Karriere: gemeinsam nach oben - weiße Vögel fliegen vor blauem Hintergrund nach oben
mauritius images / Minden Pictures / Tui De Roy

Nachwuchswissenschaftlerin des Jahres 2022
Keine Angst, dass etwas nicht funktioniert

Lara Urban ist Nachwuchswissenschaftlerin des Jahres. Ein Gespräch über ihren Karriereweg und das, was am Wissenschaftssystem problematisch ist.

Von Charlotte Pardey 11.07.2023

Forschung & Lehre: Frau Dr. Urban, Sie sind Nachwuchswissenschaftlerin des Jahres 2022 und haben auf der Preisverleihung erwähnt, wie wichtig Ihnen das Thema Wissenschaftskarriere ohne akademischen Familienhintergrund ist. Können Sie uns etwas über Ihren Hintergrund erzählen?

Lara Urban: Ich bin die Erste in meiner Familie, die Abitur gemacht hat. Das hat auf dem Gymnasium dazu geführt, dass ich sehr viel mehr gelernt habe als andere, weil ich immer das Gefühl hatte, ich müsste mehr tun. Das hat sich dann während meines Bachelor- und Masterstudiums an der Universität Würzburg so fortgesetzt. Dort hatte ich noch mehr das Gefühl, dass Studierende oft aus Akademiker-Elternhäusern stammen und dabei im Durchschnitt privilegiert sind. Hierbei ist es nicht nur vorteilhaft, dass Familienmitglieder erklären können, wie Abitur oder Studium funktionieren, sondern auch, dass meist der finanzielle Druck geringer ist und eine gute mentale Gesundheit in der Herkunftsfamilie besteht. Global gesehen bin ich natürlich sehr privilegiert, dadurch, dass ich in Deutschland aufgewachsen bin, aufs Gymnasium gehen konnte und für mein Bachelor- und Masterstudium komplett von der Friedrich-Ebert-Stiftung finanziert wurde. In vielen Ländern gäbe es etwas Vergleichbares überhaupt nicht. Ich habe meine Situation als Herausforderung gesehen und als Ansporn, es schaffen zu wollen.

Portraitfoto von Dr. Lara Urban
Lara Urban ist Principal Investigator am Helmholtz Pioneer Campus und bei Helmholtz AI sowie Junior Fellow an der School of Life Sciences der TU München. privat

F&L: Woher hatten Sie diese mentale Stärke?

Lara Urban: Ich glaube, ein Vorteil war, dass ich keine Angst davor hatte, dass etwas nicht funktionieren könnte. Wenn ich es nicht einmal probierte, wäre ich ja sowieso nicht erfolgreich. Ich war aber wiederum auch privilegiert, dass mein Umfeld mich bestätigt und bestärkt hat. Meine Lehrerinnen und Lehrer haben mich zum Beispiel unterstützt, wenn ich etwas mehr arbeiten wollte als die anderen in der Klasse. Dieses positive Feedback von Erwachsenen war sehr wichtig für mich. Auch in meiner Familie, vielleicht, weil sie nicht allzu viel über das Bildungssystem wusste, herrschte die Annahme, dass ich schon schaffe, was ich mir vornehme. Ich hatte die Freiheit, auszuprobieren, was ich möchte, jenseits von Erwartungsdruck. Ich war resilient, aber letztlich sollte man dies ja nicht benötigen, um Erfolg in der Wissenschaft haben zu können. Es sollte um die persönlichen Fähigkeiten gehen und darum, wie man mit seinen Mitmenschen umgeht – was leider nicht stark genug von unserem derzeitigen Wissenschaftssystem gefordert wird.

F&L: Wie sehen Sie das Wissenschaftssystem und was würden Sie ändern?

Lara Urban: Das Wissenschaftssystem hat sich in den letzten Jahrzehnten immer mehr dahin entwickelt, dass Erfolg als individuelle Leistung einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betrachtet wird. Es zählt die Leistung der Person und weniger, was eine Gruppe oder gar eine ganze Forschungsrichtung erreicht. Dabei entspricht das nicht der Realität, wie Wissenschaft funktioniert. Jede Erkenntnis basiert auf dem, was vorherige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausgefunden haben. Projekte sind meist höchst kollaborativ, beispielsweise in dem Feld, in dem ich arbeite, der planetaren Gesundheitsforschung. Da sich aber der Einzelne profilieren muss, um Karriere zu machen, haben Forschende Angst, ihre Ergebnisse zu teilen. Auf Konferenzen findet man kaum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die neue Resultate vorstellen, um diese zu diskutieren, sondern es geht eher darum, sich zu profilieren. Forschende sind auf der Jagd nach Publikationen in High-Impact-Journals. Diese Publikationen sind die Währung geworden, um sich als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler zu verkaufen, gemeinsam mit der Menge an Geld, die man über Drittmittel erhält. Es geht immer weniger um die Wissenschaft an sich. Einige Forschende argumentieren, dass wir solche Vereinfachungen brauchen, um zu beurteilen, wer für eine Position oder eine Professur geeignet ist. Natürlich braucht es Zeit, sich die wissenschaftlichen Ergebnisse von allen Kandidatinnen und Kandidaten für eine Stellenbesetzung anzuschauen, aber das ist unsere Verpflichtung. Wissenschaft ist komplex, das heißt, wir müssen sie auch auf einem komplexen Level evaluieren, nicht über vereinfachte Indizes.

F&L: Muss man als Nachwuchswissenschaftlerin oder -wissenschaftler in diesem System mitspielen?

Lara Urban: Die Wissenschaft ist ein sich selbst verstärkendes System, in dem man bis zu einem gewissen Grad mitspielen muss, um Erfolg zu haben. Wandel ist schwierig zu erreichen. Ich sehe es als meine Verantwortung an, die Probleme anzusprechen. Oft hat die Veränderung aber keine Priorität, gerade für diejenigen, für die es funktioniert hat. Nur, weil man selbst etwas erreicht hat – wohlmöglich durch Privilegien –, ist dies nicht automatisch für alle anderen auch möglich, wenn sie nur hart genug arbeiten. Das System kann von innen verändert werden, wenn genug qualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gute Arbeitsbedingungen einfordern. In den MINT-Fächern, vor allem in computerorientierten Forschungsfeldern, gibt es sogar einen gewissen Postdoc-Mangel. Promovierte wandern in die Industrie ab, wo sie sich eine bessere Atmosphäre und weniger Arbeitsdruck erhoffen. Seit einigen Jahren existiert ein neuer Sinn für Ehrlichkeit und eine Abkehr davon, dass man die eigenen Ansichten verstecken muss. Vor allem unter uns jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kritisieren viele das System. Es gibt neue Vorschläge, wie wir Wissenschaft evaluieren und publizieren sollten. Einige Journals oder auch Herausgeber wenden sich von dem aktuellen Publikationssystem ab und wählen andere Veröffentlichungswege. Es gibt schon längere Zeit offizielle Deklarationen, die Veränderungen fordern, wie zum Beispiel die San Francisco Declaration on Research Assessment (DORA). Das Problem war bisher, dass eine kritische Masse an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gefehlt hat, die fordert, dass die Inhalte der Deklarationen auch wirklich eingehalten werden. Auch Förderorganisationen sehen nun, dass sich an dieser Stelle etwas geändert hat und reagieren darauf.

F&L: Welche weiteren Ausschlussmechanismen sehen Sie in der Wissenschaft?

Lara Urban: Ich bin in Bayern aufgewachsen. Schon in der frühen Bildung werden Mädchen und Jungen unterschiedlich erzogen. Dabei bin ich überzeugt, dass es keine inhärenten Unterschiede hinsichtlich der wissenschaftlichen Begabung zwischen den Geschlechtern gibt. Stattdessen gibt es klare Unterschiede in der Erwartung. Mit diesen wächst man auf und aus ihnen muss man ausbrechen. So wird nicht unbedingt erwartet, dass eine Frau Karriere machen will. Je höher die Karrierestufe – auch in der Wissenschaft – desto weniger Frauen gibt es letztlich auf den Positionen. Das System bevorzugt Verhaltensweisen einer historisch gesehen dominanten Subgruppe, der der besonders offensiven weißen Männer: einem lauten, starken Auftreten und wenig Sorge darum, was andere denken könnten. Wer nicht nach diesen Regeln spielen kann oder will, hat es in diesem System schwer. Wir müssen hierbei weitere Benachteiligungen jenseits der Genderthematik mitdenken und jedem die gleiche Chance geben. Inklusion sollte viel breiter gesehen werden. Letztlich sind die Probleme im Wissenschaftssystem weltumspannend: Der globale Norden steht dem globalen Süden privilegiert gegenüber. Es ist wichtig, dass wir diese noch viel größeren Ungleichheiten angehen.

F&L: Inwiefern versuchen Sie, in Ihrer Forschungsgruppe Ihre Ideale umzusetzen?

Lara Urban: Ich habe erst vor einem Jahr meine Forschungsgruppe gegründet und es war mir sehr wichtig, sie nach meinen Idealen zu gestalten. Ich habe mich darauf vorbereitet und schon bevor ich das erste Gruppenmitglied hatte, ein Group Manual geschrieben. Darin habe ich Grundregeln für Akzeptanz und Toleranz, Equity und Inklusion zusammengefasst, aber auch den hohen Stellenwert der mentalen Gesundheit betont. Im Alltag bin ich natürlich auch manchmal gestresst, aber ich habe durch das Manual etwas, auf das ich mich zurückbesinnen kann. Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie oft mehr ist als Arbeit, und wenn Forschende sich sehr in ihr vertiefen, achten sie weniger auf ihre mentale Gesundheit. Meiner Forschungsgruppe wollte ich daher auch eine Plattform geben, um sich auszutauschen, damit die Arbeit mehr Spaß macht und weniger Stress ist. Aktuell funktioniert das sehr gut. Ich möchte auch die Karrieren meiner Teammitglieder unterstützen. Es ist meine Verantwortung, hervorzuheben, was die Beteiligung der einzelnen Gruppenmitglieder war. Natürlich möchte ich auch meine eigene Karriere befördern. Wenn ich andere darin begleiten und prägen kann, wie sie Wissenschaft machen, dann hat das in Zukunft viel mehr Einfluss, als wenn ich meine Sachen alleine mache. Aber es ist natürlich eine Balance.

F&L: Wie schützen Sie dabei Ihre eigene mentale Gesundheit?

Lara Urban: In den ersten Monaten als Principal Investigator hatte ich das Gefühl, wahnsinnig viel Verantwortung in alle Richtungen zu tragen. Aber dann habe ich mich entschlossen, mir selbst zu vertrauen und die Dinge so zu machen, wie ich sie für richtig halte. Ich habe mit guten Freunden gesprochen, die mich moralisch unterstützt haben. Teilweise arbeiten sie auch selbst im Wissenschaftssystem, aber nicht ausschließlich. Vielleicht ein Ratschlag an jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Sie sollten sich ein Netzwerk an Mentorinnen und Mentoren suchen, an Menschen, die wirklich interessiert sind an Ihnen. Es müssen nicht viele sein und es ist auch nicht so wichtig, ob es sich um Menschen handelt, die mit Ihnen professionell oder privat verbunden sind, aber es sollten Leute sein, die Ihre scheinbar verrückten Ideen unterstützen.