Hochschullehrerin des Jahres 2023
"Expeditionen machen ein bisschen süchtig"
Forschung & Lehre: Frau Professorin Boetius, Sie waren häufig und lange auf Forschungsexpeditionen. Inwiefern unterscheidet sich Ihr wissenschaftlicher Alltag dadurch von anderen Forschenden?
Antje Boetius: Während meiner gesamten Karriere waren Expeditionen für mich Erholungsmomente. Das hört sich vielleicht verrückt an, weil man auf Expeditionen ganz schön schuftet. Aber diese Konzentration auf einen Prozess, der Erkenntnisgewinn und das Forschen an sich sind etwas Wundervolles. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben nicht die Möglichkeit, wochenlang ausschließlich forschen zu können. Auf Expeditionen lässt man den hektischen Alltag mit ständigen Anrufen und E-Mails hinter sich und kann mit seinem Team ungestört forschen. Das hat mir immer wieder einen Moment des Glücks verschafft, weil ich so gerne forsche. Im Ozean bringt zudem fast jeder Tag ein Wunder, ein Lebewesen oder Naturphänomen, über das man staunt. Expeditionen machen daher ein bisschen süchtig. Meist kommt man, obwohl man viel gearbeitet hat, viel erholter, fröhlicher und entspannter zurück, als wenn man jeden Tag im komplexen Alltag von Forschung und Lehre arbeitet und all die anderen Prozesse bedient, die noch zur Wissenschaft gehören.
F&L: Türmt sich das alles denn nicht, bis Sie wieder zurück sind?
Antje Boetius: Natürlich muss man vor und nach Expeditionen mehr tun, weil über den Zeithorizont etwas von einem erwartet wird. Da sind Doktoranden, die auf Rückmeldung warten, Paper, die geschrieben werden wollen, und viel Bürokratie. Durch die lange Abwesenheit lernt man aber effizient zu organisieren und schafft sich ein gutes Vertretungssystem. Die Leute, die oft und lange weg sind, haben meist ein besseres Supportsystem. In meinem Team zum Beispiel müssen andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schon früh meine Aufgaben übernehmen und mich vertreten können. So fördert man auch Unabhängigkeiten. Probleme während der eigenen Abwesenheit stauen sich so nicht unbedingt auf. Wenn in meiner E-Mail steht "Frau Boetius ist zwei Monate am Nordpol", warten viele Leute nicht und entscheiden allein.
F&L: Neben Ihrer Forschung betreiben Sie auch freiwillig Wissenschaftskommunikation. Dafür wurden Sie vom Deutschen Hochschulverband zur Hochschullehrerin des Jahres gekürt. Warum machen Sie das?
Antje Boetius: Mich interessiert das Ökosystem Wissenschaft: Wie Wissen entsteht, wie es sich verbreitet, wie es möglich ist, auf die Fragen der Gesellschaft einzugehen, und wie das die Forschung besser macht. Ein paar Jahre lang habe ich praktisch auf jede Frage geantwortet, egal ob von einem sechsjährigen Kind oder einem 60-jährigen Politiker. Dabei habe ich gemerkt, dass besonders der direkte Dialog von der Gesellschaft sehr wertgeschätzt und gut aufgenommen wird. Außerdem hat es mich als Kommunikatorin und damit auch als Forscherin besser gemacht – weil ich eine andere Sprache lernte, weil ich lernte korrekt zu vereinfachen, auch wie ich mit Forschung Wirkung erzeuge und sie gleichzeitig in ihren Kontext stelle. Weil es aber auf Dauer zu viele Fragen zu immer verschiedeneren Themen gab, habe ich mir schrittweise ein kleines Archiv gebaut, aus dem ich Wissen ziehen kann, und wenn die Fragen meinen Horizont übersteigen, empfehle ich andere Expertinnen und Experten. Als Direktorin des AWI bin ich nun Managerin und kann nicht mehr so viel vor Ort anbieten, aber ich schaffe weiter einen direkten Draht in verschiedene Sektoren.
F&L: Welche Rückmeldungen erhalten Sie aus der Gesellschaft?
Antje Boetius: Das Feedback ist sehr direkt und ermutigend. Jeden Tag sagt jemand über unsere Forschung "Wow, das hat mich aber begeistert, das habe ich noch nie gehört." Es kommen auch oft Folgefragen und Denkanstöße. Vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern fehlt ein solches Feedback in ihrem Alltag, da es sich nicht unbedingt direkt aus Messen oder wissenschaftlichem Publizieren einstellt. Ich empfinde es als Bereicherung und lerne viel aus jedem Dialog. Gerade Kinder stellen oft tolle Fragen. Zum Beispiel: "Wenn da unten im Meer kein Licht mehr ist, warum sind die Tiere alle bunt?" Oder: "Vor welches Gericht gehen Fische, deren Zuhause wir bedrohen?" Tatsächlich gibt es eine große Bewegung, die anstrebt, der Natur ein Recht auf Existenz zuzusprechen und uns Menschen als Anwälte einzusetzen.
F&L: Hören Ihnen auch Politiker zu?
Antje Boetius: Bei politischen Beratungen finde ich es effizienter, nicht allein zu kommunizieren, sondern in den Akademien oder in größeren Assessments mitzuarbeiten, wo wir uns als Forschende abstimmen, einen Konsens erarbeiten und mit unseren Papieren gezielt über verlässliche Kanäle an bestimmte Ministerien herantreten. Unsere Erkenntnisse werden dennoch nicht sofort umgesetzt, weil die Politik im Konsensusprozess mit sich selbst und der Gesellschaft ist. Aber durch unsere globalen Messsysteme und die großen Assessments für Weltklimarat und Weltbiodiversitätsrat hat die Wissenschaft an Stimme und Gehör stark gewonnen. Ohne die wissenschaftliche Beratung der letzten 20 Jahre wären wir heute noch nicht da, wo wir jetzt sind. Aber leider agiert die Politik bei Klima- und Biodiversitätsschutz noch immer nicht mit der notwendigen Geschwindigkeit. Daher geht es auch in der Forschung immer mehr um die Verluste und Risiken, die uns erwarten – aber natürlich auch um Lösungen.
"Die Wissenschaft hat an Stimme und Gehör stark gewonnen." Antje Boetius
F&L: In einem Artikel haben Sie kritisiert, dass Ölfirmen wie Exxon lange die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel ignoriert haben...
Antje Boetius: Die Ölkonzerne haben das Wissen nicht nur ignoriert, sie haben es auch aktiv und beharrlich mit unfassbar vielen Mitteln bekämpft. Noch heute begegnen wir den Auswürfen dieser bezahlten PR-Maschinen, die in den 70er Jahren Zweifel am menschgemachten Klimawandel gestreut haben. Deren Lügen sind noch in den Köpfen der Leute, die das Klimawissen fälschlicherweise für zu unsicher halten. Diese Nachwirkungen schaden Gesellschaft und Wissenschaft.
F&L: Hat sich das Bewusstsein in den Unternehmen also nicht gewandelt?
Antje Boetius: Es hat sich sehr stark gewandelt. Dennoch: Ein Vorstand einer großen Aktiengesellschaft kann nicht einen Teil des Gewinns in Infrastruktur zur Transformation stecken, solange die Aktiengesellschaft auf Auszahlung ihres Gewinns beharrt. Selbst wenn der Vorstand "grün" produzieren will, entscheidet er nicht allein. Ich bemerke aber zumindest eine erhebliche Bewegung in den Unternehmen, weil von allen Seiten ein hoher Druck entsteht. Dennoch müssten die Unternehmen sich mehr für ihre Vergangenheit verantworten, so wie wir in der Wissenschaft auch Aufarbeitungsprozesse haben. Wir arbeiten uns zum Beispiel immer noch am Kolonialismus ab. Derzeit geben Museen geraubte Menschenknochen zurück. Solche Prozesse sind wichtig, weil sie uns erlauben, neu anzufangen. Hier könnte die Wissenschaft mehr mit Unternehmen, Politik und Gesellschaft zusammenarbeiten.
F&L: Unterstützung für die Wissenschaft beim Klimaschutz kommt derweil von anderen Akteuren. In den letzten Monaten waren viele Studierende sehr aktiv, indem sie Hörsäle besetzt haben. Was halten Sie davon?
Antje Boetius: Ich würde differenzieren, wer da was mit oder gegen wen macht. In den Hochschulen ist der Platz des Lernens und Ausbildens, ebenso wie des gesellschaftlichen Dialogs. Hochschulen müssen in der Lage sein, auch mit Konflikten auf dem Campus umzugehen. Sie sind und waren schon immer ein Ort der Aushandlungsprozesse. Deswegen werden in Ländern mit Diktaturen immer noch Hochschulen geschlossen, wo das moderne Wissenschaftsprinzip nicht zum Handeln der Regierung passt. Forschende und Studierende werden weltweit wegen ihrer Haltung bedroht und verfolgt. Schade ist es, wenn sich Studierendenbewegungen in ihrem Protest für eine Sache ausschließlich gegen den Lehrkörper wenden und den gemeinsamen kreativen produktiven Dialog verhindern, indem sie nur symbolische Handlungen ausführen, die kurzzeitig Aufmerksamkeit bringen. Wenn Hochschulen nicht mehr arbeitsfähig sind, weil es ständig zu Konflikten, Besetzungen und Krach kommt, ist das ineffektiv. Sinnvoller ist es, wenn Studierende und Unis den Dialog proben und auch andere Räume dafür nutzen. Am Ende muss das gemeinsame Wissen und die Erkenntnis nach draußen getragen werden. Große Unterstützung erfährt die Wissenschaft beim Klimaschutz auch von den zivilen Widerstands- und Protestbewegungen wie Fridays for Future und Scientists for Future. Ich habe aber durchaus auch destruktive Proteste und Besetzungen an den Hochschulen wahrgenommen. Teilweise werden auch einzelne Hochschullehrende herausgegriffen und über Soziale Medien fertig gemacht. Das finde ich schlimm.
F&L: Sie arbeiten inzwischen seit über 30 Jahren in der Hoch- und Tiefseeforschung und der Arktisforschung. Wie haben sich die Meere seither sichtbar verändert?
Antje Boetius: Das Gefühl für die ganz großen Veränderungen bekommt man vor allem aus der Fernerkundung, wo wir Gesamtbilder der Erde erzeugen. Dort sehen wir inzwischen auch jene Veränderungen, die schon lange vorhergesagt waren. Zum Beispiel erleben wir beim Meereis einen drastischen weltweiten Rückgang, in den letzten fünf Jahren nun auch beim antarktischen Meereis. Auch an den Korallenriffen sind unglaubliche Schäden sichtbar, inzwischen haben wir über 70 Prozent Korallenbleiche weltweit. Die heutigen Messungen der globalen Erderwärmung entsprechen erstaunlich genau den Vorhersagen aus der Zeit als ich geboren wurde. Vergleichsweise früh beobachten konnte ich bei meinen eigenen Ozeanexpeditionen, dass wir Menschen überall Spuren hinterlassen, die sich mit der Zeit verstärkt haben. Als Studentin habe ich zum Beispiel Müll mitten aus dem Pazifik geholt, wo es weit und breit keinen Kontinent und keinen Tourismus gab. Damals hielt ich es für Pech. Erst viel später begriff ich: Das war eine statistische Zufallsprobe der damals schon globalen Verschmutzung.
F&L: Wie lange weiß man schon von der Plastikverschmutzung?
Antje Boetius: Einzelne Menschen haben schon sehr früh die Kunststoffverschmutzung der Erde gesehen und darüber berichtet, aber es gab zunächst keine globalen Zahlen. Als ich studiert habe, waren die großen Debatten andere, zum Beispiel der Rückgang der Walpopulationen, die Überfischung oder die planetaren Grenzen. Die Erkenntnis über das Ausmaß unserer Umweltverschmutzung und dass wir so sehr Augenzeugen des Klimawandels werden, waren in der Universität nicht so ein Thema wie heute.
F&L: Haben Sie diese Entwicklungen überrascht?
Antje Boetius: Ich habe nicht damit gerechnet, wie schnell die Folgen des Klimawandels überall auf der Welt ankommen. Ich hatte wie viele Menschen gedacht, dass es viele Verlierer geben wird, aber auch einige Gewinner. Jetzt zeigt sich: Selbst in einem Land wie Deutschland können diese ständig zunehmenden Extremwetterkräfte so zuschlagen, dass Hunderte Menschen ihr Leben verlieren. Diese Verschärfung betrifft nicht alle Menschen gleichermaßen, sondern tritt in regionalen Krisen auf. Auf der Welt ist aber zunehmend immer irgendwo eine Krise, auf die wir nicht vorbereitet sind. Dieses Ausmaß hat sich bei mir erst sehr langsam im Kopf durchgesetzt. Als Studentin habe ich mich mehr mit Frieden, Atomwaffen und Chemiewaffen beschäftigt. Diese erschienen mir als Zerstörungsszenario, als Dystopie, sehr viel näher und bedrohlicher als die Tatsache, dass sich die Natur durch unsere menschengemachten Eingriffe so schnell verändern kann. Selbst später schien mir lange, als seien die bedrohlicheren Erdveränderungen die Abholzung und die Umweltvergiftung und nicht die Folgen der Nutzung fossiler Brennstoffe. Heute haben Schüler und Studierende viel mehr Wissen über den Klimawandel, zu Überfischung und zur Ozeanversauerung. Davon kam zu meiner Zeit nichts in Schule und Studium vor.
"Ich habe nicht damit gerechnet, wie schnell die Folgen des Klimawandels überall auf der Welt ankommen." Antje Boetius
F&L: In den letzten Jahrzehnten haben sich auch Ihre Methoden und Messgeräte verändert. Wo sind heute die Grenzen der Forschung?
Antje Boetius: Wir bräuchten dringend eine globale Vermessung des Zustands der Biosphäre, im Ozean sowie an Land. Aus dem All können wir die Oberfläche von Wäldern und Meeren vermessen, aber nicht in die Tiefe gehen. Wir können nicht die Wurzeln der Bäume im Boden messen und auch nicht alles, was zehn Meter oder tiefer im Meer stattfindet. Es gibt einen gewissen Druck auf die Erdsystemforschung, mit standardisierten Methoden weltweit Messnetzwerke zu haben, um jederzeit und überall zu verstehen, was geschieht. Nicht für alle Forschungsfragen haben wir solche Messsysteme, oft bekommen wir Daten nur mit starker Verzögerung und nur punktuell, obwohl die Beobachtungen der Fernerkundung in den heutigen und kommenden Krisen für die Entscheidungen wichtig sind, wo Schutz besonders geboten ist.
F&L: Wobei ist die Erdsystemforschung schon gut vorangekommen?
Antje Boetius: In vielen Bereichen, von Simulationen über Fernerkundung zu Sequenzierung. In meiner Studienzeit gab es zum Beispiel noch nicht so viele Ozeanbojen, die ständig die Meerestemperatur messen. Die Methoden verbessern sich ständig und mit ihnen die Wissenschaft. Die Wissenschaft hat aus meiner Sicht eine neue und starke Rolle bekommen in der Überprüfung, ob die gesetzten gesellschaftlichen und politischen Ziele erreicht werden – nicht mehr nur wie bislang in der Einschätzung des Risikos.
F&L: Sie arbeiten meist interdisziplinär und international mit anderen Forschenden zusammen. Was ist der Kern von guter Kooperation?
Antje Boetius: In der Wissenschaft sind die Anreize für Kooperationen klar. Eine Idee umzusetzen, geht oft schneller, wenn man Kolleginnen und Kollegen um Unterstützung bittet. Forschende, die mehr Daten bekommen und dadurch mehr publizieren, gewinnen an Bedeutung im Wissenschaftssystem. Außerdem gibt es in der Wissenschaft ein allgemein akzeptiertes internationales Regelwerk, die gute wissenschaftliche Praxis, inklusive direkter Strafen bei Verstößen. Mit diesem Regelwerk, das zur Wahrheitssuche verpflichtet, agieren wir in einem einheitlichen Wertesystem, das uns erlaubt, schnell zusammen voranzukommen.
F&L: Welche Aspekte dieses Zusammenwirkens könnte man in die Gesellschaft oder Politik transferieren?
Antje Boetius: Die Staatengemeinschaft muss als Ganzes agieren, damit wir schnell genug mit Klimaschutz, Artenschutz, Bekämpfung des Hungers oder Zugang von Frauen zu Bildung vorankommen. Das sind supranationale Probleme mit komplexen und vernetzten Abhängigkeiten. Diese Situation ist mit der Wissenschaft nicht vergleichbar. Forschung braucht natürlich einen Rahmen der Förderung, in dem sie blühen kann, befindet sich aber ansonsten in einer Selbstorganisation. Die politischen Anreizsysteme funktionieren zudem viel kurzfristiger. In der Wissenschaft wird über einen Lebenslauf hinweg die Kooperationsfähigkeit belohnt. Die Politik muss hingegen ad hoc agieren, innerhalb einer Wahlperiode Erfolge erzielen. Dadurch entstehen Blockaden.
F&L: Welche Impulse kommen aus der Wissenschaft, um Kooperation beim Klimaschutz zu fördern?
Antje Boetius: Die sozioökonomische Forschung weist schon seit Langem beharrlich darauf hin, dass es bei Erdressourcen wie der Atmosphäre, den Ozeanen und dem Boden um globale Gemeingüter geht. Es schadet allen Menschen, wenn unsere gemeinsame Atmosphäre zu viel CO2 hat. Deswegen braucht es ein Kooperationsmodell zu deren Schutz. Wir Menschen müssen begreifen, dass die Ressourcen auf dem einzigen Planeten, den wir bewohnen können, begrenzt sind und dass es dabei nicht um nationale, sondern um planetare Grenzen geht. Dafür sind wir nicht gut aufgestellt. Wenn man sich zum Beispiel gesund ernähren und regionale Produkte essen will, wird es eher teuer und unbequem. Aus der Forschung zum Verhalten des Menschen weiß man, dass es nicht möglich ist, ein fernes Ziel zu erreichen, wenn alles auf dem Weg zum Ziel unbequemer ist als das Gegenteil.
"Wir müssen begreifen, dass die Ressourcen auf dem einzigen Planeten, den wir bewohnen können, begrenzt sind." Antje Boetius
F&L: Bei unserem letzten Gespräch vor drei Jahren sagten Sie, Sie glauben nicht mehr an die mittelfristige Erreichbarkeit des 1,5 Grad-Ziels, weil es schon zu spät sei angesichts der bisher getroffenen Maßnahmen. Wie optimistisch sind Sie heute? Glauben Sie, dass wir das 2 Grad-Ziel oder Klimaneutralität erreichen?
Antje Boetius: Das ist keine Frage des Glaubens, sondern von physikalisch-chemischen Berechnungen. Wir kennen die jährlichen globalen Emissionen, wir wissen, wie lange CO2 in der Atmosphäre nachhält und zu welcher Menge CO2 welche Durchschnittstemperatur gehört. Damit lässt sich berechnen, wie die Emissionen sinken müssten, damit wir bis Ende des Jahrhunderts unter 2 oder 1,5 Grad Erderwärmung bleiben. Das kann jeder nachschauen, zum Beispiel auf der MCC-CO2-Uhr oder beim Weltklimarat IPCC. Der Stand des Wissens ist: Für 1,5 Grad sind faktisch nur noch sechs Jahre übrig, wenn wir so emittieren, wie wir es jetzt tun. Die Technologien zum Gegensteuern haben wir: Wenn die ganze Welt sofort alle bestehenden Techniken nutzen würde, um aufzuhören CO2 zu emittieren und CO2 wieder einzufangen, könnte man theoretisch technisch-physikalisch auch noch ambitioniertere Ziele erreichen. Aber sozialökonomisch ist das unwahrscheinlich. Bislang gibt es keine Evidenz, dass die Emissionen schnell genug sinken. Man kann natürlich auf eine tiefgreifende soziale Veränderung hoffen. Aber das ist nicht vorhersehbar. Langfristig müssen das 1,5 Grad-Ziel und die globale Klimaneutralität erreicht werden, sonst steigen die Schäden und Verluste immer weiter an.
F&L: Wie optimistisch sind Sie als Mensch, dass wir als Menschheit gegensteuern?
Antje Boetius: Als Forschende extrapoliere ich aus den Fakten die wahrscheinliche Zukunft. Als Mensch bin ich Optimistin und kann es mir nicht vorstellen, dass wir als Menschheit gemeinsam in den Abgrund latschen. Sicher kostet es noch einige Krisen und wird auch holperig und unangenehm, aber da habe ich doch Hoffnung. Ich sehe so viel unerwartete positive Bewegung, dass es durch die nächste Generation möglicherweise einen größeren Ruck gibt und wir anders weitermachen.
F&L: Was kommt also auf uns zu? Was sollte unser langfristiges Ziel sein?
Antje Boetius: Viele Studien zeigen, dass es ein gutes Klimaschutzziel für das ganze Leben auf der Erde wäre, unter 1,5 Grad zu bleiben. Wir sind aber aktuell schon bei 1,2 Grad. In vielen Ländern ist es schon wochenlang über 50 Grad, Menschen verlieren ihre Heimat durch Überflutungen. Langfristig steigen die Kosten und Verluste so stark, dass als Reaktion darauf die Menschheit sicher früher oder später ihre CO2-Emissionen in den Griff kriegen wird für Klimaneutralität.