Im Oktober demonstriert eine junge Frau in Paris und hält ein Plakat hoch auf dem eine gezeichnete Frau gekleidet in den Farben der iranischen Flagge ihre Haare abschneidet.
picture alliance / Hans Lucas | Xose Bouzas

Proteste im Iran
Studierende fordern im Iran Systemwechsel

Im Iran sind auch Hochschulangehörige an dem Aufbegehren gegen die Regierung beteiligt. Sie fordern Freiheits- und Menschenrechte.

Von Charlotte Pardey 08.11.2022

Forschung & Lehre: Dr. Sydiq, im Iran gibt es eine lange Tradition des Widerstands gegen das Regime. Können Sie erklären, was den aktuellen Aufstand besonders macht?

Tareq Sydiq: Bereits die Proteste 2017 überraschten viele Iraner und Iranerinnen: Sie waren dezentraler, in ländlicheren und ärmeren Gegenden und radikaler als vorherige Protestwellen. Dieses Muster hält seitdem an: Es sind immer mehr Gruppen, die gegen das Regime protestieren und dabei immer weniger Hoffnung auf Veränderung aus dem System heraus zeigen. Die über Jahre angestaute Enttäuschung, nicht zuletzt durch den mit der Präsidentschaft von Ebrahim Raisi seit letztem Jahr noch verschärften innenpolitischen Kurs, äußert sich zunehmend in der Forderung nach einem Systemwechsel.  Der Tod der jungen Frau Jina Mahsa Amini, die Mitte September wegen eines angeblich nicht angemessen getragenen Schleiers in Haft genommen und dort vermutlich so misshandelt wurde, dass sie daran starb, macht viele Menschen wütend und bringt sie auf die Straßen. Diese Wut trifft dabei auf ein System, das sich im selben Zeitraum gegen Umstürze abgesichert hat.

F&L: Warum ist das iranische Regime trotzdem so widerstandsfähig gegen Proteste des Volkes? Welche Machtstrukturen stehen dahinter?

Tareq Sydiq: Aus Angst vor potenziellen Überläufern und Uneinigkeit in den eigenen Reihen wurden ebendiese geschlossen und moderate Stimmen marginalisiert. Gleichzeitig wuchs der Einfluss von Sicherheitskräften auf die Politik, deren Führungen streng nach Loyalität gegenüber Ajatollah Ali Chamenei, dem geistlichen Führer des Landes, ausgewählt werden. Das Regime gibt so zwar politische Überzeugungskraft auf, muss aber kaum fürchten, dass Sicherheitskräfte auf die Seite der Protestierenden wechseln – der kurzfristige Machterhalt ist abgesichert auf Kosten mittel- und langfristiger Stabilität.

Portraitfoto von Dr. Tareq Sydiq
Dr. Tareq Sydiq ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg, wo er zu Protestbewegungen im Autoritarismus forscht.

F&L: Inwieweit sind Studierende an den Demonstrationen beteiligt und mit welchen Folgen?

Tareq Sydiq: Studierende spielten bei allen großen Protestbewegungen im Iran eine zentrale Rolle. Bereits 1979 bei der islamischen Revolution mobilisierten und organisierten sie Proteste. Ebenso spielten sie 1999 eine zentrale Rolle während der Proteste und 2009 während der sogenannten "Grünen Bewegung". Auch aus dieser historischen Erfahrung heraus dürfen Sicherheitskräfte Universitäten im Iran nicht betreten. Das hält natürlich in den aktuellen Protesten Zivileinheiten und paramilitärische Gruppen nicht davon ab, Studierendenproteste zu unterdrücken, es erlaubt Studierenden aber eine relative Organisationsfreiheit verglichen mit anderen Bevölkerungsgruppen. Sie können so häufig andere Protestbewegungen unterstützen. Gleichzeitig gelten sie schnell als Organisatoren von Protest und unliebsame Intellektuelle – bei Protesten werden sie daher häufig "präventiv" auch außerhalb der Hochschulen festgenommen, unabhängig davon, ob sie nun politisch aktiv waren oder nicht.

F&L: Welche Rolle spielen die Hochschulen, ihre Leitungen, sowie Professorinnen und Professoren?

Tareq Sydiq: Die Hochschulleitungen stehen unter starken Druck. Sie werden auf politische Loyalität geprüft und überwacht und häufig gezielt nach politischen Motiven eingestellt. Wer sich zu lautstark für die Studierenden einsetzt und das Regime kritisiert, ist von Hausarrest und Kündigung bedroht – so erging es beispielsweise vielen der Unterstützer und Unterstützerinnen der Grünen Bewegung. Im Anschluss an die iranische Präsidentschaftswahl von 2009, als dem Amtsinhaber Mahmud Ahmadineschad die absolute Stimmenmehrheit zugeschrieben wurde, protestierten sie in Teheran und anderen großen Städten gegen das Ergebnis. Die Unterstützung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sieht daher oft subtiler aus: Sie engagieren sich, indem sie ihre Studierenden nicht an Sicherheitskräfte verraten oder sich gegen Exmatrikulationen politisch aktiver Studierender einsetzen. Da gerade Haftstrafen häufig erst nach Abschluss des Studiums umgesetzt werden, sind Exmatrikulationen ein politisch besonders brisanter Prozess.

F&L: Welche Folgen könnten die Proteste für die iranische Gesellschaft haben, insbesondere für die Frauen?

Tareq Sydiq: Einige der zentralen Folgen der Proteste sind bereits jetzt sichtbar: Nachdem im Dezember 2017 im Zusammenhang von Protesten gegen die wirtschaftliche Situation und die Unwilligkeit zu politischen Veränderungen einige Frauen das Kopftuch demonstrativ als Protestform abnahmen, legten es einzelne Frauen auch im öffentlichen Alltag ab. Dies blieb aber eine Randerscheinung. Jetzt sieht es vielmehr nach einer Massenbewegung aus, die den Tabubruch längst hinter sich gelassen hat und diese Form des Alltagswiderstands als Massenprotest möglich macht. Einen Hijab-Zwang gegen solche Widerstände durchzusetzen, wird höchstens lückenhaft möglich sein, wenn überhaupt – nicht aus Kompromissbereitschaft, sondern weil das Regime keine Kapazitäten hierfür hat. Ähnlich wurde ja bereits das Verbot für Satellitenschüsseln de facto außer Kraft gesetzt, weil die Umsetzung dieses Gesetzes nicht praktikabel war.

F&L: Haben die Protestierenden eine Chance, etwas zu verändern? Einen die Proteste das iranische Volk oder spalten sie es eher?

Tareq Sydiq: Ob die Proteste auch das System verändern können, wird stark davon abhängen, ob sie eine landesweite Streikbewegung produzieren können und wie geschlossen das Regime bleibt. Sollten die aktuellen Streiks sich über die mehrheitlich kurdischen Gebiete und einzelne Sektoren hinaus ausbreiten, stünde das Regime vor einer kaum zu kontrollierenden Protestbewegung: Demonstrierende zu vertreiben, ist mit Gewalt leichter umsetzbar, als Arbeiter und Arbeiterinnen dauerhaft zur Arbeit zu zwingen. Und je länger die Proteste anhalten und je organisierter diese aussehen, desto größer wird der Druck auf die niedrigeren Ränge innerhalb des Machtsystems werden. Wenn es so aussieht, als hätten diese mehr zu verlieren als durch ihre Loyalität zu gewinnen, könnten sie die Seiten wechseln oder sich ins Ausland absetzen. Auf eine Demoralisierung und Spaltung der Protestierenden hofft aber gleichzeitig auch die Regierung und versucht diese durch gezielte Repressionen und Verhandlungen zu befördern. Der Ausgang der Proteste wird in diesem Kräftemessen entschieden werden.

F&L: Können wir in Deutschland etwas tun, um das iranische Volk zu unterstützen?

Tareq Sydiq: Protestbewegungen und Revolutionen werden erstmal grundsätzlich lokal entschieden, internationale Unterstützung spielt eine eher geringe Rolle. Trotzdem kann diese unterstützend wirken: Etwa indem Menschenrechtsverletzungen klar benannt und mit gezielten Sanktionen gegen Beteiligte geahndet werden. Ebenso können Verfolgte besser geschützt werden. Seit Jahren sitzen Oppositionelle, die vor Repressionen geflohen sind, in Nachbarländern ohne Bleibeperspektive fest. In diesen Ländern sind häufig iranische Geheimdienste tätig und bedrohen die Oppositionellen. Ein humanitäres Visum könnte ihnen helfen und gleichzeitig die iranische Zivilgesellschaft unterstützen. Schließlich kann der Internetzugang im Iran, beispielsweise durch eine verbesserte VPN-Infrastruktur, gefördert werden. Hier spielt sicherlich auch ein konsequenteres Kooperationsverbot mit iranischen Internetfirmen eine Rolle, die am Aufbau von digitalen Repressionsstrukturen beteiligt sind.

Vom Interviewten ist das Buch "Autoritäre Interessenaushandlung. Wie Iraner*innen Politik innerhalb autoritärer Rahmenbedingungen gestalten", Springer 2022, erschienen.