Illustration von planetaren Grenzen: Ein Junge betrachtet den Planeten Erde, der auseinander bricht
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Biodiversität
Wissenschaft sieht zu wenig Fortschritt beim Naturabkommen

Die Artenvielfalt schwindet global massiv. Deswegen hat die Weltgemeinschaft vor einem Jahr Abhilfe versprochen. Bei der Umsetzung hapert es.

21.12.2023

Heute vor einem Jahr haben rund 200 Staaten im Rahmen der Weltnaturkonferenz COP15 in Montréal ein neues Weltnaturabkommens verabschiedet. Es soll den dramatischen Verlust der biologischen Vielfalt, der vor allem durch Bevölkerungswachstum mit der Ausbreitung der Städte, die Umwandlung von Naturflächen in Weiden und Anbauflächen, Umweltverschmutzung und den Klimawandel verursacht wird, bis 2030 stoppen oder sogar umkehren. Das ist ein Meilenstein für den Naturschutz, so Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Doch es mangelt  trotz Fonds sowohl an Geld, als auch an der Umsetzung. Auch hierzulande sind Expertinnen und Experten nicht zufrieden und ziehen keine gute Bilanz.

Das Übereinkommen über die biologische Vielfalt gibt es schon seit 1993. Doch erst dreißig Jahre später beschlossen die 200 Staaten beim Weltnaturgipfel in Kanada, dass ärmere Länder bis 2025 mit jährlich 20 Milliarden und bis 2030 mit jährlich 30 Milliarden Dollar unterstützt werden. "Die Einrichtung des globalen Naturschutz-Fonds war ein wichtiger Schritt, um die nötigen Ressourcen zu mobilisieren", sagte David Ainsworth, Sprecher des Sekretariats des Übereinkommens von 1993. Und auch das UN-Umweltprogramm (UNEP) sieht es als wichtigen Fortschritt bei der Finanzierung. 200 Millionen Dollar sind inzwischen schon durch Beiträge verschiedener Länder im Topf, so dass der Fonds seine Arbeit aufnehmen kann. Anfang 2024 soll über erste Projekte entschieden werden, die im Laufe des Jahres finanziert werden.

Es gibt aber auch Kritik. Es fließe nicht genügend Geld in Länder des globalen Südens, so der WWF Deutschland. "Die feierlich verabschiedeten Ziele lösen sich in Luft auf, wenn selbst ein reiches Industrieland wie Deutschland nicht das versprochene Geld bereitstellt", sagte Florian Titze von der Umweltschutzorganisation gegenüber der deutschen Presse-Agentur (dpa). Bei der UN-Generalversammlung in New York vergangenes Jahr hatte Bundeskanzler Olaf Scholz viel zugesichert: Deutschland werde ab 2025 jährlich 1,5 Milliarden Euro für den internationalen Biodiversitätsschutz bereitstellen. "Die Natur kümmert sich nicht um die Haushalts- und Schuldenbremse. Neben dem Vertrauensverlust stehen die Biodiversitätshotspots der Erde auf dem Spiel, von denen die Lebensgrundlagen aller Menschen abhängen", erklärt Titze, Experte für internationale Politik von der Natur- und Umweltschutzorganisation WWF.

Wissenschaft: Deutschland muss viel mehr für Naturschutz tun

Auch die Wissenschaft sieht beim Thema Weltnaturabkommen, obwohl sie es per als Wendepunkt einschätzt, zu wenig Fortschritt. Auch hierzulande. Professor Dr. Matthias Glaubrecht, vom Institut für Biodiversität an der Universität Hamburg, findet, dass Deutschland sich mit dem Naturschutz schwertue. Das habe gerade die Debatte um die Einrichtung eines Nationalparks Ostsee vor Fehmarn wieder einmal gezeigt. Ökologie-Professorin Katrin Böhning-Gaese von der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main sieht das ähnlich. "Derzeit ist der Schutz in deutschen Schutzgebieten in der Regel nicht sehr effektiv", sagte Böhning-Gaese gegenüber der dpa. "Nur 25 Prozent der Arten und 30 Prozent der Lebensräume in Flora-Fauna-Habitat-Gebieten sind in einem guten Erhaltungszustand."

"Auch beim Abbau umweltschädlicher Subventionen, wie der Abschaffung einer reduzierten Mehrwertsteuer bei Flügen und Fleisch, auf die sich Deutschland in Montreal ebenfalls verpflichtet hat, tut sich außer Reden nicht viel", so Glaubrecht gegenüber der dpa. Er war Direktor des Centrums für Naturkunde in Hamburg und ist inzwischen wissenschaftlicher Projektleiter vom Evolutioneum des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels. "Ich sehe keine wirklich wirksame Initiative seitens der Bundesregierung, die Ziele des Weltnaturabkommens zeitnah umzusetzen."

Das sieht Böhning-Gaese genauso: "Es gibt noch keine neue Nationale Biodiversitätsstrategie. Selbst in Bezug auf das Flaggschiffziel, bis zum Jahr 2030 dreißig Prozent der Landes- und Meeresfläche effektiv zu schützen, ist Deutschland nicht spürbar vorangekommen", sagte sie gegenüber "Forschung & Lehre".  

Laut Böhning-Gaese sollte auf vielen Ebenen etwas passieren: Es bräuchte eine ambitionierte Nationale Biodiversitätsstrategie. Darüber hinaus sollten bis zum Jahr 2030 zehn Prozent der Landes- und Meeresfläche unter strengen Schutz gestellt werden; das gibt die Europäische Biodiversitätsstrategie vor. Idealerweise bedeute das zehn Prozent der Fläche mit nur sehr geringer menschlicher Nutzung. Eine zweite Komponente wäre, das Renatuierungsziel umzusetzen, also dreißig Prozent der degradierten Meeres- und Landflächen wieder herzustellen. Zusätzlich bräuchte es Ansätze für Konsum, Ernährung und Subventionen, sowie Berichterstattungspflichten von Unternehmen und Finanzinstitutionen, erläutert die Ökologie-Professorin. "Förderung von Biodiversität geht uns alle etwas an", sagt Böhning-Gaese.

Forschung und Lehre spielen eine Schlüsselrolle für die Biodiversität

Die Ökologie-Professorin plädiert für mehr inter- und transdisziplinäre Forschung, interdisziplinär über unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen, transdisziplinär zusammen mit Praxisakteuren. Wichtige Fragen laut Böhning-Gaese sind: Wie misst man das Risiko eines Unternehmens, durch Verlust der Biodiversität betroffen zu werden; wie misst man den Fußabdruck eines Unternehmens auf Biodiversität und Ökosysteme? Studierende mit solchen Kenntnissen werden von Unternehmen gerade händeringend gesucht. Entsprechend könnten nachhaltige Geschäftsmodelle entwickelt, Rechtsprechung und Konsum- und Ernährungsverhalten jeder und jedes Einzelnen geändert werden.

"Die gute Nachricht ist, dass die notwendigen Veränderungen gar nicht riesig sind, sondern im wesentlichen in die richtige Richtung gehen müssen", sagt Böhning-Gaese. Es reiche eine Reduzierung des Fleischkonsums, um innerhalb planetarer Grenzen zu leben, man müsse gar nicht vegetarisch oder vegan leben. "Konkret reicht es, zurück zum Sonntagsbraten zu gehen", sagt die Ökologie-Professorin, die in ihrer Familie auch wenig Fleisch konsumiert und wenn dann von Weidetieren aus der Region. "Wir minimieren die Lebensmittelverschwendung. Unser Garten ist eine bunte, diverse Wildnis mit vielen Vögeln und Insekten. Wir reisen mit der Bahn in den Urlaub."
 
Derzeit sind eine der geschätzt acht Millionen Arten vom Aussterben bedroht. Die Aussterberaten liegen derzeit zehn bis hundert Mal höher als in den letzten zehn Millionen Jahren, so Böhning-Gaese: "Wir stehen am Beginn des sechsten Massenaussterbens der Erdgeschichte." Dies beeinträge nachweißbar unseren Wohlstand, unsere Gesundheit und unsere Kultur. "Allerdings zeigen globale Biodiversitätsmodelle, dass eine Wende noch möglich ist, dass die Biodiversität wieder ansteigen kann. Mit der Umsetzung des Weltnaturabkommens würden wir dieses Ziel sehr wahrscheinlich erreichen."

Aktualisierte Version mit Einschätzungen von Ökologie-Professorin Katrin Böhning-Gase, zuerst veröffentlicht am 19. Dezember.

kfi