Eine Illustration verschiedener Berufsgruppen, die ein Handy in der Hand halten
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Künstliche Intelligenz
Mit digitalisierter Medizin zum Ziel

Um die Gesundheitsfürsorge weltweit zu verbessern, wird auf Digitalisierung und KI gesetzt. Ein Gepräch über Chancen - und Risiken.

Von Ina Lohaus 20.09.2023

Forschung & Lehre: Unter den 17 "Sustainable Development Goals" (SDG) der UN-Agenda 2030 ist insbesondere das dritte Ziel "Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern" auf die globale Gesundheit ausgerichtet. Welche Rolle spielen die digitalisierte Medizin und die künstliche Intelligenz (KI), um dieses Ziel zu erreichen?

Walter Karlen: Dieses Ziel wurde sehr breit formuliert und bezieht sich auf sehr viele Bereiche im Gesundheitswesen. Es geht zum Beispiel um verbesserte Strukturen, Präventionsprogramme oder die Ausbildung von Fachkräften, die alle unsere Gesundheit und Lebenserwartung bestimmen oder beeinflussen. Schaut man sich die Unterziele von SDG 3 etwas genauer an, stechen einige Ziele hervor, die direkt oder indirekt stark auf die Digitalisierung setzen. Besonders erwähnt sei der "Zugang zu hochwertigen grundlegenden Gesundheitsdiensten", was auch Medikamente und Medizingeräte beinhaltet, oder die "Frühwarnung (…) nationaler und globaler Gesundheitsrisiken", welche digitale Tools benötigt, um besseren Service anbieten zu können. 

Porträtfoto von Professor Dr. Walter Karlen
Walter Karlen ist Professor an der Universität Ulm und dort Direktor des Instituts für Biomedizinische Technik. privat

F&L: Gibt es bestimmte Problemlagen in Bezug auf Global Health, die ohne KI gar nicht mehr gelöst werden können?

Walter Karlen: Für mich gibt es zwei Hauptgründe, KI für Global Health zu entwickeln und anzuwenden. Erstens ist der Einsatz von automatisierten Algorithmen unentbehrlich für die Analyse von multidimensionalen, großen Datensätzen. Um die oben erwähnten Frühwarnsysteme betreiben zu können, braucht es Zugang zu Daten aus verschiedenen Quellen. Diese müssen aufbereitet, zusammengeführt und analysiert werden. Modelle müssen erstellt und kontinuierlich aktualisiert werden. Methoden des maschinellen Lernens sind prädestiniert, diese Aufgaben zu lösen. Zweitens haben wir durch digitale Systeme die einzigartige Möglichkeit, medizinisches Expertenwissen sehr breit und schnell an die Patienten zu bringen. Das ist überall dort relevant, wo die Ärztedichte sehr gering oder der Zugang zur Versorgung erschwert ist.

F&L: Vor welchen zentralen Herausforderungen in der medizinischen Versorgung stehen insbesondere die Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern?

Walter Karlen: Das Hauptproblem sind sicherlich die fehlenden Fachkräfte. Während die Dichte des Gesundheitspersonals in Deutschland bei 180 pro 10 000 Einwohner liegt, ist sie bei 22 in Vietnam oder gerade mal bei sieben in Uganda. Diese Zahlen sind noch dramatischer für akademisches Personal, also Ärztinnen und Ärzte oder Medizintechnik-Ingenieure und -Ingenieurinnen. Weil im globalen Süden das Bevölkerungswachstum und der Brain Drain hoch sind, ist ziemlich klar, dass alleine mit der Steigerung der Ausbildungsrate die Personalknappheit in absehbarer Zeit nicht in den Griff zu bekommen ist. Neben dem Personal fehlt es aber auch an einfachen Technologien, die bei uns routinemäßig eingesetzt werden und wichtig für die Patientensicherheit sind, aber aufgrund nicht ausreichender Finanzen, unterschiedlicher Prioritäten, mangelnder Anpassung an den lokalen Kontext oder fehlender Ausbildung nicht zum Einsatz kommen können. Es fehlen z.B. Pulsoximeter, die die Sauerstoffsättigung im Blut während der Anästhesie messen. 

F&L: Wie kann die digitalisierte Medizin hier Unterstützung leisten? Können Sie bitte ein paar Beispiele nennen?

Walter Karlen: Die Digitalisierung fängt bei kostengünstigen, einfach zu unterhaltenden Medizingeräten an und geht bis hin zu hochkomplexen Algorithmen für die medizinische Entscheidungsfindung. Das zeigt auch eine Stärke der digitalisierten Medizin auf: Die technischen Ansprüche an die Hardware sind nicht so groß, was sich in den Kosten niederschlägt. Für telemedizinische Konsultationen brauchen Sie nur ein Smartphone und eine Internetverbindung, und schon haben Sie einen Zugang zu medizinischem Fachpersonal erstellt. Ein weiteres Beispiel aus unserem eigenen Forschungsbereich ist die intelligente Intensivstation für Spitäler mit knappen Ressourcen. In Partnerschaft mit der Universität Oxford und weiteren Universitäten erforschen wir am Hospital for Tropical Diseases von Ho Chi Minh City, wie mit einfachen, aber vernetzten Sensoren und Geräten eine Datenlandschaft aufgebaut werden kann, die Patientinnen und Patienten besser überwacht und mittels KI-Empfehlungen lebensbedrohliche Situationen verhindert sowie das chronisch unterbesetzte Behandlungsteam entlastet.  

F&L: Inwieweit sind Infrastrukturen und technische Ausrüstung, die für die digitalisierte Medizin erforderlich sind, im globalen Süden vorhanden? Wie ist Deutschland im Vergleich aufgestellt?

Walter Karlen: An geeigneter Infrastruktur fehlt es überall, insbesondere auch an Personal, das diese unterhalten kann. Der Vorteil in Ländern mit niedrigen Einkommen ist, dass dort viel mehr Freiheit besteht, etwas Neues aufzubauen. In Ländern wie Deutschland stehen etablierte Prozesse sowie existierende teure Infrastruktur viel mehr im Weg, was die Umstellung verlangsamt. Es gibt aber auch positive Zeichen. Deutschland hat vor kurzem die Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) eingeführt. Diese Apps können von Ärzten verschrieben werden und die Kosten werden von den Krankenkassen übernommen. Der Einsatz von KI über DiGAs ist also schon möglich.

F&L: Inwieweit können digitale Gesundheitsleistungen an die jeweiligen lokalen, kulturellen oder auch ethischen Rahmenbedingungen vor Ort angepasst werden?

Walter Karlen: Der Einbezug der lokalen Gegebenheiten für die Entwicklung und Einführung neuer Technologien und Prozesse ist essenziell, sowohl in Deutschland als auch anderswo. Gerade im Gesundheitswesen ist es schwierig, etablierte Prozesse zu durchbrechen. Dies gelingt nur, wenn alle Beteiligten in die Transformation eingebunden werden und diese idealerweise auch gestalten können. Kulturelle und ethische Aspekte müssen natürlich auch berücksichtigt werden.

Stellen Sie sich vor, Sie haben ein neuartiges mobiles Ultraschallgerät entwickelt, das ohne Expertenwissen angewendet werden und mittels KI das Geschlecht eines Fötus und mögliche Komplikationen zuverlässig bestimmen kann. Es wäre ein wichtiges Tool, um die Zahl der Lebendgeburten zu erhöhen und die Müttersterblichkeit zu verringern. Aber wäre es ethisch vertretbar, die KI ohne zusätzliche Regularien in Ländern, in denen kulturelle Normen männliche Nachkommen deutlich bevorzugen, einzuführen?

"Fairness ist ein Thema, das angegangen werden muss." Professor Dr. Walter Karlen

F&L: In Deutschland sind unter anderem die Weiterentwicklung individuell zugeschnittener Therapien oder intelligenter Assistenzsysteme bei Operationen wichtige Forschungsthemen. Inwieweit können Fortschritte bei diesen Spezialisierungen auch für ärmere Länder von Nutzen sein?

Walter Karlen: Ich bin der Meinung, dass die erwähnten Fortschritte für diese Länder nicht zuoberst auf der Prioritätenliste stehen. Einerseits bauen diese auf bereits etablierten, teuren Technologien auf und sind Treiber für die Spitzenmedizin. Damit sind sie nicht den lokalen Gegebenheiten von Ländern mit niedrigen Einkommen angepasst. Anderseits kann es gut sein, dass sich die neuen Forschungserkenntnisse auch auf andere Gebiete der Medizin anwenden lassen, die stärker auf die Bedürfnisse des SDG 3 ausgerichtet sind. Noch wahrscheinlicher ist jedoch, dass Technologien, die gezielt im und für den globalen Süden entwickelt werden, zurück nach Deutschland finden werden. Wir nennen dies "reverse innovation". Die kostengünstigen und erfrischend einfachen, aber effizienten Gesundheitstechnologien haben auch in Deutschland, gerade im Hinblick auf explodierende Gesundheitskosten, Relevanz.

Ein bekanntes Beispiel aus dem Gesundheitssektor sind die in Indien und China entwickelten mobilen Ultraschall- und EKG-Geräte, die dank tiefer Preise und kompakter Bauform danach auch auf großes Interesse bei westlichen Ärzten gestoßen sind. Auch wenn erfolgreiche Beispiele eher selten sind, ist es extrem wichtig, dass KI-basierte Technologien im lokalen Marktumfeld entwickelt, getestet und produziert werden. Nur so können langfristig Know-how und Kapazitäten aufgebaut werden, die nötig sind, um diese Systeme zu betreiben, zu unterhalten und weiterzuentwickeln.

F&L: Wo sehen Sie Risiken beim Einsatz von KI im Hinblick auf Global Health?

Walter Karlen: Fairness ist ein Thema, das angegangen werden muss: Wer liefert die Daten für die Erstellung der Modelle, wie wird entschädigt, wer bekommt Zugang zu den neuen Technologien bzw. wie verhindert man eine Zweiklassen-Medizin? Ein weiteres wichtiges Thema ist der Bias in den Trainingsdatensätzen sowie in den daraus resultierenden Modellen: Werden KI-Modelle nicht für den lokalen Kontext angepasst und mit repräsentativen Daten trainiert und validiert, kann es gut sein, dass bestimmte Patientengruppen systematisch falsch behandelt oder Krankheiten nicht rechtzeitig diagnostiziert werden. 

Die Fragen stellte Ina Lohaus.

In Forschung & Lehre 9/23 widmet sich die Redaktion im Schwerpunkt dem Thema "Global Health". Dabei geht es um gesundheitliche Chancengleichheit weltweit. Mit den Herausforderungen und Zielen von "Global Health" befassen sich in der Printausgabe

  • Professor Dr. Eva Refuess
  • Professor Dr. Jonas Schreyögg
  • Professor Dr. Johanna Hanefeld
  • Dr. Sophie Müller
  • Professor Dr. Walter Karlen
  • Dr. Matthias Havemaann

 

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