings gibt es sehr viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aktuell aus Russland ausreisen, es wird also nicht an qualifizierten Kolleginnen und Kollegen in Europa mangeln. Die Feldforschung in der Ukraine ist ein weiteres Thema: In dem Forschungsprojekt zum Regionalismus in der Ukraine, das ich leite, haben wir vor 2014 in der gesamten Ukraine Befragungen und Fokusgruppen durchgeführt. Nach 2014 konnten wir nicht mehr auf die Krim oder in die besetzten Gebiete von Donezk und Luhansk. Das wird sich nun ausweiten auf das gesamte Land. Es wird enorm schwierig sein, die Identifikationen der Personen im Land selbst zu untersuchen. Wir werden uns mit Videointerviews behelfen und bereits bestehende Kontakte nutzen. Respondenten müssen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vertrauen, die ethnografische oder sozialanthropologische Forschung betreiben. Man kann ja nicht aus dem Nichts heraus Leute anrufen und sie fragen, wie sie sich zu den Okkupanten verhalten.