Auf einem Sofa liegt ein Laptop
mauritius images Robert Matton AB

Arbeitsbelastung
Hat die Wissenschaft ein Work-Life-Balance-Problem?

Beruf und Privatleben verschwimmen schnell in der Wissenschaft. Ein Work-Life-Balance-Forscher rät, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten.

Von Katrin Schmermund 12.10.2020

Forschung & Lehre: Herr Kretschmer, wann sind Sie zuletzt aus Ihrer "Balance" geraten?

Tobias Kretschmer: Seit der Corona-Pandemie ständig (lacht). Nein, ich fühle mich insgesamt recht wohl mit meiner Work-Life-Balance. Vor gut einem Jahr sah das aber tatsächlich etwas anders aus. In dieser Zeit war ich neben meiner Professur und der Leitung des Instituts für Strategie, Technologie und Organisation an der LMU München Dekan unserer Fakultät und habe zwischen all den Verpflichtungen und Verwaltungsaufgaben zunehmend die Zeit für das verloren, was mich an der Wissenschaft so fasziniert: das forschende und selbstbestimmte Arbeiten. Während eines anschließenden Sabbaticals habe ich zu neuer Ausgeglichenheit gefunden.

F&L: Was macht diese Ausgeglichenheit für Sie aus?

Tobias Kretschmer: Für mich bedeutet der Begriff der Work-Life-Balance, die verschiedenen Rollen, die wir alle in unserem Leben innehaben, unter einen Hut zu bekommen und zwar so, dass wir uns damit gut fühlen. Dazu gehört für mich auch, sich flexibel in die eine oder andere Richtung bewegen zu können. Steht etwa eine Deadline an, ist es oft über einen längeren Zeitraum mehr "Work" als "Life", steht der erste Schultag meines Kindes an, erlaube ich mir mehr "Life" als "Work". Balance ist etwas sehr Individuelles, das jede und jeder anders wahrnimmt. In meinen Augen sollte es aber eher "Work-Private-Life-Balance" heißen. Schließlich leben wir auch, wenn wir arbeiten. Gerade in der Wissenschaft ist die Arbeit für die meisten an sich sehr lebenswert. Sie erfolgt aus der intrinsischen Motivation heraus, die Forschung in einem Feld, das einen fasziniert, voranzubringen.

"Wenn Karrierewege planbarer werden, nehmen die Angst und Unsicherheit ab, die zur Selbstausbeutung führen können."

Professor Tobias Kretschmer
Ein Sabbatical habe ihm zu neuer Balance verholfen, sagt Tobias Kretschmer. Der Professor leitet das Institut für Strategie, Technologie und Organisation an der LMU München. privat

F&L: Eine solche intrinsische Motivation kann schnell zur Selbstausbeutung führen. Bei Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern kommt die ständige Unsicherheit hinzu, keine Vertragsverlängerung zu erhalten. Wie kann eine Universität Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützen?

Tobias Kretschmer: Eine Universität kann flexible Arbeitsmodelle oder Kinderbetreuung anbieten, aber auch in der Zeit nach der Ausbildungsphase unterstützen, zum Beispiel durch Placement-Services und Karriere- und Alumni-Netzwerke. Denn wenn Karrierewege planbarer werden, nehmen auch die Angst und Unsicherheit ab, die zur Selbstausbeutung führen können. Solche Angebote zahlen sich auch für die Universität als Arbeitgeberin aus. In meinen Studien hat sich immer wieder gezeigt, dass  Work-Life-Balance zwar nicht die Produktivität der Beschäftigten erhöht – was sich viele Arbeitgeber erhoffen –, aber die Zufriedenheit der Beschäftigten und damit erwartungsgemäß deren Bindung an den Arbeitgeber. Da die Universität in der Gestaltung der Gehälter weniger Spielraum hat als etwa ein Unternehmen, wirken solche Faktoren hier noch stärker. Für zentral halte ich aber, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bewusst machen, mit welcher Art von Arbeitsmodell und auch Unsicherheit ein großer Teil der wissenschaftlichen Karriere verbunden ist und dass sie für sich entscheiden, ob sie sich das vorstellen können. Falls ja, sollten sie diesen Weg gelassen angehen.

F&L: Wie meinen Sie das?

Tobias Kretschmer: Heutzutage machen sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler meiner Wahrnehmung nach selbst viel Druck: Nach drei Jahren wollen sie die Promotion abgeschlossen haben, nach sechs Jahren am besten eine Lebensstelle. Das wäre allenfalls mit einem Tenure Track realistisch. Ich sehe auch viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ganz genaue Vorstellungen haben, an welchem Ort sie leben und arbeiten wollen. Das ist mit dem Wissenschaftssystem nur mit Glück vereinbar. Man muss mobil sein – am besten international.

"An der LMU hat die Bedeutung der Work-Life-Balance mit der Exzellenz-Strategie zugenommen."

F&L: Welches Wissenschaftssystem kommt bei der Work-Life-Balance Ihrer Ansicht nach am besten weg?

Tobias Kretschmer: Je kompetitiver ein System, desto höher ist der Druck auf einzelne. Betrachtet man zum Beispiel Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA, ist in Frankreich und Großbritannien vergleichsweise wenig Druck im System. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler finden dort mit relativer Sicherheit eine Dauerstelle – nicht immer die höchstdotierte, aber eine sichere Stelle. In Ländern wie den USA ist der Druck höher. Viele wollen eine der heiß umworbenen Tenure-Track-Stellen und damit eine Professur auf Lebenszeit an ihrer Wunschuniversität erreichen.
Bei Tenure-Entscheidungen unterscheiden sich die USA und Deutschland stark: In den USA ist es an den Topuniversitäten üblich, dass weniger als ein Drittel der Assistenzprofessuren Tenure erhalten. In Deutschland hingegen wird Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern auf dem Tenure Track im Regelfall eine Lebensstelle gewährt. Das reduziert den Druck etwas und lässt das deutsche Tenure-Track-System im Moment eher dem französischen oder britischen gleichen als dem nordamerikanischen. Sobald die Tenure-Track-Verfahren in Deutschland verschärft werden und Anschubprogramme wie das Tenure-Track-Programm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auslaufen, wird aber der Wettbewerb zunehmen, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Work-Life Balance.

F&L: Wodurch ist "Work-Life-Balance" zum Thema in der Wissenschaft geworden?

Tobias Kretschmer: An der LMU hat die Bedeutung der Work-Life-Balance mit der Exzellenz-Strategie zugenommen. Um Forschungsexzellenz zu fördern, müssen die international besten Forscherinnen und Forscher gewonnen werden und ihnen die passenden Angebote gemacht werden, damit sie ihre Tätigkeit an der Universität mit ihrem Privatleben vereinbaren können. Dazu gehört auch die Förderung von "Dual Career", sodass Paare gemeinsam an einen Standort wechseln können.

F&L: Wie wird sich die Diskussion über Work-Life-Balance Ihrer Einschätzung nach in den kommenden Jahren entwickeln?

Tobias Kretschmer: Ich gehe davon aus, dass sich unter anderem durch die Corona-Pandemie viel verändern wird. Viele Universitäten, Organisationen und Unternehmen haben einen großen Schritt in der Digitalisierung und im mobilen Arbeiten gemacht und Beschäftigte die Zeit genutzt, die sie statt zu pendeln für Familie, Freizeit oder Ehrenämter hatten. Flexible Arbeitszeitmodelle werden daher noch stärker nachgefragt werden als bisher. Gleichzeitig wirft die Arbeit aus dem Home­office die Frage auf, wie Work-Life-Balance erreicht werden kann, wenn sich immer mehr Rollen in den eigenen vier Wänden abspielen und eine Abgrenzung schwerer fällt als vorher.

F&L: Welche neue Forschungsfragen wirft das auf?

Tobias Kretschmer: Es wird zum Beispiel darum gehen, inwieweit eine zunehmende Arbeit im Homeoffice die Work-Life-Balance insgesamt verändert hat und ob sich dies auf die Work-Life-Balance bestimmter Berufsgruppen besonders positiv oder negativ auswirkt. Aber auch die Frage, inwieweit digitale Geräte die Grenze zwischen den Rollen verschwinden lassen und ob das eher positiv oder negativ zu bewerten ist, ist noch nicht abschließend beantwortet. Und schlussendlich wird sich auch die Frage nach dem "Markt" für Work-Life-Balance stellen: Fahren Organisationen, die ihren Mitarbeitern eine gute Work-Life-Balance ermöglichen, besser, oder muss die öffentliche Hand für die Bereitstellung der Rahmenbedingungen sorgen?