Person nimmt an einem digitalen Treffen per Laptop und Videotelefonie teil, auf dem Schreibtisch liegen Arbeitsmaterialien
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Wissenschaftlicher Austausch
Virtuell Netzwerken in der Corona-Pandemie

Viele Kontakte in der Wissenschaft ergeben sich aus den zufälligen Gesprächen zwischendurch. Was bleibt davon in Zeiten eingeschränkter Mobilität?

Von Katrin Schmermund 13.06.2020

Astrid Eichhorn sitzt mit den Koryphäen ihres Fachs am Küchentisch. Zumindest virtuell. Internationale Dienstreisen liegen während der Corona-Pandemie auf Eis. Die wissenschaftliche Community kommt zu ihr nach Hause. "Normalerweise mache ich im Durchschnitt mindestens eine Dienstreisen pro Monat", sagt die Physikerin und Nachwuchsgruppenleiterin an der Universität Heidelberg. Seit der Corona-Pandemie läuft alles aus dem Homeoffice: Absprachen mit Kolleginnen und Kollegen, Forschung, Lehre und eben auch die Teilnahme an wissenschaftlichen Veranstaltungen.

"In den ersten Wochen sind die meisten Konferenzen ausgefallen", sagt Eichhorn. "Inzwischen haben immer mehr Veranstalter auf digitale Formate umgestellt." Sie sei überrascht, wie viele internationale Teilnehmerinnen und Teilnehmer seitdem dabei sind. "Einige hätten sonst vielleicht nicht teilnehmen können, weil die Fahrt zu teuer oder es zeitlich zu eng gewesen wäre", sagt die Wissenschaftlerin. "Die Konferenzen sind teils auch hochkarätiger besetzt. Renommierte Wissenschaftler können leichter für einen Vortrag in den eigenen vier Wänden gewonnen werden als am anderen Ende der Welt." Auch sie könne sich virtuell häufiger zwischen anderen Aufgaben dazu schalten.

Diese Flexibilität hält auch Dr. Thomas Böttcher für einen Vorteil virtueller Konferenzen. "Mit Familie und Lehraufgaben wäre es für mich sonst schwerer, an Konferenzen teilzunehmen." Das Digitale habe aber auch seine Schattenseite: "Wenn ich bei einer Konferenz physisch vor Ort bin, ist meine Aufmerksamkeit fokussierter", meint der Chemiker, der an der Universität Konstanz eine Forschungsgruppe zu Naturstoffen leitet.

"Nehme ich virtuell an einer Videokonferenz teil, bin ich weiterhin im Büro erreichbar. Ich muss aufpassen, nicht in Versuchung zu kommen, nebenbei Liegengebliebenes abzuarbeiten oder digitale Lehrveranstaltungen vorzubereiten.

Virtuell Gespräche weniger überraschend und tiefgründig

Womöglich entgehe ihm bei digitalen Konferenzen mehr, als ihm bewusst sei. "Bei Präsenzveranstaltungen sitze ich immer wieder in Vorträgen, die nicht im Fokus unserer Forschung liegen. Oft erhalte ich dabei überraschende Denkanstöße. Bei Digitalformaten überlege ich mir dagegen eher vorher, welche Vorträge ich mir ansehe und bin schneller bereit, mich auszuklinken. Damit verpasst man die Chance, einen Blick über den Tellerrand zu erhaschen."

Die Gespräche per Videokonferenz empfindet Böttcher als "gute Übergangslösung" aber oberflächlicher als persönliche Treffen: "In Online-Meetings erhalten Gespräche meiner Meinung nach nicht die Tiefe, die sie womöglich hätten, wenn man sich persönlich gegenübersteht, einen Kaffee trinkt oder Labore besichtigt und dabei auch mal vom Thema abschweifen kann", sagt er. "Mir geht dabei etwas der persönliche Austausch und die menschliche Interaktion verloren."

Physikerin Eichhorn geht es ähnlich: "Fachliche Diskussionen lassen sich über Zoom, Skype oder ähnliches fast genauso gut führen wie persönlich", sagt sie. "Die weniger zielgerichtete Art von Gesprächen, die ich sonst zum Beispiel beim Mittagessen führe, sind online weniger üblich. Doch entstehen gerade aus diesen Gesprächen teilweise neue Ideen für Forschungsprojekte."

Wissenschaftliche Netzwerke aufbauen und nutzen

Dr. Kalle Hauss hat in seiner Dissertation die Bedeutung von Konferenzen in der Wissenschaft untersucht. Im Interview mit Forschung & Lehre erklärt er, wie Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler das Beste für ihre Karriere aus Veranstaltungen herausholen können.

Virtuelle Kaffeepausen und wissenschaftliches Chatroulette

Veranstaltungsplaner wie das Team von Susann Morgner arbeiten daran, dass der Austausch virtuell möglichst lebendig bleibt. Auch die virtuelle Kaffeepause planen sie daher bei der Organisation einer Veranstaltung ein. "Wir nutzen ein Tool, bei dem sich Teilnehmende virtuell an Tischen mit jeweils sechs Plätzen gegenüberstehen. Dafür bewege sie ihr Profil an einen beliebigen Tisch, an dem noch ein Platz frei ist. Wer dort steht, wissen sie zu dem Zeitpunkt noch nicht", erklärt die Geschäftsführerin von "con gressa", einer Agentur die sich auf die Organisation von Wissenschaftsveranstaltungen spezialisiert hat, darunter die Jahrestagung der Alexander von Humboldt-Stiftung oder Fachkonferenzen von Helmholtz-Gemeinschaft oder VolkswagenStiftung.

An jedem virtuellen Kaffeetisch steht ein Mitglied aus ihrem Team. Diese Person hat die Aufgabe, den Gesprächseinstieg zu erleichtern, und das Gespräch am Laufen zu halten. "Häufig ist es sonst ja doch ein Vorgesetzter oder ein Kollege, der bei einer Konferenz den Kontakt herstellt", sagt Morgner. "Digital übernehmen wir das." Vor allem schüchternen Personen könne das helfen. "Für sie ist die Hürde, sich in informellen Runden einzubringen oder in einer Videokonferenz das Wort zu ergreifen vermutlich noch höher als bei Veranstaltungen vor Ort", meint die Organisatorin. "Auch während der Programmpunkte achten wir daher darauf, dass Fragerunden mit einer 'Icebreaker'-Frage beginnen, die jeder beantworten kann und bei der es kein Richtig oder Falsch gibt."

"Wir müssen dafür sorgen, dass niemand nur mit dem Tool beschäftigt ist und nichts für sich mitnimmt." Susann Morgner, Veranstaltungsplanerin

Für virtuelle 1:1-Gespräche hält Morgner "digitales Matchmaking" für gut geeignet. Dabei geben Wissenschaftler Schlagworte zu ihrem Fachbereich oder einer wissenschaftlichen Methode an, für die sie sich interessieren. Ein Algorithmus zeigt auf Grundlage dessen Vorschläge, wer eine interessante Gesprächsperson sein könnte. Die kann man dann anschreiben oder auch direkt sprechen. Um zufällige Gespräche geht es beim wissenschaftlichen Chatroulette oder auch "Networking-Karussell". Morgner hält es für gut geeignet, um den Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Fachdisziplinen zu fördern, die sonst vielleicht nicht ins Gespräch gekommen wäre. Die Gesprächspersonen treffen sich jeweils in virtuellen Räumen, bei Zoom heißen diese "Breakout-Rooms".

Technisch sei noch einiges mehr möglich, sagt Morgner. Entscheidend sei aber, dass ein Tool dem Zweck einer Veranstaltung und den Interessen der Zielgruppe entspreche, so die Veranstaltungsplanerin. "In der Wissenschaft steht der inhaltliche Mehrwert und der Austausch bei einer Veranstaltung klar im Vordergrund. Wir müssen dafür sorgen, dass niemand nur mit dem Tool beschäftigt ist und nichts für sich mitnimmt."

Für die kommenden Monate hält sie hybride Konferenzen für ein hilfreiches Veranstaltungsformat. Dabei sind nur die Referenten - gegebenenfalls mit einer kleinen Anzahl von Teilnehmenden - vor Ort. Alle Übrigen werden virtuell zugeschaltet", erklärt Morgner. "Konferenzen könnten durch die Verbindung von analogen und digitalen Formaten noch abwechslungsreicher und inhaltsreicher werden, weil Veranstalter virtuell zusätzliche Redner gewinnen können, die besonders gefragt sind oder weite Anreisewege haben." Gleichzeitig könne die Zahl an Reisen reduziert werden, ohne dass der persönliche Austausch leide.

Neue Kontakte per E-Mail knüpfen

Dr. Sybille Küster ist Geschäftsführerin von "GRADE", der Akademie für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler an der Goethe-Universität Frankfurt. Wissenschaftlern rät sie, während der Pandemie weiter aktiv den Austausch mit anderen zu suchen und an interessanten Veranstaltungen teilzunehmen. Um sich gegenseitig zu bestärken und zu motivieren, seien insbesondere die Gespräche mit "peers" auf der eigenen Qualifikationsstufe hilfreich.

"Wir neigen derzeit eher als sonst dazu, uns etwas zurückzuziehen", sagt Küster. "Das ist auch verständlich – viele von uns sind neben Forschung und Lehre auch privat stark in Pflege oder Kinderbetreuung eingebunden. Wir wissen jedoch nicht, wie lange die Pandemie noch anhält und gerade Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern könnten versäumte Kontakte danach für ihre berufliche Weiterentwicklung fehlen, weil sie noch nicht auf ein so großes Netzwerk aus der Zeit vor der Pandemie aufbauen können."

"Am besten habe ich mir schon einzelne Fragen notiert, so komme ich leichter ins Gespräch." Dr. Sybille Küster, Geschäftsführerin der Nachwuchsakademie "Grade"

Ablenkungen während der virtuellen Treffen sollte man sich bewusst machen und sie vermeiden. "Wir bitten bei unseren Veranstaltungen immer alle Teilnehmenden, parallel keine anderen Aufgaben zu erledigen und zu versuchen, eine mögliche Kinderbetreuung zu delegieren", erklärt sie. Dafür gab es auch Kritik: "Einige Frauen fanden das familienunfreundlich und haben gesagt, keine andere Möglichkeit zu haben, als sich parallel um die Kinder zu kümmern." Für die Doppelbelastung habe sie Verständnis, sagt Küster. "Wir wollen auch niemanden ausschließen. Was ich mir wünsche ist nur, dass diese Frauen ihre Karriere nicht stärker hinter andere Aufgaben zurückstellen als ihre Partnerinnen oder Partner."

Frauen in der Corona-Pandemie

Frauen sind während der Corona-Pandemie besonders stark in die Kinderbetreuung eingebunden. Viele Wissenschaftlerinnen fürchten um ihre wissenschaftliche Karriere, weil sie keine Zeit zur Beantragung von Forschungsanträgen haben und an weniger Veranstaltungen teilnehmen können. In einem offenen Brief fordern Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler politisches Handeln.

Das Netzwerk von Wissenschaftlerinnen "AcademiaNet" berichtet, dass die Zahl der Anmeldungen auf der Plattform in den vergangenen Monaten gestiegen sei. Gleichzeitig sagten viele Frauen bei digitalen Treffen aus Zeitgründen ab. 

Sichtbarkeit in Videokonferenzen gewinnen

Um auch aus virtuellen Konferenzen möglichst viel für sich mitzunehmen, empfiehlt Küster, sich vorher genau zu überlegen, mit welchem Ziel man teilnehme. "Am besten habe ich mir schon einzelne Fragen notiert, so komme ich leichter ins Gespräch und spreche nach der Konferenz vielleicht noch in kleiner Runde."

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler könnten die Zeit außerdem nutzen, um online gezielt Ausschau nach fachlich interessanten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu halten und diese mit einer spezifischen Frage zur eigenen Forschung anzuschreiben. "Wer weiß: Vielleicht ergibt sich daraus sogar ein längerfristiger Kontakt oder eine spätere Zusammenarbeit", sagt Küster.

Auch Eichhorn und Böttcher haben bereits neue Kontakte per E-Mail geknüpft. Um informiert und auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufmerksam zu werden, schauten sie auf soziale Netzwerke wie Twitter oder Researchgate. Böttcher greift auch wieder häufiger "ganz altbacken" zum Telefon, wie er sagt. Für manches hoffe er aber auch einfach auf eine "Zeit nach Corona".

"Im Herbst trete ich einen Ruf auf die Professur Microbial Biochemistry an", sagt der Chemiker. "Zunächst hatten wir überlegt, bereits in Wien geplante Vorträge und Vorgespräche durch Videokonferenzen zu ersetzen. Wir waren dann aber doch der Meinung, dass es für einen intensiveren Austausch besser ist zu warten und einen persönlichen Besuch in Kürze nachzuholen."

Wissenschaftliche Netzwerktreffen 2020

Lindauer Nobelpreisträgertagung
Auf der Lindauer Nobelpreisträgertragung kommen sonst jährlich rund tausend Nachwuchswissenschaftler mit Nobelpreisträgern zusammen. Die diesjährige Veranstaltung – das 70. Jubiläum – wurde nun um ein Jahr verschoben. Für diesen Sommer sind vom 28. Juni bis 1. Juli "Online Science Days" mit Streamings, Q&A-Sessions und Interviews geplant.
GAIN-Jahrestagung
Auch die GAIN-Jahrestagung wird derzeit digital vorbereitet. Mitglieder des Netzwerks für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den USA treffen sich derweil zu digitalen Stammtischen. Für virtuelle Nähe ist Kreativität gefragt. Die örtlichen Koordinatoren bitten Teilnehmende zum Beispiel in den Meetings, ihr Video auszuschalten, wenn sie eine Frage nicht mit "Ja" beantworten konnten, wie "Bist Du zur Zeit noch in den USA". Über mehrere Fragerunden hinweg sollen die Teilnehmenden so einen besseren Eindruck voneinander erhalten.