Illustration eines Mannes mit hochgelegten Füßen auf seinem Schreibtisch
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Bedeutung von Pausen
Langeweile als Gegenpol

Wie Menschen ihre Zeit nutzen, ist individueller und flexibler geworden – auch die Gestaltung von Pausen. Welche Konsequenzen erwachsen daraus?

Von Friederike Invernizzi 10.08.2021

Forschung & Lehre: Frau Professorin Muri, was ist im modernen Verständnis eine Pause im Beruf und unterscheidet sie sich von einer Pause im Privaten?

Gabriela Muri: Aus meiner Sicht ist es bedeutsam, Pausen als Elemente der Zeitkultur zu betrachten. Zeitregeln und der Umgang mit Zeit sind gesellschaftlich bedingt. Das wird häufig vergessen, weil Zeit im Alltag nicht sicht- und fassbar ist. Pausen können als analytische Folie betrachtet werden, mit der wir Zeitkultur betrachten. Sie sind also abhängig vom gesellschaftlichen Verständnis von Arbeit, sichtbar zum Beispiel am Wandel von Arbeitspausen als zeitlich festgelegte Abschnitte hin zu einer Flexibilisierung und Projektarbeit. Interessant ist, dass Sie nach dem Unterschied der Arbeitspause im Privaten gefragt haben. Hier zeigt sich, wenn man dem Soziologen Norbert Elias folgt, dass Pausen im Beruf mittlerweile eng mit dem Privaten verknüpft sind. Es gibt ethnographische Studien von Andreas Wittel, die belegen, dass in Unternehmen mit einer flexiblen Pausenordnung das "Aus dem Fenster blicken" mit schlechtem Gewissen verbunden ist oder dass Kolleginnen und Kollegen öfters fragen: "Gehst Du schon?", wenn jemand früher Feierabend macht.

Portraitfoto von Prof. Dr. Gabriela Muri
Gabriela Muri ist Professorin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft, Universität Zürich und am Institut für Kindheit, Jugend und Familie am Department Soziale Arbeit der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. privat

F&L: Die Grenzen von beruflichem und privatem Leben lösen sich auf und die Pausen lassen sich nicht mehr so klar abgrenzen?

Gabriela Muri: Die "Regulierungskraft", die bestimmt, ob Menschen Pause machen oder nicht, verlagert sich wie von Norbert Elias beschrieben ins Innere. Es gibt also eine verinnerlichte Zeitkultur. Im Gegensatz zum 19. beziehungsweise 20. Jahrhundert folgen wir heute keinen bestimmten Pausenregeln mehr, die von Gewerkschaften oder Arbeitgebern vorgegeben werden, sondern wir sind selbst dafür zuständig, was eine Pause ist und wie sie richtig gelebt und erlebt werden will.

F&L: Ist Pause ein "Nichtstun" oder eigentlich ein "Anderstun"? Muss sie im eigentlichen Sinne ein "Erlebnis" sein?

Gabriela Muri: Pausen sind in unserem Alltag kein Nichtstun mehr, sondern ein gesellschaftlich geregeltes "Anderstun". Das zeigt die heutige Erlebnisorientierung, die mit der wachsenden Eventisierung der Gesellschaft zusammenhängt. Durch die Erwartungshaltung der Menschen müssen Freizeit und Ferien zu einem großen Erlebnis werden. Das kann mittlerweile als kulturelle Norm bezeichnet werden. Dies erzeugt wiederum Druck auf das Individuum, wenn das nicht gelingt, denn jeder ist für das Gelingen selbst verantwortlich. Hier sind wir oft damit konfrontiert, dass wir unseren eigenen Erwartungen gar nicht gerecht werden. Es ist nicht möglich, dauernd großartige Erlebnisse oder Gefühle zu haben.

F&L: Ist damit die wachsende Sehnsucht nach Entspannungstechniken wie zum Beispiel Meditation zu erklären – Methoden, die uns anleiten und helfen sollen, an "nichts" zu denken?

Gabriela Muri: Diese Angebote sind für mich ganz klar Reaktionen auf ein Defizit, weil wir freie Zeit nicht mehr als "frei" erleben können. Pausen werden mit Konsumangeboten bewirtschaftet und verursachen prekäre Zeiterfahrung. Diese Entwicklungen haben aber nicht nur mit der Erlebnisorientierung der Freizeit zu tun, sondern gehören zu den Folgen der digitalen Erreichbarkeit. Ständig erhalten wir E-Mails und andere Nachrichten aufs Handy. Wir können an jedem Ort Anrufe bekommen. Diese stete Erreichbarkeit verursacht das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben, obwohl wir rein objektiv nicht weniger Zeit haben als früher. Wir haben nur den Eindruck, dass wir Pausen nicht mehr als freie Zeit erleben.

"Pausen werden mit Konsumangeboten bewirtschaftet und verursachen prekäre Zeiterfahrung."

F&L: Inwieweit gelingt es uns überhaupt noch, eine Pause zu machen?

Gabriela Muri: Es zeigt sich in der Tat, dass die Erwartungen, eine dicht gelebte Freizeit zu haben, sich selbst zu optimieren und die digitale Erreichbarkeit zu dem Gefühl führen, keine Pause mehr machen zu können. Die Arbeitswelt sollte sich damit befassen, ob Homeoffice, flexible Arbeitszeiten und damit einhergehend auch eine mehr oder weniger ständige Erreichbarkeit dazu führen, dass Menschen, wenn sie Pausen machen, ein schlechtes Gewissen entwickeln. Hier müsste das Verständnis von Arbeit neu überdacht und überlegt werden, wie man Pausen gestalten kann, die wirklich entlastend sind. Zudem hat die Veränderung der Arbeitswelt Folgen in dem Sinne, dass die Möglichkeit, Pausen einzulegen, zunehmend ungleich verteilt ist. Ein Beispiel sind die Lieferdienste, die in Zeiten von Corona expandiert sind. Hier arbeiten die Menschen innerhalb eines engen Zeitkorsetts. Es zählen nur Ergebnisse und Pausen sind nicht vorgesehen. Meines Erachtens wären zeitlich, örtlich und vom Modus her klar festgelegte Pausen, die dann zu "echten" Pausen führen würden, hilfreich. Sie hätten eine entspannende Wirkung.

F&L: Aber sind Pausen bei den schwindenden Unterschieden von Arbeit und Freizeit überhaupt noch wichtig?

Gabriela Muri: Wir sind nicht nur eine individualisierte Gesellschaft, was unsere Konstituierung als Subjekte betrifft, sondern auch was die Zeit betrifft. Wenn wir als Subjekte dafür verantwortlich sind, wie wir Arbeit und Pause gegeneinander abwägen, dann bedeutet das eine Überforderung. Hier sind übrigens geschlechterspezifische Unterschiede zu beobachten. Frauen sind nach wie vor mehr mit Haushalt und Kindern beschäftigt als Männer, ein Bereich, in dem es besonders schwierig ist, für sich zu gestalten, was eine Pause ist oder nicht: Wenn ich beispielsweise mit dem Kind auf den Spielplatz gehe, ist das dann eine Pause? Wenn ich koche, ist das dann eine angenehme Unterbrechung? Neben der individuellen Problematik, Pausen zu machen, kommen gesellschaftliche und kulturelle Normen dazu.

F&L: Wie sollten Pausen denn in einer globalisierten und auf Effizienz getrimmten Welt gestaltet sein?

Gabriela Muri: Zunächst müssen wir uns von den historisch gewachsenen Auseinandersetzungen um die Gestaltung des "normalen" Arbeitstags und den damit einhergehenden gesetzlichen Regulierungen lösen. Wir sollten unseren Blick schärfen für Ungleichheiten in der Gesellschaft, die insbesondere in prekären Arbeitsverhältnissen zu finden sind und die von der Politik geregelt werden müssten. Außerdem müssen wir die Frage nach der Art und Dauer einer Pause stellen. Dazu müssen wir uns von Ansprüchen lösen, die uns dazu auffordern, ständig etwas zu tun. Wir müssten eigentlich die Dauer des Nichtstuns, des sinnlosen und unbestimmten Tuns erhöhen.

F&L: Welche Rolle spielt dabei der wachsende Konsum in den westlichen Gesellschaften?

Gabriela Muri: Die Konsumpraktiken haben sich in der letzten Zeit, verstärkt durch Corona, ins Digitale verlagert. Die Bestellungen, die wir online tätigen, können viel schneller aufgegeben werden und die Ware wird zu uns ins Haus geliefert. Das ist natürlich für den Einzelnen sehr praktisch, hat aber zur Folge, dass die Innenstädte als belebte Orte des Einkaufens, wo sich Menschen begegnen, zunehmend veröden. Es stellt sich beispielsweise die Frage, wie die Cafés überleben werden, die im klassisch bürgerlichen Sinne Orte der Pausen sind. Lange Nachmittage, die man im Café verbrachte, verlieren an Bedeutung. Der beschleunigte Konsum durch das Digitale verändert unsere Möglichkeiten, Pause zu machen und damit auch unsere Räume, in denen wir leben. Ganz zu schweigen von den ökologischen Konsequenzen dieser Entwicklung.

F&L: Die wachsende Ausbreitung von Depressionen beschrieb der Sozialwissenschaftler Alain Ehrenberg 1999 in seinem Buch "Das erschöpfte Selbst" als Reaktion auf den Druck, sich permanent selbst zu verwirklichen. Brauchen wir Pausen von uns selbst als "Baustelle"?

Gabriela Muri: Der Begriff der "Baustelle" gefällt mir sehr gut. Der Zwang, sich beispielsweise durch Aktivitäten und Freizeitangebote zu verwirklichen, ist sehr groß. Besser wäre es, mit einem offenen Angebot an uns selbst, mit Zeit freier umzugehen. Dies wäre eine Möglichkeit, um sich seiner eigenen Gefühle und Bedürfnisse wieder besser bewusst zu werden. Reiche Menschen sprechen häufig davon, dass Zeit für sie der größte Luxus wäre, dabei hätten gerade sie den meisten Spielraum, um dies zu verwirklichen. Das zeigt, wie es von uns selbst als Individuen abhängt, dies zu gestalten. Ganz wichtig scheint mir hier die Bedeutung von Langeweile in unserem Leben als Gegenpol zum permanenten Druck, kreativ zu sein. Damit verbunden ist das Gefühl, Zeit im Überfluss zu haben. Langeweile kann helfen, auf wunderbare Ideen zu kommen. Wir nutzen unsere Zeit viel zu sehr für normierte Ziele. Folgen wir Norbert Elias' These, verinnerlichen wir schon als Kinder diese festgelegten Zeitordnungen der Gesellschaft und wachsen damit auf. Schließlich können wir gar nicht mehr anders leben.  

"Langeweile kann helfen, auf wunderbare Ideen zu kommen."

F&L: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erleben ihre Tätigkeit meist als sehr sinnstiftend. Inwieweit spielen für sie Pausen überhaupt eine Rolle, da sie häufig Arbeit nicht als Belastung empfinden, von der man sich erholen muss…?

Gabriela Muri: Wenn Professorinnen und Professoren darüber sprechen, wie sehr sie zeitlich beispielsweise durch die Publikation eines Buches beansprucht werden, tun sie das häufig aus Prestigegründen, das dadurch entstehen kann. Bei Wissenschaftlern, die in prekären Arbeitsverhältnissen forschen und lehren, ist das anders. Die Ausbeutung ihrer zeitlichen Ressourcen legitimieren sie gegenüber sich selbst und anderen, mit der für sie sinnstiftenden Tätigkeit. Hier gäbe es unterschiedliche Perspektiven, aus der man die Rolle der Pausen für Wissenschaftler betrachten könnte. Insgesamt lässt sich sagen, dass unsere Einschätzung von Pausen stark davon abhängt, welchen konzeptionellen und methodischen Zugang wir zur Analyse von Zeitkultur und damit zu Pausen wählen.