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Mobilität
Das BahnComfort-Abteil als Ort der Universität

In ihrer Rolle als "akademische Nomaden" haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen Treffpunkt in Deutschland: die Bahn!

Von Ina Lohaus 30.05.2019

Forschung & Lehre: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind immer häufiger unterwegs: zwischen Wohnort und Universität, zu Konferenzen u.ä. Ist die Reisezeit verlorene Zeit oder lässt sich produktives Arbeiten auch in ein Zugabteil verlegen?

Philipp Hübl: Meine Fahrten kann ich gut zum Arbeiten nutzen und war in den zwölf Jahren, in denen ich gependelt bin, immer in guter Gesellschaft. Damals ähnelte das BahnComfort-Abteil oft einer Miniatur-Universität. Überall hochgeklappte Laptops, die reisenden Akademikerinnen und Akademiker lasen Bände von Suhrkamp und Reclam, PowerPoint-Folien von Vorlesungen bekamen den letzten Schliff. Manchmal diskutierten an einem Tisch vier Leute gleichzeitig über einen großen Forschungsantrag.

F&L: Macht Bahnfahren kreativ?

Philipp Hübl: Der Zug ist für mich ein Ort der kreativen Meditation. Während draußen die Welt vorbeizieht, gehen die Gedanken auf Wanderschaft. Kein Institutstermin steht an, niemand klopft an die Bürotür. Das löchrige Mobilnetz und das langsame WLAN sind ein Segen, denn man kann in das kreative Zwielicht zwischen Konzentration und Tagträumerei eintauchen. Und wenn wirklich mal ein Kind schreit oder der Nachbartisch auf dem Betriebsausflug beim "Sektchen" zu laut kichert, hilft ein Antischall-Kopfhörer.

F&L: Welche Erfahrungen haben Sie mit Mitreisenden gemacht?

Philipp Hübl: Die Routiniers ertragen mit stoischer Ruhe, wenn der Zug Verspätung hat oder das Bordbistro geschlossen ist. Nur die Gelegenheitsfahrer suchen teils aggressiv nach Sündenböcken und machen das Bordpersonal dafür verantwortlich, wenn das Getriebe eine Störung hat.

F&L: Kann ein BahnComfort-Großraumabteil eines ICEs ein Intellektuellen-Café früherer Zeiten ersetzen?

Philipp Hübl ist Philosoph und war bis 2018 Juniorprofessor für Theoretische Philo­sophie an der Universität Stuttgart. Zuletzt erschien von ihm „Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Werte prägen und die Polarisierung verstärken.“ (C. Bertelsmann). (c)Juliane-Marie-Schreiber

Philipp Hübl: Früher, in den Cafés von Paris und Wien, hat der zwanglose Zwang der Innenarchitektur den kreativen Austausch ermöglicht, denn wenn es eng wird, kommt man mit den Tischnachbarn schnell ins Gespräch. Seit der Digitalisierung ist alles anders. Die Cafés im Prenzlauer Berg zum Beispiel sind erschreckend still, weil alle einsam auf ihre Macbooks und Smartphones starren. Angeregte Diskussionen hört man selten. Ganz anders im Bahnabteil: Zwischen Pendlern entstehen unwillkürlich interdisziplinäre Zufallsbekanntschaften. In der Uni hingegen weiß man oft nicht, woran die Kollegin nebenan forscht. Und gerade im informellen Rahmen kann Kreativität gut gedeihen: auf dem Institutsausflug oder eben im vollen Bahnabteil.

F&L: Was war Ihr "schrägstes" Erlebnis im Zug?

Philipp Hübl: Auf der Fahrt von Berlin nach Stuttgart verabredete sich ein junger Mann am Nachbartisch telefonisch zur Antifa-Demo am Wochenende ("aber keine Steine schmeißen, ich kann mir nichts leisten"), sprach danach einfühlsam mit seiner Großmutter und schließlich auf Englisch mit seinem Vater, den er bat, sich wieder mit der Mutter zu vertragen. Je näher wir Stuttgart kamen, desto mehr wandelte sich sein Berliner Zungenschlag ins Schwäbische. Später erzählte er einem Anrufer, dass er "18 Monate" bekommen habe, aber ganz zufrieden sei, weil der Staatsanwalt zwei Jahre gefordert hatte.

Am Montag müsse er im Gefängnis Stuttgart Stammheim vorstellig werden. Kurz vor Ankunft erhielt er seinen letzten Anruf. In geschäftlichem Tonfall bot er einer gewissen "Frau Schultheiß" an, ihr das Angebot für eine private Altersvorsorge zuzuschicken, inklusive Schutz gegen Berufsunfähigkeit.

Aus Forschung & Lehre 6/19