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Journalismus
Wie arbeitet eine Faktenfinder-Redaktion?

Online gelangen Falschmeldungen immer leichter in die Öffentlichkeit. Faktenchecker wie Patrick Gensing wollen dem entgegenwirken.

Von Ina Lohaus 08.10.2019

Forschung & Lehre: Wie wählt man als Faktenfinder aus der Vielzahl der potenziellen Fake News die Aussagen aus, die überprüft und gegebenenfalls widerlegt werden sollen?

Patrick Gensing: Wir prüfen, ob die falschen oder irreführenden Inhalte für eine größere Öffentlichkeit relevant sind. Dafür diskutieren wir jeden Fall in einer Konferenz. Kriterium für die Relevanz ist zum Beispiel die Frage, ob falsche oder irreführende Informationen eine aktuelle Debatte beeinflussen, etwa eine unkorrekte Zahl der Kinder ohne Deutschkenntnisse, oder ob die jeweilige falsche oder irreführende Information prototypisch für viele ähnliche Fake News ist, die kursieren, beispielsweise Vergleiche des gegenwärtigen politischen Systems mit der DDR oder der NS-Zeit. Auch wenn hochrangige Politiker und Politikerinnen oder andere Prominente als Urheber beteiligt sind oder wenn diese zum Ziel von Desinformation werden, ist das ein Auswahlkriterium. Relevant können auch Fake News sein, die nicht den skizzierten Kriterien entsprechen, aber tausendfach im Netz geteilt werden, beispielsweise über angebliche schwere Kriminalitätsfälle.

Patrick Gensing
Patrick Gensing leitet das Projekt "ARD-faktenfinder" auf tagesschau.de. Im Oktober erscheint sein Buch "Fakten gegen Fake News". W. Rohwedder

F&L: Ist das "Faktenfinden" nicht primäre Aufgabe jedes Journalisten?

Patrick Gensing: Politischer Journalismus sollte selbstverständlich faktenbasiert sein. Wir haben auch den Journalismus nicht neu erfunden. Allerdings hat durch die Digitalisierung die Geschwindigkeit im Journalismus deutlich zugenommen, das fördert nicht immer die Genauigkeit und Recherche. Zudem sind wir mit verschiedenen politischen Akteuren konfrontiert, die teilweise offen auf gezielte Falschmeldungen setzen. Vor diesem Hintergrund sind die Faktenchecker-Redaktionen eine Art Rückbesinnung auf die journalistischen Grundwerte, was ich positiv finde. Selbstverständlich recherchieren aber nicht nur Fakten­checker, sondern jeder Journalist ist an die journalistische Sorgfaltspflicht gebunden – und die meisten mir bekannten Kolleginnen und Kollegen bemühen sich nach bestem Gewissen, dieser Pflicht nachzukommen. Im Übrigen definieren wir handwerkliche Fehler, die nicht grob fahrlässig sind, nicht als Fake News. Fehler können immer passieren. Entscheidend ist, ob versehentlich falsche Inhalte verbreitet werden – oder bewusst und gezielt.

F&L: Ist eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Fakten, Deutungen und Interpretationen immer möglich?

Patrick Gensing: Nein, natürlich nicht. Bei Rechtsstreitigkeiten beispielsweise geht es oft um Interpretationen, daher muss häufig letztendlich das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Auch im politischen Diskurs gibt es Abstufungen um Wertung und Meinung. Wir definieren Fake News daher als falsche oder irreführende Darstellung, die bewusst und gezielt verbreitet wird. Als Synonym könnte man von Desinformation oder Propaganda sprechen.

F&L: Gibt es Fake News, bei denen das Ergebnis der Überprüfung Sie besonders  überrascht hat?

Patrick Gensing: Wir gehen nicht mit bestimmten Erwartungen in die Recherche. Überrascht war ich aber von der Dreistigkeit, mit der beispielsweise russische Medien desinformieren, sei es im Fall Skripal oder beim Krieg in Syrien. Was mich in Deutschland überrascht: Viele Diskussionen basieren auf wenigen Fakten, und Expertenmeinungen zählen oft nur wenig. Ein gutes Beispiel ist die Kriminalität: Da werden selektiv verschiedene Statistiken zitiert, die ohne eine weitere Kontextualisierung eigentlich nichts aussagen. Zahlen eignen sich zur Irreführung und Instrumentalisierung besonders gut, ihnen haftet eine Aura des Faktischen an. Tatsächlich sagen sie ohne Kontext oft gar nichts aus oder führen sogar in die Irre.