Ein Laptop vor dem eine Hand auf ein Papier mit Diagrammen zeigt.
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Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik
Kompetenzen respektieren, Grenzen beachten

Wie viel Wissenschaft braucht die Politik? Wie politisch dürfen Forschende sein? Ein Gespräch mit der Unirektorin und Ex-Ministerin Birgitta Wolff.

Von Claudia Krapp 10.05.2023

Forschung & Lehre: Frau Professorin Wolff, wo und wie sollte Wissenschaft öffentlich auftreten?

Birgitta Wolff: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind überall willkommen, aber sie sollten die richtige Flagge zeigen. Ich denke zum Beispiel an Veranstaltungen großer Forschungsinstitute zu Biodiversitäts- oder Klimaforschung. Da sollten Forschende teilnehmen, aber deutlich kennzeichnen, wo der politische Diskurs beginnt und sie als Bürgerin oder Bürger eine Meinung haben. Problembeschreibungen gehen häufig nicht nahtlos in politische Handlungsvorschläge über. Bei der Lösung sind Multidisziplinarität und politische Erfahrung gefragt. Wenn sich Einzelne mit konkreten politischen Forderungen in die Öffentlichkeit begeben, werden diese oft bestritten. Das kann negative Effekte auf das Gebiet haben, auf dem die Personen ihre Kernkompetenz haben. Zu versuchen, sich mit politischen Aussagen zu profilieren, die offensichtlich außerhalb der eigenen Expertise sind, ist riskant, weil es die Glaubwürdigkeit eines Wissenschaftlers oder einer Wissenschaftlerin beschädigen kann.

Portraitfoto von Prof. Dr. Birgitta Wolff
Die Wirtschaftswissenschaft­lerin Birgitta Wolff ist seit September 2022 Rektorin der Bergischen Universität Wuppertal. Zuvor war sie Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2010 bis 2013 war sie erst Kultus-, dann Wissenschaftsministerin in Sachsen-Anhalt. Michael Mutzberg

F&L: Das wäre ein eher indirekter Schaden. Gibt es auch direkte Schäden, wenn sich Forschende politisch äußern?

Birgitta Wolff: Wenn sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit sehr gutem Ruf politisch äußern, besteht die Gefahr, dass ihnen geglaubt wird und sich etwas, das sie ohne böse Absicht jenseits ihrer Expertise empfohlen haben, nachher als falsch erweist – etwa bei den Corona-Empfehlungen. Medizinerinnen und Mediziner sind beispielsweise nicht darauf geschult, Schäden in der Wirtschaft oder der Kinderbetreuung mit zu analysieren.

F&L: Bei welchem Anlass haben Sie zuletzt beobachtet, dass Wissenschaft oder Politik ihre Kompetenzen überschritten und Aufgaben des jeweils anderen übernommen haben?

Birgitta Wolff: In der Politik zum Beispiel, wenn Herr Lauterbach so tut als sei er noch immer Wissenschaftler. Seine Äußerungen stimmen mich oft nachdenklich. An dieser Schnittstelle sollte man immer sagen, in welcher Rolle man sich gerade sieht. Schwierig ist auch grundsätzlich, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum politischen Aktivismus übergehen, ohne das klar zu kennzeichnen. Zum Beispiel halten eine ganze Reihe Forschende in der Klima- und Nachhaltigkeitsdiskussion sehr gute Vorträge über Diagnosen, was passiert, wenn wir das 1,5 Grad-Ziel nicht erreichen oder die Biodiversität eingeschränkt wird. Deren politische Lösungsvorschläge sind mir aber häufig fachlich nicht genug hergeleitet. Als Gesellschaft können wir viel gewinnen, wenn alle die Grenzen der eigenen Kompetenzen stärker berücksichtigen und den Diskurs mit anderen suchen würden, statt jeweils allein vorzupreschen.

F&L: Inwieweit darf Politik in wissenschaftliche Belange eingreifen?

Birgitta Wolff: Politik meldet manchmal Wünsche an, was Universitäten tun sollen, etwa in der Lehrkräftebildung oder MINT-Forschung. Das ist völlig legitim, schließlich sorgt Politik mit ihrem demokratischen Mandat für die Budgets. Politik darf daher Herausforderungen formulieren, denen sich die Wissenschaft widmen soll. Allerdings ist eine Grenze überschritten, wenn konkrete Vorgaben zur wissenschaftlichen Agenda gemacht oder Wünsche zur Verengung auf bestimmte Technologien geäußert werden, zum Beispiel auf E-Mobilität. Das wäre ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit. Im Grunde – das versuchen Landesregierungen und Hochschulen zum Beispiel bei Hochschulpakten oder Zielvereinbarungen auszuhandeln – muss man sich über Herausforderungen auf einer relativ abstrakten Ebene verständigen, ohne kleinteilige Vorgaben. Wissenschaft funktioniert nicht als Lieferquelle für Auftraggeber wie etwa Amazon, wo man sich Pakete konkret befüllen lassen kann.

F&L: Wie kann man sicherstellen, dass die Grenzen eingehalten werden?

Birgitta Wolff: Da erinnere ich gerne an Niklas Luhmann, dessen Logik zum Verständnisproblem zwischen Politik und Wissenschaft auch meiner Erfahrung aus drei Jahren in der Politik entspricht: In der Politik suchen wir nach Mehrheiten und in der Wissenschaft nach Wahrheiten. Das ist nicht immer deckungsgleich. Wir glauben in der Wissenschaft, dass das, was wir für Wahrheiten halten, breite Zustimmung finden müsse, aber mitunter sind Wahrheiten sehr um die Ecke gedacht. Ein kurzfristiger Druck, Wahlstimmen zu bekommen, herrscht beispielsweise in der Wirtschaftsförderung. Politik muss bei der Investition in Jobs eine Übersetzungsleistung bringen und die Entscheidung ihrer Wahlklientel verkaufen. Das sind ganz mühsame Argumentationsprozesse, auf die sich an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik alle einlassen müssen, um nicht in Kurzfristigkeitsfallen zu laufen.

F&L: Könnte die Wissenschaft bei dieser Übersetzungsleistung mehr beraten?

Birgitta Wolff: Es geht nicht um mehr Beratung. Wir in der Wissenschaft sind noch nicht gut darin, unsere Erkenntnisse so zu verpacken, dass Politik etwas damit anfangen kann. Wir neigen dazu, lange komplizierte Stories aus unserer Perspektive zu erklären, statt selbst zu übersetzen. Viele Forschende sind es auch nicht gewohnt, Dilemmastrukturen aufzuzeigen. Wenn wir in Wissenschaft und Politik unsere Funktionslogiken wechselseitig in die Sprache der anderen übersetzen würden, könnten wir anders diskutieren. Die Absolutheitsansprüche, die manche in Diskurse einbringen, wären dann schwieriger aufrechtzuerhalten. Darauf sind wir noch nicht gut trainiert.

"Viele Forschende sind es nicht gewohnt, Dilemmastrukturen auf­zuzeigen."

F&L: Wie kommunizieren Sie selbst, wenn Sie in der politischen Arena Ihre Ziele als Rektorin umsetzen wollen?

Birgitta Wolff: Meine Lieblingsfrage ist: Für welches Problem suchen wir gerade eine Lösung? Dieses Zurückgehen hilft häufig zu kategorisieren, sind wir in der Sprache der Wissenschaft oder haben wir zum Beispiel ein Effizienz- oder Vermittlungsproblem? Wenn man sich über die Art des Problems verständigt hat, ist es leichter, einen gemeinsamen Lösungsweg zu finden.

F&L: Welche politischen Aktivitäten würden Sie an Ihrer Hochschule nicht zulassen?

Birgitta Wolff: An der Bergischen Universität habe ich noch keine politischen Diskurse erlebt, bei denen ich in die Nähe des Gedankens, etwas nicht zuzulassen, gekommen wäre. Generell bin ich nicht für Tabuisierung von Diskursen in der Wissenschaft, solange sie nicht gegen verfassungsrechtliche Gebote verstoßen. Als Präsidentin der Frankfurter Goethe-Universität wurden mehrfach Forderungen von anderen an mich herangetragen, die bestimmte  Themen oder Positionen nicht auf dem Campus erörtert haben wollten. Ich habe stets dafür geworben, dass wir natürlich ein Ort zur Diskussion sind, aber nicht nach Stammtischregeln. An der Uni müssen kuratierte Austauschformen nach Spielregeln der Wissenschaft stattfinden. Sprich, man hört sich zu und formuliert rational begründete Argumente. Grundsätzlich gilt jedes Argument als falsifizierbar. Diese Spielregeln sollten die Leute internalisiert haben, dann ist eine Menge schwieriger Themen diskutierbar. Jemanden auszuladen finde ich problematisch. Vielmehr sollte man sich überlegen, wie man die umstrittene Person oder Position in ein Panel oder anderes Format einbindet. Wenn man andere Auffassungen hat, wäre das die beste Chance, vor Publikum in den Wettstreit der Argumente einzutreten. Gerade an Universitäten sollte man dem zwang­losen Zwang des besseren Arguments, nicht des lauteren, eine Chance geben.

F&L: Wenn Sie mit der Politik zu tun haben, wo ziehen Sie die Grenze zu ihrem Kompetenzbereich?

Birgitta Wolff: Ich erlebe das ziemlich unkontrovers. Die Landesregierung in NRW ist wie andere Länder unter Druck, die Zahl der Lehramtsstudienplätze zu erhöhen, in der Hoffnung, mehr Personal für den Schuldienst zu bekommen. Die Politik macht uns hier eine Vorgabe, bietet aber auch die Finanzierung für die zusätzlichen Studienplätze an. Das ist eine Sprache, die wir verstehen. Wenn sie uns sagen würde, bildet weniger anderes aus, dafür mehr Lehramt – das kriegen wir kurzfristig nicht hin, weil wir nicht ad hoc zum Beispiel 25 BWL-Professuren abschaffen können, um 25 Lehramtslehrstühle einzurichten. Da sind die Landesregierungen sehr wohl in der Lage, sich auf die Funktionslogik des Wissenschaftssystems einzustellen. Andere Versuche à la "ihr müsst mehr in den Ingenieur- und dafür weniger in den Geistes- und Sozialwissenschaften ausbilden" führen meist zu nichts, weil erstens die Mannschaften an den Hochschulen feststehen und man zweitens Studierenden nicht vorschreiben kann, was sie studieren sollen.

F&L: Zu Beginn der Corona-Pandemie kam es vor, dass primär Epidemiologen und Virologen von der Politik gehört wurden. Wie kann die Stimme "der Wissenschaft" besser die Vielfalt der Fächer widerspiegeln?

Birgitta Wolff: Politik ist inzwischen sehr gut darin, schnelle Informationskanäle in die Wissenschaft zu finden. Diese haben oft einen Bias, weil ein Politiker oder eine Politikerin gezielt eine bestimmte Adresse anfragt – entweder ein selbst zusammengestelltes Gremium oder eine persönliche Vertrauensperson aus der Wissenschaft. Daneben gibt es von der Wissenschaft selbst gesteuerte politische Beratungsstrukturen, in die ich noch mehr Vertrauen habe hinsichtlich der wissenschaftlichen Fundierung und disziplinären Breite. Das ist zum Beispiel die Nationale Akademie Leopoldina, die dafür da ist, die Stimmen aus der Wissenschaft überfachlich zu bündeln. Sie beruft Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die eine besonders hohe Reputation und dadurch viel zu verlieren haben, wenn sie wissenschaftlichen Murks machen. Bei den inzwischen gängigen Ad-hoc-Stellungnahmen bemüht sich die Leopoldina um renommierte Leute aus den einschlägigen notwendigen Fächern und beauftragt sie, ein kurzes politisches Beratungspapier zu schreiben. Diese Papiere sind nachher auch umstritten, aber in der Regel eher in der Politik als in der Wissenschaft.

F&L: Hat die Politik in der Pandemie die Stimmen aus der Wissenschaft in ihren daraus erwachsenen Maßnahmen ausgewogen wahrgenommen?

Birgitta Wolff: Solche Papiere wurden in den verantwortlichen Ressorts, Ministerien und Büros der Abgeordneten zumindest zur Kenntnis genommen. Zudem gab es Kurzformen und Argumentationspapiere für Bundestagsausschüsse, Ressortberatung oder ressortübergreifende Absprachen. Den Gestaltungsvorschlägen wurde aber nicht immer eins zu eins gefolgt. Manches, was wissenschaftlich geboten zu sein scheint, stößt in der Politik auf eine andere Logik. Vielleicht ist es zu teuer oder es besteht nicht die administrative Power, die Dinge umzusetzen. Da gibt es nachvollziehbare Gründe und Interessenkonflikte, Politik ist aber genau wie Wissenschaft unter Zugzwang, diese offenzulegen.

F&L: Politik begründet ihr Handeln inzwischen gerne mit "evidenzbasierten" Argumenten. Ist das eine Art Herausreden aus dem Versuch, ihre Maßnahmen zu erklären?

Birgitta Wolff: Es ist sensationell, dass Politik jetzt zumindest teilweise den Begriff "evidenzbasiert" als Adelung ihrer Arbeit auffasst. Wissenschaft hat Jahrzehnte um eine Vorstellung von Evidenzbasierung in der Politik gekämpft. Aber man muss zwischen den Arten von Evidenz unterscheiden – Situationsbeschreibungen oder Korrelationen oder tatsächliche Kausalketten. Nur aus Kausalargumentationen kann man mit einer hinreichenden Treffsicherheit Maßnahmen ableiten, aber diese liegen häufig nicht vor. Eine Menge von dem, was in der Corona-Politik als evidenzbasiert verkauft wurde, war im kausalanalytischen Sinne nicht evidenzbasiert. Dafür war das Thema zu neu. Ich bewundere Politik mitunter für ihren Mut, trotz fehlender Evidenz zu entscheiden, weil entschieden werden muss. Wissenschaft sollte sich hinterher nicht zum Richter aufspielen, sondern "Lessons learnt" analysieren, ohne Vorwürfe gegen diejenigen, die die Entscheidung treffen mussten.

"Es ist sensationell, dass Politik jetzt teilweise den Begriff ›evidenzbasiert‹ als Adelung ihrer Arbeit auffasst."

F&L: Der Dialog von Wissenschaft und Politik wird von der Öffentlichkeit beobachtet. Inwiefern ist das jeweilige Handeln und Verstehen nach Außen erklärbar?

Birgitta Wolff: Öffentlichkeit und Medien sind oft in der Rolle der Schiedsrichtenden. Weil Politik von Wahlstimmen abhängt, sagen einige Wissenschaftsorganisationen, dass Politik- und Öffentlichkeitsberatung zusammengehören. Forderungen nach besserer Wissenschaftskommunikation wie von Anja Karliczek sind eine Folge der Beobachtung, dass Politik zwar mit Wissenschaftsargumenten arbeiten kann, dabei aber ein Vermittlungsproblem in die Wählerschaft hat. Ich habe die Forderung nach besserer Wissenschaftskommunikation stets so verstanden, dass die Politik will, dass Wissenschaft ihr dabei hilft, die wissenschaftlich fundierten Argumente auch politisch kommunizierbar zu machen. Gute Wissenschaftskommunikation heißt im Übrigen nicht mehr Kommunikation, sondern eine für die Zielgruppe verständlichere.

F&L: Wo finden Sie Distanz zwischen Wissenschaft und Politik wichtig und wo ist Nähe hilfreicher?

Birgitta Wolff: Nähe gibt es vor allem auf individueller Ebene. Mein Eindruck ist, dass nicht die Wissenschaft am einflussreichsten ist, die auf der Titelseite der Bild-Zeitung steht, sondern die, deren Protagonistinnen und Protagonisten mit ihren Handynummern in Telefonen der Politik stehen. Diese Nähe führt wieder zu besagtem Bias-Problem, aber wenn sie sich ergänzend die aus der Wissenschaft selbst gesteuerten Ratschläge anhören – vom Sachverständigenrat, der Leopoldina oder anderen in der Wissenschaftscommunity angesehenen Kanälen –, ist Nähe in Ordnung. Distanz und Vorsicht ist immer dann geboten, wenn Politik versucht, Wissenschaft zu vereinnahmen, also für Entscheidungen verantwortlich zu machen. Umgekehrt sollte sich Politik nicht in konkrete wissenschaftliche Methoden- und Technologiefragen einmischen. Nähe und Distanz haben auch etwas mit Transparenz und Compliance bei Finanzierungs- und Auftragsstrukturen zu tun. In der deutschen Wissenschaft sind wir auf Geld aus der Politik angewiesen und laufen dadurch Gefahr, als käuflich zu gelten, gerade wenn es Studien jenseits der normalen institutionellen Finanzierung sind. Daher muss man in der Auftragsberatung und -forschung alle Quellen offenlegen.

F&L: Klaffen Wunsch und Realität hier weit auseinander?

Birgitta Wolff: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untereinander sind da sehr empfindlich. Meistens sind Fördermittel und potenzielle Interessenskonflikte in einer Fußnote vermerkt. Trotzdem kommt es ab und zu vor, dass Geldquellen nicht transparent gemacht werden. Manchmal ist es aufschlussreich zu erfahren, wer von wem Geld oder auch kein Geld bekommen hat. Es lohnt sich, nochmal eine Bestandsaufnahme zu machen. Wissenschaftsstiftungen wie die Mercator-Stiftung oder die Volkswagenstiftung gelten als relativ unverdächtig, aber je näher sie an dezidierte politische oder wirtschaftliche Interessen kommen, desto stärker wird der Verdacht, dass etwas vereinnahmt werden könnte. Die Finanzierungsquelle macht mitunter auch einen Unterschied, das sieht man an den Studien verschiedener parteinaher Stiftungen.