Schwarze Protestanten schwenken eine USA-Flagge mit einem Faussymbol gegen Rassismus
mauritius images / MediaPunch Inc / Alamy

Struktureller Rassismus
Wie Rassismus die USA spaltet

Nach dem Tod von George Floyd protestieren die Menschen in den USA gegen Rassismus und Polizeigewalt. Daran ist einiges neu, sagt Christian Lammert.

Von Claudia Krapp 11.06.2020

Forschung & Lehre: Herr Lammert, Sie untersuchen seit Langem die politische Lage in den USA. Sind Sie überrascht von der Entwicklung der aktuellen Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt?

Christian Lammert: Natürlich ist man erstmal überrascht, wenn man das Ausmaß und auch die Intensität der Proteste und auch die Reaktionen des Sicherheitsapparates sieht. Mit Blick auf den strukturellen Rassismus und die sich immer widerholende Polizeigewalt gegen Minoritäten und insbesondere Afro-Amerikaner war es aber eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis sich die Wut und Angst erneut entlädt. Was sich momentan in den USA zeigt, ist kein neues Phänomen, weder der strukturelle Rassismus noch die Polizeigewalt gegen Schwarze. Durch die sozialen Medien ist diese Gewalt aber immer sichtbarer und für eine breite Öffentlichkeit erlebbarer geworden, was sicherlich auch dazu beiträgt, dass die Öffentlichkeit gerade in der Art und Weise reagiert, wie wir es sehen. Es deutet sich an, dass der Protest länger anhält und sich auch in politische Reformen umsetzen kann. Das liegt auch am laufenden Präsidentschaftswahlkampf, der die politischen Akteure dazu zwingt, eindeutig Position zu beziehen.

"Es deutet sich an, dass der Protest länger anhält."

Christian Lammert ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Systeme Nordamerikas an der Freien Universität Berlin. Georg Lopata

F&L: Sind die antirassistischen Proteste Ihrer Ansicht nach also in eine neue Phase übergegangen? Was ist dem vorausgegangen?

Christian Lammert: Direkter Auslöser ist sicherlich die sichtbare Polizeigewalt gegenüber George Floyd. Man muss dies aber als eine Art Endpunkt einer längerfristigen Entwicklung von Polizeigewalt und strukturellem Rassismus in den USA sehen, die nun wie gesagt im Kontext von Social Media noch viel präsenter geworden ist. Zudem sehen wir gerade in den USA eine Überlagerung verschiedener Krisen: neben dem strukturellen Rassismus im Polizeiapparat erleben die USA gerade eine Wirtschaftskrise und eine Gesundheitskrise im Kontext der Covid-19-Pandemie. Und deshalb kann auch von einer neuen Phase gesprochen werden. Von allen Krisen sind Minoritäten und insbesondere Afro-Amerikaner überproportional betroffen. Das gilt für Arbeitslosenzahlen aber auch Infektionsraten und Todeszahlen in der Pandemie. Das verweist deutlich auf den größeren Kontext des strukturellen Rassismus in den USA, der weit über die Polizeigewalt hinausgeht und auch Bildungschancen sowie den Zugang zu ökonomischen und sozialen Ressourcen betrifft. Wir sehen momentan auch eine hohe Intensität, Stabilität und Organisation des Protests, die es wahrscheinlich macht, dass die Politik reagieren wird und grundsätzliche Reformen angeht. In vielen Städten und auch auf der Bundesebene werden bereits Reformen des Polizeiapparates diskutiert. Dabei geht es insbesondere um die Militarisierung und Überfinanzierung der Polizei, die sich in Folge des Kriegs gegen die Drogen und den Terror etabliert hat. Hier sollen die Prioritäten in den Städten neu ausgerichtet werden: Der Fokus der lokalen Politik soll weg von einer Priorisierung der Sicherheitspolitik hin zu einer Stärkung lokaler Gemeinschaften, Sozialarbeit und Gesundheitsversorgung verschoben werden. 

F&L: Welche Rolle spielt die Corona-Pandemie bei dieser Entwicklung?

Christian Lammert: Die Covid-19-Pandemie spielt hier eine zentrale Rolle. Wie durch ein Brennglas werden hier die unterschiedlichen Dimensionen des strukturellen Rassismus in den USA deutlich. Zugangschancen zur Gesundheitsversorgung sind in den USA ungleich verteilt und Afro-Amerikaner sind überproportional nicht krankenversichert. Zudem leiden sie häufiger an chronischen Krankheiten, weil sie häufiger als Weiße in Armut leben, schlechtere Bildungschancen haben und in Gegenden wohnen, in denen der Zugang zu gesunden Nahrungsmitteln begrenzt und die Umweltverschmutzungen hoch sind. Diese strukturellen Nachteile erklären die hohen Infektions- und Todesraten von Afro-Amerikanern in der Corona-Pandemie. Die Wahrscheinlichkeit, an dem Coronavirus zu sterben, ist bei Afro-Amerikanern deutlich höher als bei der weißen Bevölkerung. Wie bei der Polizeigewalt zeigt sich auch hier ein struktureller Rassismus, der Leben bedroht und beendet.      

F&L: Bereits in seinem ersten Wahlkampf hat Donald Trump sich wiederholt rassistisch geäußert, inzwischen ist dieser Ton von ihm "normal". Bei den aktuellen Protesten hat er offen zu mehr Gewalt aufgerufen. Gibt es eine Eskalation in der rassistischen "Vorbildfunktion" des Präsidenten?

Christian Lammert: Präsident Trump spielt eine ganz zentrale Rolle. Im Kontext einer extrem polarisierten Gesellschaft spaltet er mit seiner Rhetorik und Politik weiter. Er versucht erst gar nicht, als Präsident aller Amerikaner aufzutreten. Und auch in den jüngsten sozialen Unruhen zeigt er wenig Verständnis oder Empathie mit den Opfern und den Protestlern. Ganz im Gegenteil, er befeuert die Proteste durch Schuldzuweisungen und inszenierter Politik, die der Mobilisierung seiner eigenen Wählerbasis dient und die Gesellschaft weiter spaltet. Exemplarisch hat sich dies auch nach dem Tod von George Floyd gezeigt. Trump agierte hier sehr defensiv und hat sich nicht direkt an die Familie und Hinterbliebenen von Floyd gewandt. Er hatte das Problem des strukturellen Rassismus nicht wirklich thematisiert und sich auf die ökonomische Bilanz seiner ersten drei Amtsjahre konzentriert, von der auch die Afro-Amerikanische Bevölkerung profitiert habe. Insgesamt aber haben Präsidenten eher eine symbolhafte Bedeutung in solchen Krisen. Durch ihr Auftreten können sie Spannungen vermindern und das Problem auf die politische Agenda setzen. Die Umsetzung in notwendige Reformen Bedarf dann aber einer umfassenden Koalition ganz unterschiedlicher Akteure von der Bundes- bis zur lokalen Ebene. Und daran sind bis heute zumeist grundlegende und notwendige Reformen gescheitert, auch unter der Obama-Administration.     

"Insgesamt haben Präsidenten eher eine symbolhafte Bedeutung in solchen Krisen."

F&L: Auch in Deutschland haben die Ereignisse in den USA große Resonanz gefunden. Zehntausende gingen in mehreren deutschen Städten auf die Straße, teils mehr als nach rassistisch motivierten Straftaten in Deutschland. Inwiefern ist die Situation in den USA mit der in Deutschland zu vergleichen?

Christian Lammert: Die Solidarität mit den Opfern von Polizeigewalt und strukturellem Rassismus in den USA ist global. Sie formiert sich momentan so stark, weil die Gewalt in den USA sehr ausgeprägt, sichtbar und mit einer langfristigen historischen Perspektive einhergeht, die bis zur Sklaverei und damit der Staatsgründung der USA zurückreicht. Gleichzeitig sehen sich alle westlichen Demokratien momentan im Zuge von Flüchtlingsbewegungen und Globalisierung mit einem erstarkten rechtsradikalen Populismus konfrontiert, der ausländerfeindlich und rassistisch ist. Morde mit rechtsradikalem und ausländerfeindlichem Hintergrund sind in Deutschland inzwischen keine Ausnahmen mehr. Und auch in der Polizei und im Militär sehen wir immer mehr Anhänger rechtsradikaler Positionen. Insgesamt ist aber im öffentlichen und politischen Diskurs und innerhalb der politischen Eliten in Deutschland im Vergleich zu den USA, die Akzeptanz solcher Positionen noch deutlich geringer ausgeprägt.     

F&L: Die amerikanischen Universitäten legen sehr viel Wert auf "affirmative action", sogenannte positive Diskriminierung. Wie reagieren diese auf die aktuelle Situation in den USA?

Christian Lammert: Die Universitäten reagieren momentan noch eher zurückhaltend, was vielleicht auch an der Corona- Situation liegen kann. Zahlreiche Universitäten in den USA sind noch geschlossen oder organisieren analog zu Deutschland den Lehrbetrieb überwiegend digital. Das begrenzt natürlich den Raum für Aktionen, sowohl seitens der Wissenschaftler aber auch der Studierenden. Einige Universitäten haben Statements veröffentlicht, in denen die "Black Lives Matter"-Bewegung unterstützt und Rassismus in seinen unterschiedlichen Konnotationen verurteilt wird. Unter dem Hashtag #BlackintheIvory werden auf Twitter rassistische Erfahrungen an Universitäten in den USA thematisiert und diskutiert. Für den 10. Juni wurde eine lehrfreier Tag an den US-Universitäten ausgerufen, um über die gesellschaftlichen Integrationsprobleme und den strukturellen Rassismus in den USA reflektieren zu können. Insgesamt könnten sich die Universitäten hier sicherlich noch deutlicher positionieren und artikulieren.