Einheit in Vielfalt: Hände in unterschiedlichen Blau- und Lilatönen umfassen einander, sodass sie einen Stern bilden.
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Standpunkt
Einheit in Vielfalt

Manches muss in der Wissenschaft allgemein gelten, anderes individuell bleiben, um hohe Leistung zu ermöglichen. Einschätzungen des DHV-Präsidenten.

Von Lambert T. Koch 09.06.2023

Vielleicht neigen Deutsche besonders zu Normierungen – zur klaren und gründlichen Festlegung von Standards für Produkte, Dienstleistungen und Prozesse – in der Hoffnung, Komplexes beherrschbarer, Spontanes planbarer, Individuelles kompatibler zu machen. Mögliche Vorzüge, gerade für die Industrie, liegen auf der Hand.

Evident ist aber auch, dass bestimmte Produktivkontexte wie Wissenschaft und Forschung unter übertriebenem Harmonisierungsverlangen leiden. So hat die Normierung des Alltags von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das in inakzeptabler Weise Zeit, Kräfte, Energie und Kreativität bindet, Vertrauen vermissen lässt und Motivation untergräbt. Die Freiräume in Lehre und Forschung sind enger geworden – zu eng. Übernormierungen finden sich in der akademischen Selbstverwaltung, im Akkreditierungs-, Drittmittelantrags- und Beschaffungswesen oder verstärkt auch im Arbeitsrecht. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen fühlen sich gegängelt, kontrolliert und in ihrer Entfaltung gehindert.

Keine Frage, auch Wissenschaft benötigt Regeln, um zu funktionieren. Doch diejenigen, die sie setzen, verkennen leider allzu oft, dass "die Wissenschaft" ein ganzer Kosmos ist – mit unterschiedlichsten Fächerkulturen, Kooperationsformen, geografischen Schwerpunkten, Ausstattungsbedarfen und Menschen, deren kreative Höchstleistungen auf individuelle Gestaltung ihres Arbeitskontextes angewiesen sind. Versuche einer fabrikmäßigen Arbeitszeiterfassung, der Standardisierung von Karrierewegen oder der Taylorisierung von Organisationsstrukturen – über alle kulturellen Unterschiedlichkeiten hinweg – offenbaren teils erschreckende Missverständnisse über das zu Regelnde. Debatten über die Abkehr vom Lehrstuhlprinzip zur Departmentstruktur beispielsweise sind natürlich grundsätzlich gerechtfertigt, sollten aber ergebnisoffen geführt werden.

Was in den Sozial- und Geisteswissenschaften teils sinnvoll sein kann, wird in den drittmittelaffinen Ingenieurwissenschaften oder der Medizin weniger Anklang finden. Was möglicherweise in Berlin oder München funktioniert, muss deutschlandweit nicht passen. Auch für die Qualifikation zur Professur wird es keine "One size fits all-Lösung" geben: In welchem Ausmaß Tenure-Track-Modelle implementiert werden, ob und inwieweit die Habilitation eine nicht in jedem Fall notwendige, aber wünschenswerte Voraussetzung für die Berufung auf eine Universitätsprofessur ist, wird nach Maßgabe der Fächerkulturen unterschiedlich beantwortet werden. Und das ist gut so!

Wissenschaft bedeutet Einheit in Vielfalt. Einheit mit Blick auf Qualitätsanspruch, Werthaltungen und in der Motivation, ein leistungsstarker Wissenschaftsstandort mit hoher internationaler Reputation zu bleiben. Vielfalt hinsichtlich der Themen, Methoden, Karrierewege und in der Debattenkultur, Vernetzung und Alltagsorganisation.