Grafik von Affenpocken-Viren auf blauem Hintergrund
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Zoonosen und Pandemien
"Wir sind Zeuge der Transformation eines Erregers"

Im Frühjahr traten ungewöhnliche Affenpocken-Infektionen in Europa auf. War die Sorge vor einer neuen Pandemie berechtigt? Ein Virologe zieht Bilanz.

Von Claudia Krapp 28.09.2022

Forschung & Lehre: Herr Professor Hengel, die Affenpocken waren zuletzt in aller Munde. Wie sieht der Affenpockenerreger eigentlich aus, was für ein Virus ist das?

Hartmut Hengel: Der Erreger der sogenannten Affenpocken ist das Monkeypox virus, MPXV. Taxonomisch gehört es zu den Orthopockenviren. Es hat deren Morphologie und genetische Grundstruktur in Form eines fast 200 Kilobasen langen Doppelstrang-DNA-Genoms, das für circa 200 Proteine kodiert. Orthopockenpartikel sind mit etwa 250 Nanometer im Vergleich zu anderen Viren extrem "groß". Die Gattung der Orthopocken umfasst unter anderem das Variolavirus, den hochpathogenen Erreger der menschlichen Pocken, sowie zahlreiche verwandte Viren, die bei Säugern vorkommen. Orthopockeninfektionen lösen infolge ihrer engen Verwandtschaft kreuzreaktive Immunantworten aus. Hierauf beruht die Impfprävention durch die Pockenimpfstoffe, die auf Vaccinia-Viren basieren und die eine erfolgreiche Ausrottung des humanen Variolavirus ermöglicht haben.

Portraitfoto von Prof. Dr. Hartmut Hengel
Professor Hartmut Hengel ist Ärztlicher Direktor am Institut für Virologie des Universitätsklinikums Freiburg und Altpräsident der Gesellschaft für Virologie. Britt Schilling / Universitätsklinikum Freiburg

F&L: Welche Erkrankungen verursacht der Affenpockenerreger?

Hartmut Hengel: Bei menschlichen MPXV-Infektionen werden sehr unterschiedlich schwere Verläufe beobachtet. Ebenso variabel ist die Inkubationszeit, die zwischen 5 und 21 Tagen liegt. Die Verlaufsformen reichen von asymptomatischen Infektionen bis zu schweren Erkrankungen, selten bis zum Tod. Der Schweregrad der klinischen Symptome wird von Faktoren des Virus und des Individuums bestimmt. So spielt der Genotyp des MPXV eine Rolle – das heißt, welche genetische Variante vorliegt –, der Ansteckungsweg und Dispositionsfaktoren des Menschen wie das Alter sowie eine im Einzelfall vorhandene Teilimmunität gegen Orthopockenviren, zum Beispiel infolge einer früheren Pockenschutzimpfung. In der Regel manifestiert sich eine MPXV-Infektion in Form von Allgemeinsymptomen wie Fieber sowie mit Entzündungen der Haut und Schleimhäute, die sich deutlich vom umliegenden Gewebe abgrenzen. Diese präsentieren sich morphologisch oft recht unterschiedlich und nicht nur an den Körperstellen, die unmittelbaren Kontakt mit dem Virus hatten. Man findet das Virus auch im Blut, Rachen und Urin, was eine systemische Virusausbreitung impliziert.

F&L: Wie erfolgt der Nachweis der Erkrankung an Affenpocken?

Hartmut Hengel: Der Nachweis erfolgt aus Abstrichmaterial der Patienten. Darin wird das Viruserbgut, die MPXV-DNA, durch die Polymerase-Ketten-Reaktion (PCR) nachgewiesen; also ähnlich wie beim Corona-Nachweis.

F&L: Mit Blick auf die Corona-Pandemie waren viele besorgt, die nächste Pandemie könnte bereits anstehen. Inwieweit haben die Affenpocken das Potenzial zur Pandemie?

Hartmut Hengel: Pandemien resultieren aus dem Wirtswechsel zoonotischer Erreger auf den Menschen. Eine für den Infektionserreger so fundamentale Veränderung seiner Existenz bedingt entscheidende Änderungen in seinem genetischen Programm. Daher treten RNA-Viren wie zum Beispiel Influenza- oder Coronaviren mit ihren relativ hohen Mutationsraten viel häufiger als Pandemieerreger in Erscheinung als DNA-Viren, die geringere Mutationsraten aufweisen. Sporadische Übertragungen des MPXV-Erregers auf den Menschen sind über Jahrzehnte beobachtet worden, und zwar dort, wo das Virus endemisch ist, das heißt kontinuierlich zirkuliert. MPXV kommt in getrennten Kladen in Zentral- beziehungsweise Westafrika bei Nagern und Hörnchen vor, dabei sind Übertragungen aus diesen Reservoirs auf Primaten offenbar häufig. Qualitativ neu ist die jetzt eingetretene fortgesetzte Etablierung der Mensch-zu-Mensch-Übertragung und die damit verbundene weltweite Verbreitung dieses MPXV-Stammes auf allen Kontinenten. Wir sind somit Zeuge der Transformation eines ursprünglich zoonotischen Erregers hin zu einem an den Menschen angepassten MPXV. Dieser Prozess wird durch die weitgehende Abwesenheit einer Orthopocken-Immunität in der Bevölkerung begünstigt. Mit der neu aufgetretenen weltweiten Verbreitung erfüllt MPXV ein Kriterium für eine Pandemie, es fehlen aber bisher hohe Infektionszahlen und eine Krankheitslast, welche die Gesellschaft bedroht. Die niedrige Basisreproduktionsrate von MPXV steht in Verbindung mit den vorherrschenden Übertragungswegen, die über die Berührung von Haut und Schleimhäuten verlaufen, etwa im Rahmen von Sexualkontakten. Aber auch über Alltagsgegenstände können die relativ umweltresistenten infektiösen Viren weitergegeben werden. Unklar ist, ob es eine nennenswerte Übertragung über den Atemweg gibt.

"Das Affenpockenvirus scheint eine 'beschleunigte Evolution' durchgemacht zu haben."

F&L: Wie (un)gewöhnlich schnell oder weit haben sich die Affenpocken aktuell ausgebreitet im Vergleich zu früheren, lokalen Ausbrüchen in Afrika?

Hartmut Hengel: Tatsächlich ist der jetzige Ausbruch mit aktuell 65.000 gemeldeten Fällen aus mehr als 107 Ländern anders und trotzdem gehen in Deutschland und einigen anderen Ländern die Infektionszahlen inzwischen wieder deutlich zurück. Der aktuelle Ausbruchserreger unterscheidet sich eindeutig von den Virusvarianten, die noch vor wenigen Jahren bei sporadischen Ausbrüchen festgestellt wurden. Das Affenpockenvirus scheint eine "beschleunigte Evolution" durchgemacht zu haben. Dies wird als Ausdruck der besseren genetischen Anpassung an den Menschen gewertet. Die zwischenzeitliche Abnahme der Infektionszahlen in Deutschland dürfte daran liegen, dass sich das Virus beim aktuellen Ausbruch ganz vorwiegend unter Männern, die Sex mit Männern (MSM) haben, ausgebreitet hat, vor allem in den mobilen und promiskuitiveren MSM Communities. Diese Männer sind inzwischen gut aufgeklärt und schützen sich erfolgreich, zum Beispiel durch die Impfung.

F&L: Was bedeutet es, dass sich inzwischen auch einige Personen außerhalb des anfangs beobachteten Haupt-Betroffenenkreises (MSM) infiziert haben? War die Anfangsbeobachtung ein Trugschluss als Folge falscher Annahmen oder als Folge schlechter Nachweise oder Erfassungswege?

Hartmut Hengel: Viren sind auf Übertragungsereignisse und auf empfängliche Wirte existenziell angewiesen, mit anderen Worten auf ausreichende Kontakte zwischen ihren Wirten. Auch bei scheinbar stark auf sich bezogenen sozialen Gruppen entstehen Kontakte nach außen und damit "spill over"-Ereignisse des Erregers. Bei einem ursprünglich zoonotischen Erreger wie MPXV schließt dies übrigens Übertragungen auf Haustiere mit ein. Man muss also damit rechnen, dass MPXV sich auch außerhalb der MSM-Community zunehmend etablieren kann.

F&L: Ähnelt die erste Reaktion auf Affenpocken der ersten Reaktion auf HIV, das fälschlicherweise zunächst als "unwichtig" abgetan wurde und als Krankheit, die nur Homosexuelle bekommen können?

Hartmut Hengel: Viele neue Infektionskrankheiten führen anfänglich zu Fehlwahrnehmungen. Dies schließt Nichtbeachtung, verdrängende Projektionen auf gesellschaftliche Minderheiten wie MSM, aber auch Krankheitsängste und Hypochondrie mit ein. Berichte über MPXV-Infektionen bei Frauen, Kindern und Haustieren können dazu beitragen, diese Klischees zu überwinden.

"Viele neue Infektionskrankheiten führen anfänglich zu Fehlwahrnehmungen."

F&L: Warum hat die WHO den Krankheitsausbruch erst rund zwei Monate später als "Notlage von internationaler Tragweite" eingestuft?

Hartmut Hengel: Die WHO hat Zeit gebraucht, um verlässliche Daten aus unterschiedlichen WHO-Regionen zu sammeln und fachliche Bewertungen entscheidungsreif zu machen. Das eingesetzte ad hoc-Komitee sah sich dabei mit einer neuen und unerwarteten Situation konfrontiert, die eine koordinierte Entscheidung mit erheblichen Implikationen für die internationale Staatengemeinschaft verlangt, etwa mit Blick auf die Verteilung der sehr knappen Impfstoff- und Medikamentenvorräte. Das ist keine einfache Materie, und jeder weiß um die politisch und finanziell schwierige Situation der WHO.

F&L: Ab wann sind Sie als Virologe bei einem Ausbruch in Alarmbereitschaft?

Hartmut Hengel: Als klinischer Virologe ist man ganz generell im Bereitschaftsmodus, beziehungsweise 'on alert'. Das bedeutet, dass man entsprechende Diagnostikverfahren beherrschen muss und diese in kürzester Zeit mit Hilfe seiner professionellen Netzwerke verfügbar machen kann. In der nächsten Stufe folgen die Anforderungen der molekularen Surveillance, also der Überwachung im Labor mittels rascher Vollgenomsequenzierungen und bioinformatischer Analysen, um phylogenetische Zusammenhänge – also die Abstammung von Erregern – zu verstehen und Übertragungsketten aufzuklären. Erst der Covid-19-Pandemie verdanken wir in Deutschland die Einsicht, dass wir eine ernsthafte, kontinuierliche "pandemic preparedness" brauchen und diese ohne verlässliche, nachhaltige Strukturen in unserem Gesundheits- und Wissenschaftssystem nicht erreichbar ist. Für die Virologie bedeutet dies, dass wir Hochsicherheitslabore, molekulare Surveillance und last but not least akademischen sowie ärztlichen Nachwuchs brauchen.

F&L: Unterschätzen wir Menschen die Gefahr durch die Affenpocken möglicherweise, weil wir derzeit mit Corona an eine bedrohlichere Infektionskrankheit gewöhnt sind? Wie schnell kann sich die Gefahr durch Affenpocken wieder zuspitzen?

Hartmut Hengel: Unsere Gesellschaft ist im Begriff, mehr Gelassenheit im Umgang mit dem Coronavirus zu erlernen und gleichzeitig vorzusorgen. Die Erfahrungen aus der Covid-19-Pandemie können bei zukünftigen neuen Infektionserregern sicher hilfreich sein, obgleich jede Pandemie vom jeweiligen Erreger bestimmt und anders verlaufen wird. Bisher hat keine allgemeine Gefahr durch den MPXV-Erreger bestanden. Eine solche Situation könnte sich aber zukünftig entwickeln, sofern MPXV seine Übertragungsvorteile weiter steigern kann. Wegen der viel langsameren Evolution von MPXV als DNA-Virus im Vergleich zu Sars-CoV-2, einem RNA-Virus, gibt MPXV den gesundheitspolitisch Verantwortlichen aber mehr Zeit zur Vorsorge.

F&L: Welche medizinischen und epidemiologischen Gegenmaßnahmen halten Sie für notwendig und sinnvoll, um die Ausbreitung der Affenpocken einzudämmen?

Hartmut Hengel: Meines Erachtens muss zum jetzigen Zeitpunkt der strategische Aufbau von ausreichenden Impfstoffvorräten im Vordergrund stehen, zumal der MPXV-Impfstoff auch den Einsatz des Variola-Erregers als Biowaffe und die damit verbundene Option einer hybriden Kriegsführung entscheidend konterkariert. Pharmakologisch wirksame Virostatika, also Medikamente für Infizierte, sind ansatzweise verfügbar, aber ihre präventive Wirksamkeit ist unklar und nicht mit dem der Impfstoffe vergleichbar.

"Wir wissen nicht, aus welcher Ecke der nächste Pandemieerreger kommen wird."

F&L: Welche Art der Forschung wird bei der weiteren Eindämmung helfen? Wo gibt es Forschungslücken?

Hartmut Hengel: Mit der Ausrottung des humanen Pockenerregers und der Abschaffung der Vaccinia-Schutzimpfung gegen die Pocken hatte die Forschung an Pockenviren ihre Bedeutung und Forschungsmittel verloren. Bezüglich des Variola-Erregers gibt es ein sehr strenges Forschungsverbot. Das muss überdacht werden. Virologische Forschung muss zukünftig mehr der enormen Biodiversität viraler Erreger gerecht werden, denn wir wissen nicht, aus welcher Ecke der nächste Pandemieerreger kommen wird.