Arbeitsweg
Macht Pendeln krank?
Berufliches Pendeln wird heute als Stressor angesehen, der das Fass in einem bis dato mühsam kompensierten beruflichen und familiären System zum Überlaufen bringen und eine behandlungsbedürftige gesundheitliche Dekompensation bedingen kann.
Dabei gibt es ebenso viele Pendeltypen wie Arbeits- und Lebensformen. Fernpendler nehmen meist täglich lange Anfahrtswege zur Arbeit in Kauf, um den gemeinsamen Wohnort des Paares oder der Familie zu erhalten."Umzugsmobile" hingegen sind Paare bzw. Familien, die sich zu einer Verlagerung ihres gemeinsamen Hauptwohnsitzes entscheiden, wenn es die berufliche Mobilität erfordert. Wochenendpendler ("Shuttles") gründen am Arbeitsort des mobilen Partners einen Zweithaushalt, der nur arbeitsbezogen genutzt wird. "Varimobile" sind Paare, bei denen mindestens einer der Partner an wechselnden Orten beruflich tätig ist und in dieser Zeit etwa in Hotels oder Gemeinschaftsunterkünften untergebracht ist (z.B. Vertreter, Piloten, Manager). Bei Fernbeziehungen ("Living Apart Together" – LATs) verfügt jeder der Partner über einen eigenen Haushalt; einen gemeinsamen Haupthaushalt gibt es nicht. Das Paar trifft sich mal am Wohnort des einen oder des anderen Partners oder sonst irgendwo, wo es sich geschickt ergibt. In dieser Gruppe sind die sogenannten "Dual-Career-Couples" vertreten (Schneider et al. 2016).
"Wegen des ständigen Kampfes mit dem Schlaf-Wach-Rhythmus halten das Fernpendeln auf Dauer nur "Abendtypen" aus."
Das gesundheitliche Hauptproblem vieler Pendler ist das Schlafdefizit: Mit Verkürzung der Schlafdauer gehen Tagesmüdigkeit und Unkonzentriertheit einher. Nickerchen im Zug werden oft nicht als erholsam empfunden. Wegen des ständigen Kampfes mit dem Schlaf-Wach-Rhythmus halten das Fernpendeln daher auf Dauer nur "Abendtypen" aus. Bei Autopendlern hingegen stellt die (Tages-)Müdigkeit ein gravierendes Problem dar, weil sie zu einer erhöhten Rate schwerer Verkehrsunfälle mit Verletzungsgefahr, womöglich mit Todesfolge, führt.
Angst vor dem Stillstand
Ein Grund für Schlafstörungen können auch die vielfältigen Ängste sein, denen sich Pendler ausgesetzt sehen: Beim Autopendler ist es die Angst vor dem Zuspätkommen durch unkontrollierbare Straßenverhältnisse – etwa regelmäßige Staus, Behinderungen durch Unfälle, aber auch Schneeglätte und Eis in der Winterzeit. Bahnpendler fürchten Zugausfälle, Verspätungen und dadurch verpasste Anschlüsse. Heutzutage kommt auch die Angst vor Terroranschlägen auf öffentliche Verkehrsmittel hinzu, da Terroristen zunehmend auch zivile Ziele ins Visier nehmen.
Ein weiterer Gesundheitsaspekt des Pendelns ist, dass sich in hochmobilen Gesellschaften Infektionskrankheiten entlang von hochfrequentierten Verkehrswegen schneller ausbreiten können. Vor allem im Winterhalbjahr kommt es zu einer erhöhten Rate an Atemwegsinfekten. In Zügen ist auch Gefahr für Allergiker durch erhöhte Milbenkonzentrationen in den Polstern gegeben. Außerdem begünstigen längere Pendelstrecken Bluthochdruck.
Ungesundes Essverhalten ist bei Pendlern ebenfalls sehr verbreitet. Der schnelle Konsum von oft fett- und zuckerhaltigen Lebensmitteln vor, während oder nach der Fahrt kann in Kombination mit Bewegungsmangel zu Übergewicht führen. Hiervon sind insbesondere Autopendler betroffen. Oft bleibt durch das Pendeln keine Zeit für das Ritual der "gemeinsamen Mahlzeit" mit der Familie, die eine wichtige kommunikative und präventive Funktion für Essstörungen aller Art hat. Vielfach kann die Kommunikation in solchen Familien nur noch über eine Pinnwand aufrechterhalten werden.
Balance finden durch Rituale
Eine längerfristige Paarbeziehung auf Distanz kann zu Konflikten führen, muss aber nicht. Das ständige Sich-Trennen und -Wiederannähern erfordert spezielle Lösungen, am besten in Form von Ritualen. Pendler neigen dazu, das unter der Woche nicht Mögliche am Wochenende geballt nachholen zu wollen, mit der Folge, dass dieses völlig überfrachtet ist. Auch hier ist eine rechtzeitige, sinnvolle und realistische Planung vonnöten (Häfner 2011).
Warum also Pendeln? Aktuell lassen hohe Grundstückspreise, Wohnraummangel und Umweltverschmutzung in den Ballungsräumen bei gleichzeitiger Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur das Pendeln für viele Erwerbstätige attraktiv erscheinen. Das Pendeln ist aber auch oft eine Notwendigkeit, erzwungen durch Arbeitslosigkeit, Betriebsschließungen oder Standortverlagerungen, durch die Notwendigkeit von zwei Einkommen oder die Verbindung zweier beruflicher Karrieren – gerade auch im akademischen Bereich (Funk und Gramespacher 2008, Tatje 2014). Pendeln erscheint somit als hochkomplexes Phänomen und oft hochintelligente Lösung, für die manche aber auch einen gesundheitlichen Preis zahlen müssen.
Primäre Entscheidungskriterien für das Pendeln sind die Aufrechterhaltung der Berufstätigkeit des Partners, Idealvorstellungen über Partnerschaft oder Familie (Kinder werden hauptsächlich berücksichtigt, wenn sich die Frage nach einem Umzug stellt), berufliche Gründe (Karrierechancen und Verdienstmöglichkeiten), Ortsverbundenheit sowie Lust und Neugier auf etwas Neues. Das Pendeln zu beenden wird hingegen nur nach schweren Autounfällen sowie bei Krankheit oder Behinderung eines Kindes erwogen.
In einer eigenen Befragung an Bahnpendlern wurde deutlich, dass Pendeln kein kurzfristiges oder übergangsbedingtes Phänomen ist: Mehr als die Hälfte der Befragten pendelte seit mehr als fünf Jahren und etwa 20 Prozent seit mindestens zehn Jahren (Häfner et al. 2012).
Nichts für schwache Nerven
Berufliche Mobilität macht nicht unbedingt krank, aber ein regelmäßiges Überdenken der Notwendigkeit des Pendels ist ratsam. Zusätzlich sind realistische Pläne und Absprachen mit der Familie und dem Arbeitgeber wichtig bei adäquater Berücksichtigung der individuellen gesundheitlichen Verfassung in Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten.
Anfällige Menschen geben die lange Fahrt zur Arbeit oft schon bald auf. In der Regel lassen sich nur Menschen mit guter körperlicher und psychischer Verfassung auf lange Arbeitswege ein, so dass von einer Selektion ausgegangen werden muss. Die vorzeitige Berentungsrate von Fernpendlern ist geringer als die von Arbeitnehmern mit kurzem Weg zur Arbeit.
"Für Pendler ist es wichtig, der Pendelzeit einen Sinn zu geben."
Für Pendler ist es wichtig, schnell in die Entspannung zu kommen und hierfür ein entsprechendes Repertoire an individuell rasch verfügbaren Entspannungstechniken zur Verfügung zu haben, etwa durch Autogenes Training, Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, Yoga, Tai Chi oder Qi Gong. Auch der Pendelzeit einen Sinn zu geben ist wichtig. Pendler können Freizeitaktivitäten wie lesen, Musik hören, handarbeiten vorziehen oder gegebenenfalls noch Arbeit erledigen, um zuhause gleich Freizeit zu haben.
Beim Pendeln sollten die Behandlung chronischer Erkrankungen und präventivmedizinische Programme nicht vernachlässigt werden. Zudem sollte auf eine gesunde Lebensführung ("Lifestyle-Management") geachtet werden. Flankierend sollte mit dem Arbeitgeber über flexible Arbeitszeiten gesprochen werden, um die "Rush-hour" zu vermeiden; gegebenenfalls auch über weniger Präsenztage oder die Möglichkeit von Homeoffice. Last but not least sollte jeder Pendler regelmäßig prüfen: Muss und will ich weiter pendeln?