Gebäudefassade mit zahlreichen identischen geschlossenen Fenstern und einer Person, die in einem geöffneten Fenster sitzt
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Einsamkeit
Die Chance des Alleinseins und das Risiko der Isolation

Einsame Menschen fühlen sich von anderen Menschen getrennt, sind aber nicht zwangsläufig allein. Welche Rolle spielt das in unserer Gesellschaft?

Von Andreas Reckwitz 06.10.2022

Einsamkeit ist kein eingebürgerter soziologischer Begriff. In der Alltagssprache ist sie in der Regel negativ konnotiert. Die zeitdia­gnostisch orientierte Frage "Werden die Menschen immer einsamer?" und die Vermutung, dass Einsamkeit ein besonderes Problem der Spätmoderne sei – die 2018 in Großbritannien gar zur Gründung einer Ministerialabteilung zur Bekämpfung der Einsamkeit in der Gesellschaft führte – hat deutlich kulturkritische Untertöne. Um größere Distanz zum Thema zu gewinnen, bietet es sich daher an, zunächst beim neutraleren Begriff des Alleinseins anzusetzen: Alleinsein ist ein Zustand, in dem ein Subjekt weitgehend unabhängig von sozialen Interaktionen auf sich selbst konzentriert ist. Er enthält von vornherein beide Möglichkeiten: ein positives Empfinden von Autonomie hinsichtlich der Gelegenheit, sich ohne Störung durch konkrete Andere auf sich selbst zurückziehen zu können, oder aber das negative Empfinden von Einsamkeit, das heißt das Gefühl einer unfreiwilligen sozialen Isolation von Anderen.

Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive geht es mir weniger um die Frage, ob in der Spätmoderne die Individuen subjektiv mehr oder weniger Einsamkeitsgefühle hegen, als sie sie zuvor hatten. Ich würde vielmehr eine strukturelle These aufstellen: In der westlichen Gesellschaft der Spätmoderne, das heißt seit den 1980er Jahren, wandeln sich die gesellschaftlichen Bedingungen des Alleinseins. In spätmodernen Verhältnissen wird das Alleinsein immer weniger legitim, umgekehrt erscheint es zunehmend als ein Risiko: eben als das Risiko von Einsamkeit. Das Alleinsein wird der spätmodernen Kultur zum Problem – markiert aber durchaus weiterhin einen Sehnsuchtsort.

"Das Alleinsein wird in der spät­modernen Kultur zum Problem."

Wie ist das zu verstehen? Bei aller nötigen Vorsicht gegenüber historisch-soziologischen Systematiken kann man die organisierte Moderne, wie sie nach 1945 bis in die 1980er Jahre dominant war, der Spätmoderne gegenüberstellen. In der organisierten Moderne waren die Subjekte typischerweise in recht fixe, statische soziale Strukturen eingebunden. Die bürokratische Organisation – etwa in Form der ökonomischen Korporationen, in denen man seinen Arbeitsplatz hatte, – und die patriarchale Kleinfamilie waren ihre wichtigsten Ausprägungen. Diese Formen des Sozialen übten eine starke soziale Kontrolle aus. Allein war man hier im Regelfall nicht, das bedeutete allerdings auch, dass man – solange man einigermaßen konform agierte – nicht aus dem Sozialen heraus in die Einsamkeit fallen konnte. Paradoxerweise ließen aber diese formalen Rollenerwartungen im Vordergrund immer auch Rückzugsräume "auf der Hinterbühne" (Goffman) – und damit Gelegenheit zum legitimen Alleinsein. Bekannt ist der Organisationssoziologie, wie gerade bürokratische Organisationen den Individuen überraschende Möglichkeiten für ihren Eigensinn bieten – für Dienst nach Vorschrift, Mikropolitik unter Kollegen, für das, was institutionell gerade nicht normiert ist, et cetera. Auch die Kleinfamilie mit ihrer festen Rollenteilung ließ charakteristischerweise solche Spiel- und Rückzugsräume für Idiosynkrasien: Rückzugsräume für Frauen, für Männer, für Kinder, für Jugendliche jeweils allein oder zumindest "unter sich".

Seit den 1980er Jahren wandeln sich die Formen des Sozialen. Formale Arrangements nach Art der bürokratischen Organisation oder der klassischen Kleinfamilie sind auf dem Rückzug. Stattdessen breiten sich Formen des Sozialen aus, die man mit Zygmunt Bauman als Ausprägungen einer "Flüssigen Moderne" interpretieren kann. Sie sind fluider und expansiver. Da sie instabiler sind, müssen die Subjekte immer wieder aktiv in sie investieren. Die Trennung zwischen sozialer Vorder- und Hinterbühne und damit zwischen formalem Rollenhandeln und Rückzugsräumen erodiert dabei. Das heißt aber: Da es kein Außen des Sozialen zu geben scheint, wird es schwieriger, auf akzeptierte Weise allein zu sein. Zugleich scheint das Alleinsein riskanter, da die Subjekte in ihrem Selbstwertgefühl von dieser fluiden Sozialität abhängen. Es lauert sehr konkret die Gefahr der Einsamkeit als soziale Exklusion.

Geschrumpfte Rückzugsräume durch Teamwork und Projektarbeit

Diese neue Expansivität und Fluidität des Sozialen wird in drei Bereichen besonders deutlich: In der Arbeitswelt verbreitet sich in der Spätmoderne das Ideal des Teamwork und der Projektarbeit, zumindest im wachsenden Segment der hochqualifizierten Wissensarbeit. Dies ist eine Arbeitsweise, die das Subjekt in seiner ganzen Persönlichkeit fordert. Die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen können sich hier nicht auf routinisiertes, formales Rollenhandeln beschränken, sondern sind in allen ihren intellektuellen und emotionalen Kompetenzen gefragt. Die Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit verschwimmen – auch räumlich, zeitlich und sozial. Kreativität scheint in diesem Kontext weniger eine Sache auf sich selbst konzentrierter Individuen als von kreativen Gruppen. Die Ablösung der Einzelbüros durch Bürolandschaften ist ein plastischer Ausdruck dieser Entwicklung. Die Konsequenz des Strukturwandels von der bürokratischen Arbeitsteilung zur Team- und Projektarbeit lautet, dass Rückzugsräume für das Individuum schrumpfen. Die Möglichkeiten für legitimes Alleinsein werden kleiner, ja Alleinsein steht unter Verdacht: Wer allein sein will, gilt tendenziell als Loner, ja als Soziopath. Wer dazu tendiert, sich aus den Teams und Projekten zurückzuziehen, dem droht am Ende der Ausschluss – und damit die Einsamkeit.

Welche Rolle Familien und Netzwerke bei Einsamkeit spielen

In der Sphäre des Privaten finden sich ähnliche Tendenzen. Die klassische Kleinfamilie mit klaren sozialen Rollen wird in der spätmodernen Kultur durch das abgelöst, was man die "totale Familie" nennen kann, die family: Die family ist eine höchst anspruchsvolle Form von Familie, in der die hohe Intensität der gemeinsam verbrachten Zeit (quality time), die Notwendigkeit ständiger Koordinationsarbeit und die hohe emotionale Offenheit füreinander dazu führen, dass die Rückzugsräume, welche die klassische Familie bot, schrumpfen. Die Spätmoderne bietet zur Familie zwar durchaus kulturell akzeptierte Alternativen, etwa das Leben als Single oder als kinderloses Paar. Diese stehen jedoch vor der ebenso anspruchsvollen Aufgabe, beständig ihre sozialen Netzwerke zu kultivieren. Netzwerke von Freunden und Bekannten sind hier wichtig, um sich nicht zu isolieren, um Unterstützung und Anregung zu sichern. Das "Netzwerk" ist generell eine für die Spätmoderne typische Form des Sozialen, und es setzt voraus, dass die Individuen gute networker sind, dass sie an ihren Netzwerken arbeiten, sie klug nutzen und erweitern. Rückzug und Alleinsein sind hier riskant: Man fällt sonst aus den Netzen heraus.

"Das 'Netzwerk' ist generell eine für die Spätmoderne typische Form des Sozialen."

Einsam durch die Aufmerksamkeitsökonomie des Internet

Eine dritte Sphäre, in der Rückzugsräume schrumpfen und die Chance des Alleinseins sich in ein Risiko der Isolation verkehrt, ist die Aufmerksamkeitsökonomie des Internet und der sozialen Medien. Die medientechnologische Revolution der Digitalisierung ist in der Tat für die Spätmoderne prägend und katapultiert die Subjekte in eine historisch neue Konstellation: "The presentation of self in everyday life" (Goffman) wird zu einer Daueraufgabe vor großem Publikum. Die meisten Menschen bewegen sich online, viele posten Kommentare und Fotos aus ihrem Leben, sei es für die Bekannten, sei es für eine anonyme Öffentlichkeit. Es gilt: "Ich poste, also bin ich" – viele Likes zu erhalten bedeutet Aufmerksamkeit und Anerkennung. Es bedeutet gesehen zu werden. Das Internet spannt so einen gigantischen Aufmerksamkeitsmarkt auf, in dem mit dem Rückzug die Einsamkeit des sozialen Todes droht. Sich ins Unbeobachtete zu entziehen ist hier keine Option, denn Anerkennung und Selbstwert setzen voraus, sich darzubieten, sich beobachten zu lassen, Sichtbarkeit zu sichern. Der Unsichtbare ist der Verlierer.

Susan Cain hat in ihrem Buch "Quiet. The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking" argumentiert, dass die westliche Gegenwartsgesellschaft ein Paradies für extrovertierte Persönlichkeiten sei, in dem die Eigenschaften von Introvertierten das Nachsehen haben. Extro- und Introversion sind nun psychologische Begriffe, aber man kann den gleichen Sachverhalt auch soziologisch beschreiben: Die fluideren, expansiven Formen des Sozialen der Spätmoderne – die Teams und Projekte, die totalen Familien und sozialen Netzwerke, schließlich die digitalen Aufmerksamkeitsmärkte – reduzieren die Möglichkeiten legitimen Alleinseins. Wenn die Grenze zwischen Vorder- und Hinterbühne fragil wird, verkleinern sich die Rückzugsräume vom Sozialen.

Zugleich sind die Subjekte in der spätmodernen "Gesellschaft der Singularitäten" vom Wert geprägt, sich selbst in ihrer Besonderheit und Einzigartigkeit zu entfalten und als solche singulären Individuen von anderen anerkannt zu werden. Die Teams, Projekte, totalen Familien, sozialen Netzwerke und Aufmerksamkeitsmärkte bilden nun aber exakt den Ort, an dem eine solche Zertifizierung der Singularität stattfindet. Die gesteigerte Individualität hängt also von einer expansiveren Sozialität ab. Wer sich zurückzieht, riskiert umgekehrt, den Wert der Besonderheit zu verlieren. Er riskiert im Extrem die Exklusion. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das Alleinsein gerade in der Spätmoderne negativ mit Einsamkeit assoziiert wird.

"Die gesteigerte Singularität hängt von einer expansiveren Sozialität ab."

Für das Elend der Einsamkeit und die Sehnsucht nach dem Alleinsein in der Gegenwartskultur kann man emblematisch zwei Figuren ausmachen: den INCEL und die Entnetzte. Der INCEL, der männliche, heterosexuelle unfreiwillige Single, der an seiner Einsamkeit irre wird – was bis hin zum Amoklauf führen kann –, steht stellvertretend für das Risiko der sozialen Exklusion in der Spätmoderne. Er ist einer der gesellschaftlichen Verlierer der Gesellschaft der Singularitäten und verdeutlicht die soziale Sprengkraft der sozialen Isolation in ihr. Anders die temporär Entnetzte, die sich in Anlehnung an Urs Stähelis Buch "Soziologie der Entnetzung" charakterisieren lässt: Stäheli demonstriert, dass die Sehnsucht nach der Entnetzung gerade bei den gut Vernetzten stark ist. Die Entnetzte – dies ist ein Subjekt, das erfolgreich und virtuos die Netzwerke des Berufs, des Privaten und der Öffentlichkeit bespielt und das zugleich danach strebt, sich zumindest temporär daraus zurückzuziehen, das Team und die family hinter sich zu lassen und einmal digital detox zu betreiben. Das Alleinsein muss sich die Entnetzte erkämpfen. Die Herausforderung besteht so darin, zeitweilig für sich zu sein, ohne dauerhaft einsam zu werden.