Frieden und Sicherheit in Europa
Hic sunt dracones
Der russische Krieg in der Ukraine hat die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung in Schutt und Asche gelegt. Er zeigt uns, dass Frieden und Sicherheit in Europa nicht selbstverständlich sind, sondern immer wieder neu errungen werden müssen. Und dass wir alte Konzepte überprüfen und neue Ideen entwickeln müssen, um eine neue europäische Friedens- und Sicherheitsordnung zu entwerfen. Arbeiten aus der Friedens- und Konfliktforschung, aus der Politikwissenschaft und aus den Internationalen Beziehungen können hier Impulse und Orientierungen geben. Über die auf verteidigungspolitische Fragen reduzierte öffentliche Debatte um Lösungen für den Ukraine-Krieg hinausgehend kann diese Forschung den Diskursraum um wichtige Fragen erweitern. So liefert Forschung zu Kriegsverläufen und Friedensverhandlungen, zu Möglichkeiten und Grenzen internationaler Kooperation oder zu Formen der politischen Integration Europas stabile Erkenntnisse über notwendige Rahmen- und Erfolgsbedingungen einer neuen Ordnung.
"Der Krieg in Europa ist kein singuläres Ereignis, das die alte Ordnung unerwartet umstößt."
Der Krieg in Europa ist hierbei kein singuläres Ereignis, das die alte Ordnung plötzlich und unerwartet umstößt. Er wirkt eher wie ein Brandbeschleuniger für eine Neuordnung Europas und der Welt, die sich schon lange angekündigt hat. Anzeichen für eine turbulente Phase krisenhafter Umbrüche werden seit Jahren in der öffentlichen Debatte und in der Forschung verhandelt. Akute Krisen wie der Ukraine-Krieg und die steigende Anzahl an Gewaltkonflikten weltweit verbinden sich mit langsameren Umbrüchen wie dem Aufstieg populistischer und antidemokratischer politischer Strömungen und den globalen Herausforderungen des Klimawandels und der Pandemie. Diese globale Verdichtung und Verflechtung krisenhafter Momente und Entwicklungen stellt die bisherige Weltordnung vor eine existenzielle Herausforderung. Denn: In dieser Landschaft global verflochtener Krisen und Konflikte werden die bisherigen kooperativen Institutionen nicht in der Lage sein, nachhaltig für Frieden und Sicherheit in der Welt zu sorgen. Unter diesen Vorzeichen wird sich eine zukünftige europäische Friedens- und Sicherheitsordnung nicht nur nach innen, sondern auch nach außen neu ausrichten müssen.
Mit eigener Verfassung die EU stärken
Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass Europa sich politisch neu erfinden muss, um in einer krisenhaften Welt Bestand zu haben. Noch 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis für ihr Friedensprojekt der politischen Integration Europas nach innen. Derzeit ist die EU starken Fliehkräften unterworfen, die die politische Einheit dieses Projekts gefährden. Die lange stagnierende EU-Erweiterung unter anderem um die Staaten des Westbalkans und die Blockade zentraler politischer Vorhaben durch einige EU-Mitgliedsstaaten deuten auf eine Krise des Projekts der politischen Integration Europas hin. Unvollendet bleibt bis heute das Projekt einer europäischen Verfassung. Heute wäre es dringender geboten denn je, die gemeinsame Orientierung der EU auf demokratische Werte und Normen, auf Kooperation und auf Frieden in Europa in eine gemeinsame Verfassung zu gießen, um dieses Selbstverständnis erneut zu festigen. Dieser Krieg muss ein Weckruf sein, um der notwendigen tieferen politischen Integration Europas jetzt neuen Schwung zu verleihen. Europa muss sich hierbei auf seine Stärken besinnen, auf seine politische Integration nach innen, um auch nach außen stärker und einheitlicher auftreten zu können. Die Frage der zukünftigen europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung erschöpft sich daher nicht in der wohlbekannten Diskussion um die notwendige Entwicklung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und deren Beziehung zur Nato.
Es geht um viel mehr: um den gesellschaftlichen Frieden innerhalb der europäischen Gesellschaften, der durch den Krieg akut auf die Probe gestellt wird, – unter anderem durch die ungleich verteilten wirtschaftlichen Opfer für die Bevölkerungen der EU-Staaten. Und um das Verhältnis zwischen der zukünftigen EU-Erweiterungspolitik und der vertieften politischen Integration eines Kerneuropas. Vorschläge aus der Forschung – beispielsweise zu den Möglichkeiten einer differenzierten Integration der EU, zur Rolle von Dialog und Vertrauensbildung in der (gesamt) europäischen Sicherheitspolitik oder zur Förderung des gesellschaftlichen Friedens in Europa – können dazu beitragen, aktuelle Debatten über die Verteidigungsfähigkeit und Wehrhaftigkeit der EU um Bezüge zu erweitern, die auf den Aufbau einer nachhaltigen und inklusiven Friedensordnung in Europa zielen.
Europa ist keine Insel
Jede zukünftige europäische Friedens- und Sicherheitsordnung wird sich zudem in eine internationale Ordnung einbetten müssen, deren bisheriges Fundament nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Der Glaube an die Fähigkeit internationaler Institutionen, globale Probleme kooperativ zu bearbeiten, an Freihandel als Motor wirtschaftlicher Entwicklung und Weg zum Frieden und an die Stärke des Rechts, nicht das Recht des Stärkeren, wird nicht nur durch den Krieg in der Ukraine herausgefordert. Schon lange mehrt sich die Kritik an einer internationalen Ordnung, die die Interessen aufstrebender Staaten nicht angemessen berücksichtigt und insbesondere Staaten des Globalen Südens nicht gleichberechtigt beteiligt.
Europa ist keine Insel: Europa ist vielfach und eng mit dieser in die Jahre gekommenen und reformresistenten internationalen Ordnung verflochten. Und es ist bekannt, dass die globalen und planetaren Krisen unserer Zeit zwingend kooperative Antworten benötigen, die über rein regionale politische Gemeinschaften und Allianzen hinausgehen. Eine europäische Friedens- und Sicherheitsordnung kann daher nicht als geographisch abgeschlossenes Modell konzipiert werden, sondern muss auf globalen Austausch und Kooperation ausgerichtet sein. Gerade Fragen der globalen Gerechtigkeit, nicht nur im Rahmen der Entscheidungsfindung in internationalen Institutionen, sondern auch in Bezug auf den Umgang mit den Folgen des Klimawandels, mit Flucht und Migration und mit globaler Finanz- und Wirtschaftspolitik, werden hier zentral sein. Die Friedens- und Konfliktforschung hält einen umfassenden und gleichzeitig pragmatischen Friedensbegriff bereit, der als Basis für die Entwicklung einer neuen europäischen Friedensordnung dienen kann: "Frieden ist ein Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit", wie es Ernst-Otto Czempiel einst formulierte.
Zukunft ungewiss
Eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa liegt heute in weiter Ferne. Der Krieg geht mit aller Härte weiter. Und die zukünftig zu gestaltende Sicherheitslandschaft ist ein weitgehend unbekanntes Terrain, in dem Gefahren lauern, die noch nicht einzuschätzen sind. Zu ungewiss ist, welche Wege in der Zukunft realistisch eingeschlagen werden können, um jetzt schon Prognosen über die tatsächliche Ausgestaltung einer neuen Ordnung abzugeben. Aus der politikwissenschaftlichen Forschung zum Umgang mit Krisen können wir aber zwei – durchaus gegenläufige – Erkenntnisse ableiten, die gleichzeitig als Orientierung und Warnung auf diesem Weg dienen können.
Zum einen wissen wir, dass Krisenmomente zur Veränderung etablierter Problemwahrnehmungen, Routinen und Entscheidungswege führen können. So waren es häufig politische Krisen, die die Entwicklung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU vorangebracht haben. Allerdings werden Lösungen für neue Herausforderungen häufig nur im Rahmen etablierter institutioneller Pfade vorangetrieben, die nicht notwendig die besten Lösungen hervorbringen. Das Konzept der Pfadabhängigkeit verweist hier auf die Kraft selbstverstärkender Prozesse, die zur Erweiterung bereits bekannter politischer Lösungen führen, nicht aber zu einer vollständigen Neuorientierung auf einen anderen Pfad. Wir stehen heute an einer Weggabelung, an der bereits eingeschlagene Pfade verstärkt oder völlig neue Pfade – zum Guten wie zum Schlechten – betreten werden können.
"Nach Jahren des Abgesangs auf den Staat als zentralem politischen Akteur war er plötzlich wieder gefragt."
In solchen Zeiten der Ungewissheit wird politisches Handeln und Entscheiden zentral. Dies ist zweitens auch eine unerwartete Erkenntnis aus der Covid-19-Pandemie: dass Staaten immer noch politisch gestalten können, nicht nur moderieren. Nach langen Jahren des Abgesangs auf den Staat als zentralem politischen Akteur war er in der Pandemie plötzlich wieder gefragt. Staatliches Handeln zur Pandemieeindämmung war ungewohnt radikal, planvoll und schnell – wenn auch nicht immer von Erfolg gekrönt und durchaus umstritten. Es gibt keinen Grund, warum diese in der Pandemie demonstrierte politische Handlungsfähigkeit nicht prinzipiell auf andere Krisenerfahrungen übertragen werden kann.
Eine zukünftige europäische Ordnung wird sich aus diesen gegenläufigen Impulsen heraus entwickeln müssen: aus dem Wissen über die Beharrungsfähigkeit etablierter Institutionen und gleichzeitig aus der Möglichkeit, in Krisenzeiten planvoll und zielgerichtet neue Wege einzuschlagen. Die Wege zu einer neuen Friedens- und Sicherheitsordnung für Europa sind heute noch notwendig ungewiss. Aus der Forschung können wir aber bereits jetzt einige Wegmarken zur Orientierung ableiten.
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