Prof. Dr. Jürgen Zulley
privat

Regeneration
"Wir brauchen den Schlaf, um kreativ zu sein"

Es ist schnell passiert: Die Stunden streichen dahin und wieder hat man zu wenig Schlaf bekommen. Professor Dr. Jürgen Zulley erklärt die Folgen.

Von Vera Müller 08.07.2018

F&L: Immer mehr Menschen schlafen zu wenig und zu schlecht, sind übermüdet, gereizt und unkonzentriert. Schätzen wir den Schlaf nicht genug?

Jürgen Zulley: Lange Zeit betrachtete man den Schlaf als vertane Zeit. Mein Eindruck ist jedoch, dass der Schlaf in den vergangenen zwanzig Jahren wieder mehr wertgeschätzt wird. Das liegt wohl an dem verstärkten Gesundheitsbewusstsein. Aber Sie haben recht: In der Tat betrachten viele den Schlaf als etwas Überflüssiges, ähnlich wie das Zitat von Rainer Werner Fassbinder "Schlafen kann ich noch, wenn ich tot bin." Fassbinder starb mit 37 Jahren und konnte dann sozusagen nachholen, was er nicht geschätzt hat. Viele Menschen, vor allen Dingen Männer, geben gerne damit an, wie wenig Schlaf sie brauchen. Das ist eigentlich eher ein Zeichen von Dummheit. Der Schlaf ist Grundvoraussetzung für Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Wohlbefinden. Insofern muss gerade der, der auf Leistung achtet, ausreichend schlafen. Selbst in der Wissenschaft herrschen diese abschätzigen Bewertungen vor. Die Schlafforschung ist relativ jung, und das hängt unter anderem damit zusammen, dass sich auch die akademischen Kreise nicht mit dem sog. Nichtstun befassen wollten.

F&L: Wie stark bestimmen die Gene, wie viel Zeit ein Mensch mit Schlafen zubringt?

Jürgen Zulley: Auch die Gene geben uns vor, wie viel Schlaf wir benötigen. Allerdings sind auch andere Faktoren wie Lebensalter, Jahreszeit, Geschlecht oder Gewohnheit von Bedeutung. Ebenso spielen die Gene eine Rolle, ob man eher der Morgen- oder der Abendmensch ist oder ob man überhaupt gut oder schlecht schläft.

F&L: Wie wichtig ist der Schlaf für die Festigung von Wissen und für unsere schöpferischen Fähigkeiten?

Jürgen Zulley: Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass der Schlaf sehr wohl etwas mit unseren Lernvorgängen zu tun hat, wenn auch nicht dergestalt, dass wir im Schlaf lernen. Aber das am Tag Gelernte, das Wissen, das wir aufgenommen haben, wird während des Schlafs abgespeichert. Wir brauchen also für die Festigung der Lerninhalte unbedingt den Schlaf. Studien zeigen zum Beispiel, dass Menschen, die nach dem Lernen von Vokabeln schliefen, die Vokabeln besser wiedergeben konnten als solche, die nicht schliefen. In einem weiteren Experiment standen Probanden vor sehr schwierigen Problemlösungsaufgaben, die sie zunächst nicht lösen konnten. Der Gruppe, die geschlafen hatte, gelang es nach dem Schlaf wesentlich häufiger, die Probleme zu lösen als der anderen – interessanterweise nicht dergestalt, dass die Gruppe nach dem Schlaf bewusst überlegte, auf welche Weise das schwierige Problem zu lösen ist, die Lösung kam vielmehr blitzartig. Während wir also schlafen, werden die neuen Inhalte den vorhandenen zugeordnet und so kommen wir auf neue Lösungen von Problemen. Um kreativ zu sein, brauchen wir den Schlaf dringend.

F&L: …und wann und warum träumen wir?

Jürgen Zulley: Diese Frage ist schwierig. Träume sind ein ganz heikles Thema, weil sie wissenschaftlich nur sehr schwer zu erfassen sind. Über Träume gibt es relativ wenig wissenschaftliche Erkenntnisse, wir haben lediglich Traumberichte. Träumen entsteht in einem ganz bestimmten Schlafstadium, dem sogenannten REM-Schlaf. Der REM-Schlaf wird auch paradoxer Schlaf genannt, weil es unserem Verständnis von Schlaf völlig widerspricht, was in dieser Phase stattfindet: Das Gehirn hat einen größeren Energieumsatz, was nichts anderes bedeutet, als dass wir in diesem Schlafstadium praktisch wacher sind als im Wachstadium. Das entspricht nicht dem allgemeinen Verständnis von Schlaf.

"Im Innern des Organismus werden die Energiespeicher aufgefüllt, um dann am Morgen für die Reize von außen wieder bereit zu sein." Jürgen Zulley

F&L: Schlaf ist also "kein Ruhezustand für das Gehirn, sondern mehr ein Unruhezustand?"

Jürgen Zulley: Nachts sind – ich spreche jetzt mal sinnbildlich – die Türen nach draußen verschlossen, die Kontakte mit der Außenwelt werden erheblich reduziert. Im Innern des Organismus werden die autonomen Reparaturmechanismen in Gang gesetzt, es wird gearbeitet und es werden Energiespeicher aufgefüllt, um dann am Morgen für die Reize von außen wieder bereit zu sein. Die nächtliche "Arbeit" ist die Grundvoraussetzung, um tagsüber leistungsfähig zu sein.

F&L: Was beeinflusst beziehungsweise beeinträchtigt unseren Schlaf besonders?

Jürgen Zulley: Um schlafen zu können, müssen wir in einen Entspannungszustand kommen. Alles, was die Entspannung stört, stört den Schlaf. Das können so banale Dinge wie zu unregelmäßiges Zu-Bett-gehen und Aufstehen sein. Oder Stress, den wir vom Tag in den Schlaf mitnehmen beziehungsweise zu schweres Essen am Abend. Auch eine zu hohe Temperatur im Schlafzimmer stört den Schlaf, ebenso Umgebungsbedingungen wie zum Beispiel Lärm. All das führt zu einer Anspannungsreaktion des Organismus. Der Goldstandard des Schlafs ist mentale, körperliche und seelische Entspannung. Wichtig ist aber auch unser Bewusstsein, unsere Bewertung der Situation. Ein häufiger, den nächtlichen Schlaf störender Faktor ist das nächtliche Grübeln.

F&L: Sie schreiben, Menschen schätzen ihre schlaflosen Phasen selbst häufig als zu hoch ein. Die Selbstwahrnehmung entspricht hier also nicht immer der Realität…

Jürgen Zulley: Ein ganz häufiges Phänomen, das wir vor allen Dingen bei Menschen finden, die davon ausgehen, ihr Schlaf sei gestört. Man nennt das Schlafwahrnehmungsstörung. Bei der Messung stellt sich häufig heraus, dass Menschen länger geschlafen haben als sie selbst meinen. Ein weiterer wichtiger Mechanismus kommt hinzu: Wir wachen nachts häufig auf, und je nachdem, in welchem Zustand ich mich in dieser kurzen Wachphase befinde, bin ich angespannt und unruhig. In diesem Fall bewerte ich den Schlaf insgesamt als kürzer. Ich habe also nicht den Schlaf im Blick, sondern unbewusst die Wachphasen, die eigentlich völlig normal sind. Der durchschnittliche Schläfer wacht 28-mal in der Nacht auf, jedoch so kurz, dass er unmittelbar wieder einschläft und vergisst, dass er wach war. Wenn ich jedoch aufwache und mich darüber ärgere, dass ich aufgewacht bin, bin ich angespannt, und hier liegt der eigentliche Grund des Nicht-schlafen-Könnens. Nicht das Aufwachen in der Nacht ist das Problem, sondern das Nicht-wieder-einschlafen-Können. Mit Schlafproblemen beginnen in der Regel auch diese falschen Bewertungen und eine Fixierung auf das Problem. Wir wissen, dass bei Menschen mit handfesten Ein- und Durchschlafstörungen nicht so sehr der objektive Schlaf gestört sein muss, sondern die subjektive Bewertung des Schlafs.

F&L: Lässt sich ein über die Woche angehäuftes Schlafdefizit ohne große gesundheitliche Nachteile am Wochenende ausgleichen?

Jürgen Zulley: Einer aktuellen Studie zufolge kann das gelingen. Ich bin jedoch vorsichtig und würde sagen, zum Teil. Ob das wirklich in Gänze passiert, bezweifle ich. Wenn wir mal eine Nacht schlecht geschlafen haben, geschieht das Wiederaufholen des fehlenden Schlafs automatisch. Allerdings nicht so sehr über die Schlafdauer, sondern über die Qualität des Schlafs, denn die ist für den Erholungswert des Schlafs verantwortlich. Der entscheidende Faktor ist hier der echte Tiefschlaf. Wenn man in einer Nacht nicht schläft, verdoppelt sich in der folgenden Nacht die Zeit des Tiefschlafs auf Kosten aller anderen Schlafstadien. So wird automatisch der fehlende Schlaf nachgeholt. Wer die Woche über und damit mehrere Nächte hintereinander nicht gut schläft, kann das Defizit am Wochenende sicher zu einem großen Teil kompensieren.

F&L: Der Mittagsschlaf genießt in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern nicht den besten Ruf…

Jürgen Zulley: Auch bei uns war der Mittagsschlaf früher üblich. Die Industrialisierung hat diese biologische Notwendigkeit einer mittäglichen Ruhepause abgeschafft. Maschinen brauchen keine Pausen. Hinzu kommt, dass der Schlaf in unserem Kulturkreis eine grundsätzlich negative Konnotation hatte. Und wer tagsüber schlief, galt als "Penner". Das glich einer Arbeitsverweigerungshaltung. Dabei haben wir um die Mittagszeit ein biologisches Tief, ähnlich, aber nicht so ausgeprägt dem, das wir nachts gegen drei Uhr haben. Wir sollten in dieser Zeit eine kurze Ruhepause einlegen, denn danach sind wir wieder deutlich leistungsfähiger. Untersuchungen zeigen, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Menschen, die mittags eine Ruhephase einlegen, abnehmen. Der Mittagsschlaf sollte allerdings nicht länger als 30 Minuten dauern, sonst hat er die gegenteilige Wirkung. Nach einem längeren Schlaf braucht es sehr lange, bis man wieder den Wachzustand erreicht. Darüber hinaus stört ein zu langer Mittagsschlaf das Einschlafen am Abend. Wenn man jedoch abends lange wach bleiben will, hilft es, mittags vorzuschlafen.

F&L: Wie schlafe ich abends am besten ein?

Jürgen Zulley: Zu einer bestimmten Uhrzeit am Abend sollte Schluss mit dem Medienkonsum sein. Medienkonsum kann wieder zu einer Art Anspannung führen und wir wissen auch, dass das blaue Licht der Bildschirme eine anregende Wirkung hat. Grundsätzlich sollten wir den Schlaf als etwas Positives sehen, als Genuss. Es wäre das Schlimmste, wenn wir den Schlaf als Aufgabe betrachten würden. Schöne ruhige Musik hilft, wir nennen das monotone Stimulation, von den Gedanken an den Tag und möglichen Sorgen wegzukommen. Auch Lesen ist eine gute Strategie, in den Schlaf zu finden. Allerdings sollte es kein Fachbuch oder Krimi sein, sondern etwas möglichst Positives. Das gleiche gilt für Hörbücher. Hörspiele wiederum sind nicht so gut geeignet, weil sie aufregend und aufwühlend sein können.

Literaturhinweis

Von Professor Dr. Jürgen Zulley ist kürzlich das Buch "Schlafkunde. Wissenswertes rund um unseren Schlaf" im Mabuse-Verlag erschienen.