Seuchen
"In Panik werden Menschen gefährlicher als die Krankheit selbst"
Forschung & Lehre: In Deutschland mehren sich die Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus "SARS-CoV-2". Obwohl die offiziellen Fallzahlen noch deutlich unter denen in Italien oder China liegen, steigt die Unruhe in der Bevölkerung: "Hamsterkäufe" in Supermärkten nehmen zu, eine hustende Person treffen die verunsicherten bis bösen Blicke der Umstehenden. Sie haben über viele Jahre die Angst der Menschen vor Seuchen untersucht – worin begründet sich diese?
Malte Thießen: Seuchen sind die sozialsten aller Krankheiten. Sie schüren Ängste, weil sie übertragbar sind und alle treffen können. Dadurch können sie soziale Spannungen in Gesellschaften verschärfen oder auch entfachen. Bei der aktuellen Verbreitung der Lungenkrankheit "Covid 19" kommt hinzu, dass das Virus neu ist. Alles Unbekannte verunsichert. Obwohl die Grippe – wie vielfach berichtet – viel höhere Todeszahlen verzeichnet, ist das neue Coronavirus das größere Thema, weil es uns herausfordert und wir es einordnen wollen. Hinzu kommt, dass Infektionskrankheiten für moderne Gesellschaften kaum vorstellbar geworden sind. Spätestens seit den 70er Jahren glauben wir, uns gegen alle Viruserkrankungen schützen zu können. Die Ausbreitung eines Virus wie "SARS-CoV-2" wirft unser Bild von einer modernen Gesellschaft und deren Planbarkeit über den Haufen.
F&L: Welche Folgen hat das?
Malte Thießen: Moderne Sozialstaaten sind herausgefordert Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, weil sie ihrer Bevölkerung ein gutes und gesundes Leben versprechen. Historisch ist das damit zu erklären, dass der Glaube an das Gottgegebene schwindet und die Menschen den Staat stärker in die Verantwortung nehmen. Gerade in der Gesundheit stehen Staaten in einem starken internationalen Wettbewerb. Eine "gesündere Gesellschaft" wird zu einer "besseren Gesellschaft". Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) – eine wichtige Institution, um den Umgang mit Infektionskrankheiten weltweit zu koordinieren – verstärkt diesen Effekt absurderweise, denn sie macht eine Vergleichbarkeit von Gesundheitszuständen ganz einfach möglich. Das führt zu kontraproduktiven Reaktionen von Politikerinnen und Politikern.
F&L: Bitte nennen Sie ein Beispiel für eine in Ihren Augen kontraproduktive Reaktion.
Malte Thießen: Ich halte es zum Beispiel nicht für zielführend "von oben" zu beschließen, Grenzen dichtzumachen und ganze soziale Gruppen in Quarantäne zu stellen. Zwar scheint eine räumliche "Verortung" eine Gefahr zunächst sichtbar und ihre Bekämpfung planbar zu machen. In einer globalisierten Welt ist das jedoch Unsinn. Eine Ausbreitung kann so nicht verhindert werden. Vielmehr schüren solche Anordnungen Ängste und rufen irrationales Verhalten hervor, zum Beispiel, dass Menschen sofort ins Krankenhaus rennen, anstatt von zu Hause bei Ärzten anzurufen, wodurch sie sich selbst oder auch andere im Zweifel erst anstecken. In Panik werden Menschen gefährlicher als die Krankheit selbst.
F&L: Wie sollten Politikerinnen und Politiker reagieren?
Malte Thießen: Staaten sind darauf angewiesen, dass die Bevölkerung mitmacht. Dafür ist wichtig, starke Appelle zu senden, dass Bürgerinnen und Bürger selbst Einfluss auf die Entwicklungen nehmen können, indem sie ihre Hände regelmäßig und gründlich waschen oder Abstand von sichtlich erkrankten Personen nehmen. Ein solches Vorgehen zeigt nach außen hin vielleicht keinen starken Staat, aber eine starke Gesellschaft und das ist im Ergebnis zielführender. Wird eine Anordnung, etwa zur Quarantäne, wie in China dagegen verpflichtend vorgegeben – und das nach meinem Eindruck zu spät und ohne gleichzeitig über Präventionsmaßnahmen zu informieren –, haben Menschen schnell Angst, ausgegrenzt zu werden, wenn sie das Gefühl haben infiziert zu sein, und melden sich im Zweifel nicht. Sind Betroffene dagegen aufgeklärt und nicht in Panik, begeben sie sich selbst in Quarantäne, wie es einige zum Beispiel im Kreis Heinsberg gemacht haben.
F&L: Mit der Globalisierung steigt die Wahrscheinlichkeit einer schnellen Verbreitung eines Virus. Gleichzeitig bietet eine vernetzte Welt die Chance, sich schnell über die Ausbreitung einer Erkrankung austauschen und gemeinsam an Gegenmitteln forschen zu können. Was meinen Sie: Überwiegt eher der Vorteil oder der Nachteil?
Malte Thießen: Das ist schwer zu sagen. Eine globale Kommunikation ist erst einmal sicher positiv. Zwar hat es auch im 19. Jahrhundert internationale Sanitätshäuser gegeben und eine weltweit koordiniere Infektionsabwehr. Die Nachrichten haben aber länger gebraucht, sich zu verbreiten als die Krankheiten. Heute läuft das in Echtzeit, was ein enormer Vorteil für die Verbreitung von Wissen und Testreihen ist. Der Nachteil ist, dass digital Falschmeldungen und Panikmache in einem viel größeren Ausmaß als früher auf die Menschen einströmen. In freien Gesellschaften hat niemand ein Informationsmonopol – was gut ist –, aber es hat eben auch eine Schattenseite, die sich darin zeigt, dass das Robert Koch-Institut der Art der Kommunikation einer Krankheit teils eine größere Gefahr zuschreibt als der Krankheit selbst.
"Die Seuche – das sind immer die Anderen" Malte Thießen in "Infizierte Gesellschaften"
F&L: Wie sollten Medien Ihrer Meinung nach über Infektionen wie das neue Coronavirus berichten?
Malte Thießen: Medien sollten nichts verschweigen, aber dabei nüchtern berichten und Informationen einordnen. Sie sollten transparent machen, was sie wissen und was sie nicht wissen. Insgesamt finde ich, dass das aktuell in Deutschland insgesamt gut läuft. Einzelne Titel wie "Made in China" des "Spiegels" vor wenigen Wochen sind dagegen kontraproduktiv und befördern Stereotype gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen, was zu rassistischen Reaktionen führen kann. Ich finde es bedauerlich, dass etwa die Migration von Menschen schnell skeptisch beobachtet wird, während etwa die Effekte des Tourismus, über den Infektionen viel leichter übertragen werden können, ausgeblendet werden. Wir tendieren dazu, Sündenböcke zu suchen, um unseren eigenen Lebensstil nicht hinterfragen oder eingrenzen zu müssen.
F&L: Gerade Jüngere erhalten ihre Informationen immer stärker über soziale Netzwerke. Woher Informationen stammen, ordnen viele zu wenig ein. Langfristig ist eine bessere Medienkompetenz gefragt. Was hilft kurzfristig?
Malte Thießen: Soziale Medien können eine wichtige und schnelle Informationsquelle sein, gleichzeitig sind sie ein digitaler Verstärker, sobald Panik entsteht. Eine Person postet das Bild eines leeren Supermarktregals, ein paar andere schreiben, sie hätten dasselbe gesehen und so geht es immer weiter bis die Nachricht "nur noch leere Supermärkte" überall im Netz präsent ist. Neu ist dieses Phänomen nicht: Gerüchte hat es schon immer gegeben. Gerade in Ausnahmesituationen können sie ihre Strahlkraft entfalten, die schwer einzudämmen ist. Wir haben heute gewissermaßen einen Vorteil, weil wir durch die digitale Öffentlichkeit die Chance haben, dagegen zu halten, Gerüchte richtigzustellen, auf seriöse Informationsquellen zu verweisen. Wir sind alle gefragt, uns einzubringen. Bei alledem sollten wir nicht vergessen, dass wir zum Beispiel in Deutschland mit unserem Gesundheitssystem gut aufgestellt sind, mit einer Viruserkrankung wie "Covid 19" umzugehen.