26. Februar 2022: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij spricht zwei Tage nach Kriegsbeginn in einer Videobotschaft per Smartphone aus Kiew zu seinen Landsleuten.
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Kommunikation und Inszenierung von Politikern
Das neue Schauspiel der Politik

Die Ansprachen von Politikern folgen in der Moderne einer spezifischen Form der Inszenierung. Wie hat sich die politische Kommunikation verändert?

Von Christian Kirchmeier 16.07.2022

Kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wandte sich Präsident Wolodymyr Selenskyj in zwei Videos an sein Volk und an die gesamte Weltöffentlichkeit. Das erste zeigt ihn gemeinsam mit ranghohen ukrainischen Politikern in Kiew, in dem zweiten steht er allein auf der Straße vor seinem Amtssitz. Beide Videos wurden auf Facebook veröffentlicht und sind in die Selfie-Kamera des Smartphones gesprochen, beide kommunizieren dieselbe Botschaft: Der Präsident ist noch in Kiew, und er kämpft gemeinsam mit dem ukrainischen Volk für Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie.

Diese Videos waren die ultimative Inszenierung des Authentischen. Ihre Rhetorik, ihre Rituale und Symbole hatten nichts mehr mit den konventionellen Mustern politischer Repräsentation zu tun. Die olivgrüne Militärkleidung, der Führungsanspruch im Kampf für die Ukraine, die Bedrohung für das eigene Leben, alles daran wirkte echt.

Ganz anders Putins Kriegserklärung in einem Video vom 24. Februar, in dem Putin hinter einem massiven Schreibtisch neben altertümlich anmutenden Telefonen sitzt, seine Finger auf die Tischplatte gelegt. Von den hypervirilen Inszenierungen früherer Videos war nichts mehr zu erkennen. Plötzlich wurde augenfällig, dass nicht nur die Telefonanlage, nicht nur das Geschichtsbild, sondern auch die Form von Putins politischer Kommunikation aus dem vergangenen Jahrhundert stammt.

"Plötzlich wurde augenfällig, dass die Form von Putins politischer Kommunikation aus dem vergangenen Jahrhundert stammt."

Seit Ausbruch des russischen Angriffskrieges kann man leicht vergessen, dass viele internationale Beobachter Selenskyj bei seiner Wahl im Jahr 2019 noch beargwöhnt hatten. Sein Politikstil wurde als eine neue Form des Populismus aufgefasst, und es lag nicht nur an seiner früheren Tätigkeit als Komiker, dass man ihn in eine Reihe mit Donald Trump und insbesondere Beppe Grillo stellte. Schon vor dem Angriff auf die Ukraine hat sich Selenskyj in Videos auf Facebook gezeigt, in denen er sich direkt an seine Wähler richtete. Er war in Alltagssituationen zu sehen: beim Spaziergang im Grünen, in den Straßen einer Stadt und vor allem beim Sport. Diese Videos hatten immer auch den Anschein der Pose eines sich volksnah gebenden Politikers. Bei aller inszenierten Authentizität sah man ihnen die Inszenierung des Authentischen auch an.

Das hat sich in der Situation des Krieges völlig geändert. Die Inszenierung verschwand hinter der Ansprache des Präsidenten an sein Volk, und Selenskyj wurde zum Gesicht der westlichen, freien Welt. Im Moment des Einbruchs der Kriegsrealität in den politischen Diskurs schien sich die Inszenierung schlagartig aufgelöst zu haben.

Dramaturgien der Authentizität

Der Authentizitätseffekt von Selenskyjs Videos bietet einen Anlass, sich noch einmal einem Grundproblem authentischer Kommunikation zuzuwenden. Dieses Problem besteht darin, dass sich Authentizität nicht kommunizieren lässt. Wer von sich behauptet, authentisch zu sein, macht sich gerade dadurch des Gegenteils verdächtig. Deswegen ist authentische Kommunikation ein paradoxes Unterfangen. Will man authentisch erscheinen, so muss man den Eindruck erwecken, ganz unverstellt zu sein, aber genau dieser Eindruck lässt sich nur durch inszenatorische Praktiken erzeugen.

Die Unmittelbarkeit der Ansprache ist die vermutlich wichtigste dieser inszenatorischen Praktiken. Sie soll verhindern, dass die Botschaft auf dem Weg durch einen Kommunikationskanal von Dritten manipuliert wird. Schließlich kann man nie ganz sicher sein, dass Boten nicht auch eigene Interessen verfolgen. Um Unmittelbarkeit zu inszenieren, müssen Mittlerinstanzen möglichst vermieden oder zumindest verborgen werden – etwa durch eine wackelnde Selfie-Kamera, die darauf aufmerksam macht, dass kein Filmteam im Hintergrund agiert.

"Um Unmittelbarkeit zu inszenieren, müssen Mittlerinstanzen möglichst vermieden oder zumindest verborgen werden."

In einer Zeit, in der man solchen medialen Dramaturgien permanent ausgesetzt ist, haben die traditionellen Inszenierungspraktiken der unmittelbaren Ansprache an Wirkungskraft verloren. Es treten deswegen immer weitere Verfahren hinzu, die die Dramaturgie der Authentizität supplementieren. Die Rhetorik, die Mise en Scène und die Kameraführung von Selenskyjs Videos, die den Einbruch der Kriegsrealität ständig präsent halten, stellen dabei eine besonders wirkungsvolle Form dar.

Sie sind aber nicht die einzige. Eine ganz ähnliche Funktion erfüllt, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die biographische Erzählung. Exemplarisch lässt sich diese Form an Arnold Schwarzeneggers Videoansprache vom 17. März 2022 an seine zahlreichen russischen Fans beobachten. In dem Video sitzt Schwarzenegger in einem Raum voller privater Erinnerungsstücke und erzählt die sehr persönliche Geschichte von der Begegnung mit seinem Jugendidol, dem sowjetischen Gewichtheber Juri Petrowitsch Wlassow. Schwarzenegger berichtet von den Auseinandersetzungen, die er mit seinem kriegstraumatisierten Vater hatte, und von seiner lebenslangen Bewunderung für das russische Volk. An einer Stelle hält er sogar die Kaffeetasse, die ihm Wlassow bei einem Treffen geschenkt hat, wie eine Reliquie in die Kamera.

Schwarzeneggers Video wirkt authentisch, weil es von seiner Lebensgeschichte ausgeht, die durch den auratischen Gegenstand zusätzlich bezeugt wird. Das Publikum soll glauben, dass hier ein echter Freund des russischen Volkes spricht und kein Interessensvertreter des Westens. Dieser Eindruck der Authentizität dient dann der Überzeugung des Publikums. Er eröffnet Schwarzenegger im zweiten Teil des Videos die Gelegenheit, seine russischen Fans über die Wirklichkeit des Krieges aufzuklären, die ihnen in den Staatsmedien verheimlicht wird.

Zwei Formen der Ansprache: Mimesis und Parabasis

Die Videos von Selenskyj und Schwarzenegger sind nur zwei Beispiele dafür, wie sich neue Inszenierungsformen des Authentischen in der Politik etablieren. Sie stehen stellvertretend für ein neues Schauspiel der Politik, das sich am besten verstehen lässt, wenn man die kommunikativen Formen des Theaters ernst nimmt. Im Schauspiel gab es nämlich immer schon zwei verschiedene Formen der Rede, die in ihrem Verhältnis zur Authentizität zwei polare Gegensätze darstellen. Die eine Form ist die mimetische Rede in einer Rolle. Wer mimetisch spricht, gibt vor, jemand anderes zu sein als der, der er in Wirklichkeit ist. Bei der mimetischen Rede besteht zwischen Rolle und Rollenträger also immer ein Unterschied, der dem Publikum auch stets bewusst ist, weil man sonst der Bühnenhandlung gar nicht folgen könnte.

Die Mimesis bot allerdings auch ein Einfallstor für eine moralische Beanstandung des Theaters. Von Platon über Rousseau bis zum Postdramatischen Theater wurde die mimetische Rede immer wieder einer Kritik an der Falschheit von lediglich gespielten Rollen unterworfen. "Die Schauspieler haben die Tendenz, falsch zu sein, während ihre Zuschauer echt sind", schreibt etwa ganz in diesem Sinne Elfriede Jelinek.

Nun gab es aber immer schon eine andere, weniger bekannte Form der Bühnenrede, bei der die 'falsche' Rollen­identität brüchig wird oder sich sogar ganz auflöst. Diese Form der Rede, die man parabatische Rede nennen könnte, beruht auf der direkten Ansprache an das Publikum. Der Begriff der Parabase geht dabei auf eine Theatertechnik der Alten Attischen Komödie zurück, bei der sich der Chor direkt an das Publikum wendet, dabei häufig die reale Politik anprangert und die geschmähten Politiker, die bei der Aufführung auch anwesend waren, bei ihren echten Namen nennt.

In einem etwas weiteren Sinn zählen zur Parabase all diejenigen Techniken in Theater und Film, mit denen die unsichtbare "vierte Wand" durchbrochen wird. Mithilfe der Parabase versetzt sich Kunst in die Lage, direkt auf die reale Wirklichkeit der Zuschauer Bezug zu nehmen. Bei der parabatischen Rede kommt es häufig vor, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler aus ihren Rollen fallen. Das Publikum bekommt dadurch den Eindruck, dass sich die Rollen auflösen. Es wirkt dann, als sprächen die Schauspieler als sie selbst statt in ihren mimetischen Rollen. Es ist dieser Echtheitseffekt, dieser scheinbare Bruch der Inszenierung – der in Wirklichkeit nur einer besonders ausgefeilten Dramaturgie folgt –, den sich Politiker wie Selenskyj oder Schwarzenegger zunutze machen.

Politik als episches Theater

In der deutschen Nachkriegspolitik war die parabatische Dramaturgie lange Zeit weniger ausgeprägt als in anderen Ländern. Allmählich jedoch scheinen sich auch hierzulande neue Formen authentischer politischer Rede zu etablieren, wie sich vor allem an Robert Habeck beobachten lässt.

Habeck, der mit seiner Frau Andrea Paluch bezeichnenderweise selbst ein Theaterstück geschrieben hat, wendet sich wie Selenskyj und Schwarzenegger immer wieder in Videoansprachen direkt an sein Publikum. Ein gutes Beispiel dafür ist das Video, das er am 20. März 2022 von seiner Reise nach Katar auf Instagram veröffentlichte.

In dem Video steht er mit hochgekrempelten Hemdsärmeln an der Küste von Doha und spricht sein Publikum per Du direkt durch die Kamera an. Diese Inszenierung macht sofort deutlich, dass hier nicht ein staatstragender Bundesminister, sondern der Mensch Robert Habeck spricht.

In dem Video betont Habeck permanent das Dilemma, in dem er sich befindet. Mehrfach thematisiert er den Widerspruch zwischen der politischen Notwendigkeit, eine kurzfristige Alternative zu russischem Gas zu finden, und den Sorgen um die Menschen- und Arbeitsrechte in Katar sowie um die Klimaneutralität. Er beendet das Video mit der Bemerkung, dass er diese Sorgen gegenüber der Regierung von Katar angesprochen und dadurch zu einer Verbesserung der Lage beigetragen habe.

"Robert Habeck hat eine ganz eigene, sehr deutsche Lösung gefunden, um sich als authentischer Sprecher zu inszenieren."

Man kann sich natürlich fragen, ob man dieser Schlussfolgerung zustimmen will oder nicht. Für die Inszenierung des Videos ist das Entscheidende da aber bereits geleistet. Habeck hat nämlich eine ganz eigene, sehr deutsche Lösung gefunden, um sich als authentischer Sprecher zu inszenieren. Wie Julian Müller und Astrid Séville im diesjährigen Februarheft des Merkur herausgearbeitet haben, besteht diese Lösung darin, das Dilemma, das Zögern und den Zweifel selbst auszustellen. Habeck trägt gewissermaßen seine persönlichen Gewissenskonflikte in der parabatischen Ansprache permanent öffentlich aus. Die typischen Habeck-Sätze sind häufig ein Effekt dieser Haltung – exemplarisch etwa in der Sondersitzung des Bundestags, in der Habeck über die politische Entscheidung zur Waffenlieferung sagte: "Sie ist richtig, aber ob sie gut ist, das weiß heute keiner. Ich weiß es auch nicht."

Weder im Berliner Reichstag noch an der Küste von Doha steht ein Lotse, der mit festem Blick den Weg in die Zukunft weist. Habeck gleicht vielmehr dem Schauspieler, der sich am Ende von Brechts Der gute Mensch von Sezuan in einer Parabase an das Publikum wendet: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen | Den Vorhang zu und alle Fragen offen." Der Mensch Robert Habeck ist ebenso selbstkritisch wie sein Publikum, und genau aus dieser Selbstkritik schöpfen seine Videoansprachen ihre Authentizität.

Die Beispiele von Selenskyj, Schwarzenegger und Habeck sind bei aller Unterschiedlichkeit ein Indiz dafür, dass sich gegenwärtig eine parabatische Dramaturgie in der Politik etabliert. Alle drei Politiker erzeugen ein bislang kaum bekanntes Ausmaß an Authentizität im politischen Diskurs. Insofern markieren ihre parabatischen Videos eine Zeitenwende auch der politischen Kommunikation, die gerade für Deutschland einschneidend ist. Vorbei scheinen die Zeiten, in denen politische Redner stets als Rollenträger aufgetreten sind. Heute fordert ein Teil der Öffentlichkeit – insbesondere aus der neuen, akademischen Mittelklasse – von Politikerinnen und Politikern eine Form von Authentizität ein, hinter der die Rolle zurücktritt, während das Rollensprechen zunehmend als unauthentisch und automatenhaft abgelehnt wird.

"Insofern markieren ihre parabatischen Videos eine Zeitenwende auch der politischen Kommunikation."

Vor allem Selenskyjs Auftritte haben dabei gezeigt, dass es falsch wäre, diese Veränderung prinzipiell abzulehnen. Das neue Schauspiel der Politik ist durchaus in der Lage, die Demokratie zu verteidigen. Wer weiß, wie es heute um das Schicksal der Ukraine stünde, wenn Selenskyj am 25. Februar 2022 keinen Gebrauch von der parabatischen Ansprache gemacht hätte. Wenn dieser Krieg allerdings vorbei ist, wird es auch wieder an der Zeit sein, einen distanzierteren Blick auf die Mechanismen zu werfen, mit denen Authentizität im politischen Diskurs erzeugt wird, und sich dabei vielleicht an die alte Erkenntnis zu erinnern, dass Macht oft dort am stärksten wirkt, wo die politischen Inszenierungen sie am geschicktesten verbergen.

Der Autor arbeitet in einer Forschungsgruppe der Gerda Henkel Stiftung zu neuen Formen der politischen Ansprache und Fürsprache.