weißer Hahn auf einem Gartenweg
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Von Viren, Wildtieren und Wäldern
"Wir schaffen uns unsere Krankheiten selbst..."

Die Landwirtschaft verringert die Lebensräume von Wildtieren. Damit steigt die Gefahr, sich bei infizierten Haus- und Wildtieren anzustecken.

Von Matthias Glaub­recht 18.05.2021

Obgleich in erdgeschichtlicher Perspektive gleichsam nur eine "Eintagsfliege der Evolution", ist der moderne Mensch spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – im Zuge der sogenannten "Great Accelleration" des Anthropozäns – durch eine Vielzahl von Einflüssen und Auswirkungen seiner modernen Lebensweise zum entscheidenden Evolutionsfaktor auf diesem Planeten geworden. Längst haben wir drei Viertel der Landoberfläche der Erde zu unserem Nutzen verändert; nicht nur durch unsere Städte, Siedlungen und Verkehrswege, sondern vor allem durch die landwirtschaftlichen Nutzflächen, die unserer Ernährung und Versorgung dienen. Mit dieser Landnutzung durch eine stetig wachsende Weltbevölkerung gerieten, in den vergangenen fünf Jahrzehnten verstärkt, immer mehr Tier- und Pflanzenarten in Bedrängnis – und damit die Biodiversität insgesamt unter Druck. Zwar sind nach den Daten der International Union for Conservation of Nature (IUCN) "nur" etwa um die 800 Wirbeltierarten nachweislich durch den Menschen verursacht ausgestorben, weitere etwa 500 an Land lebende Wirbeltierarten drohen aufgrund nur noch sehr geringer Individuenzahl in naher Zukunft auszusterben. Diesen vergleichsweise niedrigen Zahlen steht jedoch die Warnung des Weltbiodiversitätrats IPBES gegenüber, der vor dem Aussterben von bis zu einer Million Arten in den kommenden Jahren und Jahrzehnten warnt.

Artenschwund gefährdet funktionelle Biodiversität

Neben dieser beunruhigenden Arithmetik eines globalen Artensterbens ist mit dem Verschwinden vieler Arten auch die funktionelle Biodiversität gefährdet – das ökologische Zusammenwirken von Artengemeinschaften in Ökosystemen, insbesondere, weil die Bestände und Verbreitungsgebiete unzähliger Arten geschrumpft sind oder regional vollständig verschwunden sind, während andere Arten gerade in der Nähe des Menschen im Bestand zunehmen. Solche Zusammenhänge müssen wir – nicht erst aus aktuellem Anlass der Covid-19-Pandemie – auch bei Zoonosen in den Blick nehmen.

Jedes Jahr erkranken Millionen Menschen an diesen vom Tier auf den Menschen überspringenden Krankheiten, viele sterben daran – die meisten in Asien und Afrika. Etwa 200 Zoonosen sind bekannt, die weitaus häufiger vorkommen, als uns meist bewusst ist. Immerhin stammen etwa zwei Drittel aller unserer Krankheiten von Nutztieren wie Schweinen, Hühnern oder Rindern, mit denen viele Menschen gerade in ärmeren Ländern auf engstem Raum zusammenleben. Unsere Kinderkrankheiten wie Masern, Mumps und Röteln sind ursprünglich von domestizierten Tieren übergesprungene Seuchen. Sie haben einst die Geschichte und Geschicke einer immer dichter siedelnden Menschheit bestimmt. Eine weitere zoonotische Quelle sind Hausmäuse und andere eng mit dem Menschen assoziierte Nagetiere, wie etwa die den Pestfloh übertragenden Ratten.

Zoonosen: Von Wildtieren zum ­Menschen

Ein anderer Infektionsweg epidemischer Zoonosen führt von Wildtieren zum Menschen, bevor sich dann mutierte Erreger auch von Mensch zu Mensch verbreiten. Inzwischen sind wir immer weiter in die einst abgelegenen Lebensräume vieler Wildtiere vorgedrungen, mit denen wir über Wildtiermärkte buchstäblich in Berührung kommen – gerade in den bevölkerungsreichsten Regionen wie etwa in West- und Zentralafrika sowie in Ostasien. Befördert durch die Globalisierung gelangen als "neue Seuchen" bezeichnete Infektionskrankheiten aus tropischen Regionen bis zu uns. Das Aids-Virus etwa fand über Schimpansen, die in Zentralafrika häufig gegessen wurden, seinen Weg zum Menschen.

Wie auch die gefürchteten hämorrhagischen Fieber Ebola, Lassa und Marburg haben diese Infektionen ihren Ursprung in Fledertieren – zu denen neben Fledermäusen auch Flughunde gehören. Von diesen sind sie über weitere Wirtstiere auf den Menschen übergesprungen. Dagegen haben etwa Influenzaviren, die – wie etwa vor hundert Jahren die Spanische Grippe H1N1 – zu weltumspannenden Epidemien wurden, ihren Ursprung in Enten- und Gänsevögeln.

Handelsströme sind Einfallstor für Pandemien

Zwar ist das Zusammenspiel insbesondere von virentragenden Fledermäusen und Zwischenwirten im Detail noch weitgehend unverstanden. "Emerging infectious diseases" aber entstehen nicht aus dem Nichts. Ursächlich verantwortlich ist vielmehr, dass gerade in tropischen Regionen immer mehr Menschen leben und diese zunehmend in abgelegene Regionen vordringen. Sie roden dort Wälder, berauben Wildtiere ihres Lebensraums, jagen und bringen sie auf Wildtiermärkte in immer dichter besiedelten Dörfern – und sogar mitten in Millionenstädte wie etwa Wuhan in China. Gerade im bevölkerungsreichsten Land der Erde gilt das Fleisch von Wildtieren als Delikatesse und Statussymbol für eine aufwachsende und wohlhabendere Mittelschicht.

Zudem sind China und andere Länder Südostasiens immer besser global vernetzt. Inzwischen werden Wild- und Nutztiere sowie die aus ihnen gewonnenen Produkte um den ganzen Globus befördert. Die erdumspannenden Handelsströme und der weltweite Reiseverkehr sind das beste Einfallstor für Pandemien, die damit längst keine "Naturkatastrophen" mehr sind.

Indem der Mensch immer mehr Natur zu seinem Nutzen umwandelt, erntet er unabsichtlich auch immer mehr der gefährlichen Infektionskrankheiten wie zuletzt Sars oder jetzt Corona. Wir schaffen uns unsere Krankheiten also selbst, indem wir mit der Umwandlung natürlicher Ökosysteme in menschengemachte Lebensräume bestimmten Arten ideale Bedingungen bieten. Tödliche Viren kommen nicht plötzlich und unvermittelt aus der unberührten Wildnis abgelegener Urwälder zu uns; vielmehr lauert die Gefahr in den zu Nutzflächen des Menschen umgewandelten Habitaten – in neuen Agrarflächen, entlang der jüngsten Siedlungsränder und dort, wo Wildtiere vermehrt in Berührung mit Menschen kommen.

Sars und Mers waren ein Weckruf

Für viele Virologen und Evolutionsbiologen war der Ausbruch von Epidemien wie Sars und Mers ein Weckruf; umso mehr sollte es nun der gegenwärtige Ausbruch von Covid-19 sein. Aus zoologischer Sicht besteht die Gefahr, dass zukünftige Epidemien mehrere Hundert Millionen Menschen töten und den Planeten in eine jahrzehntelange Depression stürzen könnten, wie sie die Geschichte nie gekannt hat, sofern das Virus tödlicher ist als Sars-CoV-2. Wir müssen deshalb ein Interesse daran haben und wirkungsvolle Maßnahmen entwickeln, um das weitere Schrumpfen von Lebensraum für Wildtiere zu verhindern und die Abholzung der Wälder in den Tropen zu stoppen. Vor allem aber müssen wir nicht nur die gefährlichen Wildtiermärkte dauerhaft schließen und verbieten, sondern Verzehr und Handel von Wildtieren weltweit rigoros unterbinden, um zu verhindern, dass weitere Viren vom Tier auf den Menschen überspringen. Neben Impfstoffen und Strategien zur Infektionskontrolle müssen wir die Evolution von Viren besser erforschen und dringend die Mechanismen der Ausbreitung und Übertragung von Zoonosen verstehen lernen.

Wir sollten die neuerdings vermehrt auftretenden Coronaviren als ein unmissverständliches Signal sehen, dass Artenwandel und Umweltzerstörung letztlich auch uns Menschen umbringen könnten. Und dass es billiger ist, unsere Lebensweise zu ändern als weltweit die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen weiterer Viren-Ausbrüche zu riskieren. Noch bevor die gegenwärtige Infektionswelle überwunden ist, lässt sich vorhersagen, dass anderenfalls die nächste durch Zoonosen verursachte Pandemie nur eine Frage der Zeit sein wird.