Standpunkt
Zeitenwende in der Wissenschafts-Diplomatie
Der Krieg in der Ukraine bringt lange gepflegte Gewissheiten ins Wanken – in der Politik, in der Wirtschaft, auch in der Wissenschaft. Weil aber Eile in Krisenzeiten ein schlechter Ratgeber ist, fragen sich inzwischen manche, ob es die richtige Entscheidung war, unmittelbar nach dem Überfall Russlands alle institutionellen Verbindungen aus der deutschen Wissenschaft zu kappen. – Meine Antwort: Ja, es war richtig! Denn so wie wirtschaftliches Handeln über Staatsgrenzen hinweg eine politische Dimension hat, so ist auch Wissenschaft in ihren Außenbeziehungen politisch. Die Zeitenwende in der Wissenschaftsdiplomatie hat gerade erst angefangen.
Umso wichtiger ist es nun zu diskutieren, wie wir die internationalen wissenschaftlichen Beziehungen künftig gestalten wollen. Fünf Punkte scheinen mir wichtig.
Erstens: Freiheit der Forschung ist eine grundlegende Bedingung für erkenntnisoffene wissenschaftliche Arbeit. Dort, wo diese Freiheit eingeschränkt wird, schwindet auch die Basis für internationale Kooperation. Nehmen wir also Abschied von einem zum Teil blauäugigen Idealismus innerhalb der Wissenschaft: So wie in der Wirtschaft "Wandel durch Handel" nicht gelungen ist, so stößt auch der freiheitsstiftende Impuls grenzüberschreitender wissenschaftlicher Zusammenarbeit in autoritären Regimen an seine Grenzen. Das erleben wir derzeit in Russland. Aber auch das China von heute ist durch viele Jahre intensiver Zusammenarbeit nicht offener geworden. Werden wir also wählerischer! Und suchen wir uns Partner, die unsere Werte teilen! Denn die brauchen wir, um über die Sorgen des Tages hinaus die großen globalen Veränderungsprozesse zu gestalten.
Zweitens: Wissenschaftliche Zusammenarbeit lebt von individuellem Vertrauen: in gemeinsame Standards guter wissenschaftlicher Praxis, in den Schutz geistiger Eigentumsrechte, in ein faires Miteinander. Viel Vertrauen ist verloren gegangen. Es wiederaufzubauen wird dauern. Mehr als je zuvor müssen wir künftig Risiken von persönlicher Bedrohung abwägen – für alle Beteiligten.
Drittens: Der Krieg in der Ukraine stiehlt einer jungen Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ihre berufliche Zukunft. Sie leben zum Teil als akademische Nomaden über Westeuropa und die Welt verteilt. Hören wir darauf, was sie uns zu sagen haben!
Für diesen Dialog brauchen wir, viertens, Orte des gemeinsamen Nachdenkens. Das New Europe College in Bukarest, das Center for Advanced Study in Sofia oder die Central European University in Wien sind schon seit langem Anlaufstellen – und derzeit sichere Häfen – für junge Intellektuelle aus Osteuropa und Zentralasien. Stärken wir solche Schutz- und Dialogorte!
Und nutzen wir sie, fünftens, um gemeinsam Optionen für die Zukunft der Region zu entwickeln. Denn nur so können wir uns rechtzeitig auf eine Zukunft vorbereiten, die so viel Ungewisses bereithält.