Blick in einen Buchladen: Viele Bücher in Regalen und Stapeln
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Rezensionen und Buchpreise
Wegweiser in der Welt der Bücher

Es erscheinen so viele neue Bücher, dass manche von einer "Publikationsflut" sprechen. Wie findet man darin gute Bücher? Ein Gespräch.

Von Ina Lohaus 23.07.2022

Forschung & Lehre: Frau Professorin Stollberg-Rilinger, welche Aufgaben haben klassische Buchrezensionen in den Geisteswissenschaften heute noch?

Barbara Stollberg-Rilinger: Die Aufgaben sind vielfältig. Die Rezensionen sollen die Mitglieder der jeweiligen Fachdisziplin über Neuerscheinungen informieren, die angesichts der Vielzahl an Publikationen und Verlagen kaum noch zu überschauen sind. Es gilt, nicht nur den Inhalt der neuen Monographien zusammenzufassen und die wesentlichen Ergebnisse herauszustellen, sondern auch eine Bewertung vorzunehmen, zum Beispiel wie stringent argumentiert wird oder wie gut das Dargestellte recherchiert ist. Vor allem geht es darum, die neuen Ergebnisse in die bestehende Forschungslage einzuordnen.

Portraitfoto von Professorin Barbara Stollberg-Rilinger
Barbara Stollberg-Rilinger war Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und ist seit 2018 Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Maurice Weiss

F&L: Welche Bedeutung haben die klassischen Buchrezensionen im Vergleich zu anderen Formen der Evaluierung wissenschaftlicher Leistungen?  

Barbara Stollberg-Rilinger: Es kommt darauf an, mit welchen Formen der Evaluierung sie verglichen werden. Zum einen gibt es die eher quantitativen bibliometrischen Verfahren, die für die Geisteswissenschaften besonders umstritten sind und bei denen zu fragen ist, ob nicht völlig irreführende und verzerrende Eindrücke entstehen. Im Vergleich zu anderen Formen der Evaluierung wie Review-Verfahren oder Gutachten  gibt es einen offensichtlichen Unterschied: Die Rezensionen sind öffentlich und gerade nicht anonym. Das hat Vor- und Nachteile. Aber ich halte es für unerlässlich, öffentlich mit seinem Namen für eine solche Bewertung einzustehen. Das kann allerdings zur Folge haben, dass Rezensentinnen und Rezensenten sich etwas vorsichtiger äußern, als sie es vielleicht in einem anonymen Gutachten tun würden.

F&L: Überwiegen daher die positiven Besprechungen?

Barbara Stollberg-Rilinger: Es scheint mir ein Problem zu sein, dass die Bewertungen in vielen Rezensionen eher nichtssagend ausfallen. Rezensentinnen und Rezensenten können sich oftmals nicht zu einer klaren positiven oder negativen Bewertung durchringen. Sie wollen es sich nicht mit der Scientific Community verderben. Wahrscheinlich sind es eher die jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich zurückhalten, vor allem dann, wenn sie noch keine dauerhafte Stelle haben. Ich kann diesen Eindruck nicht statistisch belegen. Aber insgesamt beobachte ich schon – jedenfalls in den Zeitschriften, die ich mit herausgebe –, dass es eine Tendenz zu einer "lauen" Bewertung gibt.

F&L: Wirkt sich eine klassische Buchbesprechung auf das Renommee der Rezensentinnen und Rezensenten aus?

Barbara Stollberg-Rilinger: Da die Autorinnen und Autoren für eine Rezension kein Honorar erhalten, sondern nur das Buch selbst, ist der Verweis auf das Renommee ein wichtiges Argument, um sie für eine Buchbesprechung zu gewinnen. Gerade für die Jüngeren, die sich auf ihrem Forschungsgebiet erst noch einen Namen machen müssen, ist es ein symbolisches Kapital, wenn sie Rezensionen für renommierte Zeitschriften verfassen. Sie profitieren auch persönlich davon, weil sie die entsprechenden Bücher im Interesse ihrer eigenen Forschung ohnehin lesen müssten und dies für eine Rezension häufig gründlicher tun.

F&L: Wie werden angesichts der Vielzahl an geisteswissenschaftlichen Publikationen diejenigen ausgewählt, die in einem Fachjournal rezensiert werden sollten?

Barbara Stollberg-Rilinger: Das wird von den Herausgebern unterschiedlich gehandhabt. Ich kann jetzt nur für die "Zeitschrift für Historische Forschung" sprechen, bei der ich die Schriftleitung habe. Sie unterscheidet sich von vielen anderen dadurch, dass sie einen sehr ausführlichen Rezensionsteil hat und zwar für ein ganz bestimmtes disziplinäres Teilsegment, nämlich die Geschichte Europas in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Das ist ein einigermaßen überschaubares Feld, so dass es möglich ist, die deutschsprachigen Qualifikationsschriften, die gedruckt werden, fast alle in den Blick zu nehmen. Die Verlagsprospekte der einschlägigen Verlage, auch die der englischsprachigen Universitätsverlage, werden von uns zweimal im Jahr angefordert und systematisch durchgesehen. Die Monographien, die einen wissenschaftlichen Anspruch haben, werden dann alle zur Rezension bestellt. Wir sind darauf ausgerichtet, die aktuelle Forschung in unserem disziplinären Segment so weit wie möglich zu erfassen. Andernfalls hätten wir Auswahlprobleme. Dieser Anspruch führt dazu, dass unser Rezensionsteil immer ausführlicher wird, weil immer mehr publiziert wird. Das geht zulasten des Aufsatzteils. Wir versuchen, die Vielzahl der zu besprechenden Neuerscheinungen dadurch in den Griff zu bekommen, dass wir uns auf die Monographien konzentrieren und die unglaubliche Flut an Sammel- und Tagungsbänden eher nicht rezensieren, weil darin häufig Inhalte aus Monographien dupliziert werden.

"Eine Sammelbesprechung bietet den Vorteil, dass weniger wichtige Neuerscheinungen kurz, wichtige dagegen ausführlicher besprochen werden können."

F&L: Was hat sich im klassischen Rezensionswesen verändert?

Barbara Stollberg-Rilinger: Ich spreche wieder nur für meine Zeitschrift: Wir erweitern unser Angebot für unsere Leserinnen und Leser dadurch, dass wir Forschungsüberblicke zu einem relevanten und aktuellen Forschungsfeld, zum Beispiel Globalisierung oder Körpergeschichte, in Auftrag geben. Wir bitten eine Wissenschaftlerin oder einen Wissenschaftler mit entsprechender Expertise, eine Sammelbesprechung zu verfassen. Alle relevanten Neuerscheinungen können dann angefordert und auch mehr internationale Publikationen einbezogen werden. Eine solche Sammelbesprechung bietet den Vorteil, dass weniger wichtige Neuerscheinungen kurz, wichtige dagegen ausführlicher besprochen werden können. Gleichzeitig erfolgt eine Einordnung in die bestehende Forschungslage. Das ist nach unserer Erfahrung eine besonders gute Art, das Rezensionswesen ein wenig zu verändern.

F&L: Inwieweit könnten fachwissenschaftliche Rezensionen auf Internetplattformen und in Soziale Medien verlagert werden?

Barbara Stollberg-Rilinger: Es hängt davon ab, welche Portale es sind. Rezensionsportale, die wissenschaftlich betreut werden und einen seriösen Herausgeberkreis haben, haben insofern einen Vorteil, dass dort die Besprechungen viel schneller veröffentlicht werden können und es keine Platzbeschränkungen gibt. Gedruckte Zeitschriften sind da in vielerlei Hinsicht im Nachteil, das ist gar keine Frage. Trotzdem werden gedruckte Rezensionen nicht überflüssig, da sie nicht nur im Moment des Erscheinens von Interesse sind, sondern längerfristig. Jeder, der neu in ein Thema einsteigt, muss sich zunächst einen Überblick verschaffen. Dabei sind auch Rezensionen von Büchern wichtig, die vor zehn oder zwanzig Jahren erschienen sind. Zudem werden Rezensionen aus gedruckten Zeitschriften nach einer bestimmten Frist ebenfalls online gestellt. Die Konkurrenz erscheint mir im Moment noch nicht existenzbedrohend. Eine andere Frage ist, was von Rezensionen in online-Medien zu halten ist, die nicht fachwissenschaftlich betreut werden. Die gibt es inzwischen massenweise. Dort ist es völlig unkontrollierbar, ob sie fachlich seriös sind. Deshalb stellen sie keine Konkurrenz dar. Aber es ist wichtig, die seriösen von den unseriösen Rezensionsportalen unterscheiden zu können. Das muss im Studium gelernt werden.

F&L: Sie sind auch Jurymitglied für den Deutschen Sachbuchpreis. Die siebenköpfige Jury hat 244 Titel aus 130 Verlagen "gesichtet" und in diesem Jahr das Buch "Die Hohenzollern und die Nazis" von Stephan Malinowski zum "Sachbuch des Jahres" gewählt. Wie hat man sich hier den Auswahlprozess vorzustellen?

Barbara Stollberg-Rilinger: Alle deutschsprachigen Verlage können zwei Bücher einreichen und Jurymitglieder weitere anfordern. Da nicht alle Bücher von allen gelesen werden können, werden diese zunächst zufällig verteilt. Diejenigen Bücher, die von dem jeweils dafür zuständigen Jurymitglied für aussichtsreich gehalten werden, werden dann von allen gelesen und bewertet. Bei der Bewertung sind argumentative Stringenz und solide Recherche zentrale Qualitätskriterien ebenso wie ein verständlicher Sprachstil. Diese Kriterien gelten für Sachbücher und wissenschaftliche Bücher gleichermaßen. Unterschiede bei der Beurteilung ergeben sich daraus, dass populäre Sachbücher keine neuen Forschungsergebnisse enthalten müssen und dass der beim Deutschen Sachbuchpreis erwartete Aktualitätsbezug bei wissenschaftlichen Büchern keine Rolle spielt.

"Wenn ein Buch auf der Spiegel-Bestsellerliste steht, heißt das nicht, dass es ein gutes Buch ist."

F&L: Kann der Erfolg einer geisteswissenschaftlichen Monographie in der breiten Öffentlichkeit auch als ein Qualitätskriterium gewertet werden?

Barbara Stollberg-Rilinger: Wenn ein Buch auf der Spiegel-Bestsellerliste steht, heißt das nicht, dass es ein gutes Buch ist. Aber umgekehrt ist es auch nicht so, dass ein Platz auf der Spiegel-Bestsellerliste ein Buch zu einem weniger guten Buch macht. Wenn eine wissenschaftliche Publikation ausgezeichnet geschrieben ist und ein breites Publikum erreicht, bedeutet das keinesfalls, dass sie wissenschaftlich unseriös ist.

F&L: Es gibt viele neue Bücher, aber wenig Zeit zum Lesen. Wird damit eine "Vorauswahl" durch Besprechungen, Bestenlisten oder Buchpreise zum Gebot der Stunde?

Barbara Stollberg-Rilinger: Bestsellerlisten sind per se keine große Hilfe. Sie sind zunächst ja nur Bestandsaufnahmen des Kassenerfolgs. Listen, die von fachkundigen Jurys zum Beispiel für Zeitungen aufgestellt werden, sind schon eher hilfreich. Aber angesichts der unüberschaubaren Flut an Neuerscheinungen können gar nicht alle guten Bücher unter den Radar einer Jury gelangen. Dass Bücher, die mehr Aufmerksamkeit verdienten, durch das Raster fallen, lässt sich kaum vermeiden.