Eine Statue aus dunklem Metall zeigt einen nachdenklichen Mann, der seinen Kopf abstützt.
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Künstliche Intelligenz und Lernen
Entlastet die KI das Gehirn zu sehr, baut es ab

Der Einsatz von KI-Tools wie ChatGPT kann Prozesse im Oberstübchen verändern. Nachhaltiges Lernen muss aktiv passieren.

23.01.2024

Im Gehirn arbeiten Milliarden vernetzter Nervenzellen, verschiedene Areale haben unterschiedliche Aufgaben. Die Digitalisierung verändert Experten zufolge Lernprozesse im Gehirn. Und auch Künstliche Intelligenz (KI) stellt mit Programmen wie ChatGPT teils neue Anforderungen an die menschliche Steuerzentrale. 

Psychologe und Hirnforscher Peter Gerjets vom Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen geht davon aus, dass ChatGPT und ähnliche Angebote einen großen Einfluss auf das Bildungswesen haben werden. Eine sinnvolle, kompetente Nutzung sei dabei keineswegs ein Selbstläufer. 

"Es darf nicht passieren im Bildungsprozess, dass der aktive Lernprozess an ChatGPT ausgelagert und das Gehirn nicht gefordert wird", sagt der Bildungswissenschaftler zum Internationalen Tag der Bildung am 24. Januar. "Es ist wichtig, was im Kopf passiert und was als echte Lernleistung herauskommt. Ob das mit oder ohne Unterstützung von GPT passiert, ist letztlich nicht entscheidend." 

“Es darf nicht passieren im Bildungsprozess, dass der aktive Lernprozess an ChatGPT ausgelagert und das Gehirn nicht gefordert wird."
Psychologe und Hirnforscher Peter Gerjets vom Leibniz-Institut für Wissensmedien, Tübingen

"Kognitives Off-Loading": ungenutzte Hirnareale werden geschwächt 

Kognitive Arbeitsleistungen an KI abzugeben sei immer mit der Frage verbunden, ob damit Freiräume entstehen, die das Gehirn für andere Aufgaben nutzen könne. So war es einst auch heiß diskutiert worden bei Einführung von GPS-Navisystemen. 

"Fakt ist: Wird eine bestimmte Fähigkeit nicht mehr benötigt, dann werden die Hirnareale, die diesen Skill implementieren, geschwächt." Gerjets nennt als Beispiel: "Wenn ich den Taschenrechner zum Dividieren nutze, bin ich im Ergebnis wesentlich schneller, aber meine Fähigkeit, zu dividieren, leidet und das wirkt sich auf die entsprechenden Hirnareale aus." Das sei aber kein Drama. "Was im Gehirn verschüttet ist, kann wiederbelebt werden, ist also nicht verloren." 

Der Forscher erläutert: Bestimmte Bereiche "schwellen" quasi an bei besonders starken Anforderungen. "Sie werden größer und dichter." Und sie verkleinern sich bei abnehmender Anforderung. Ein permanentes Multitasking führe zu Erschöpfung im Gehirn. 

Präfrontaler Cortex stärker beansprucht durch digitales Lernen

Schon das Nutzen technischer Geräte wie Tablets beim digitalen Lernen benötigt extra Aufmerksamkeit und Energie, weil neben der inhaltlichen Verarbeitung auch die Bedienung der Technik Konzentration beanspruche, schildert Neurobiologe Martin Korte von der TU Braunschweig. Beim Scrollen über mehrere Seiten hinweg und Eintauchen in Hyperlinks sei es anstrengend, den inhaltlichen Bezug nicht zu verlieren, den Überblick im Kopf wieder herzustellen. Vor allem der präfrontale Cortex im Frontallappen – "Kommandozentrale im Gehirn und das Cockpit, in dem alle Informationen zusammenlaufen und Aufgaben verteilt werden" - sei deutlich mehr beansprucht. 

Da nun absehbar KI mit Tools wie ChatGPT verstärkt hinzukommen, gelte umso mehr: "Wenn wir beim Lernen durch vorgefertigte Antworten nur passive Zuschauer sind, ist das Lernen nicht nachhaltig", sagt Korte. Aktivität sei wichtig – und ebenso, dass man Inhalte und Informationen reflektieren könne. Daraus entstehe dann Wissen, das im Gehirn abgespeichert werde - was wiederum "die Verschaltungen, also die Struktur des Gehirns verändert". Eine KI, die verstanden werde in ihren Stärken und Schwächen, könne ein Gewinn sein. "Aber nur, wenn wir – Lehrer wie Schüler – in gleichem Maße klüger werden wie die Maschinen 'klüger' werden", unterstreicht Korte. 

"Wenn wir beim Lernen durch vorgefertigte Antworten nur passive Zuschauer sind, ist das Lernen nicht nachhaltig"
Neurobiologe Martin Korte, TU Braunschweig

KI-Nutzung stellt zusätzliche Anforderungen ans Gehirn 

"Neue Informationen zu bewerten, auszuwählen, Quellen zu vergleichen - alles das ist Arbeit für den Frontallappen unseres Gehirns. Diese Fähigkeit zur Bewertung wird immer wichtiger", betont Gerjets. ChatGPT erwecke stets den Anschein, eine korrekte Antwort gegeben zu haben: "Sprachlich glatt und fertig ausformuliert, im Brustton der Überzeugung, aber ohne Quellenangabe. Viele Menschen finden das glaubwürdig. Das halte ich für sehr bedenklich."

Gerjets sieht in KI-Tools wie ChatGPT enorme Chancen für den Bildungsbereich. Für Schülerinnen und Schüler könnten diese viele Vorteile haben, etwa beim Generieren von Übungsmaterial, beim Abfragen von Gelerntem. "Man hat allerdings einen Lernbegleiter und Gesprächspartner, den man mit Vorsicht genießen muss, der nämlich auch nicht alles weiß, sondern manchmal völligen Quatsch liefert." 

Ob sich womöglich langfristig auch Hirnstrukturen durch die Nutzung von KI ändern werden, sei noch nicht abzusehen, sagt der Tübinger Forscher. Einer Bitkom-Umfrage zufolge spricht sich eine Mehrheit von 61 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger in Deutschland für einen KI-Einsatz im Bildungswesen aus, wie der Digitalverband mitteilt. 

Lern-Bot "Syntea" als anregender Tutor 

An der Internationalen Hochschule (IU) in Erfurt hat man bereits etliche Praxiserfahrungen mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Lehr- und Lernprozess gesammelt. Die Eigenentwicklung "Syntea" auf Basis von ChatGPT steht seit Ende 2023 allen Studierenden zur Verfügung. 

Quintus Stierstorfer, Director Synthetic Teaching der IU, war an der Entwicklung maßgeblich beteiligt. Er erklärt gegenüber Forschung & Lehre die Ziele des KI-Einsatzes: "Unsere Mission ist es, Menschen durch die beste personalisierte Bildung zu befähigen. Dafür ist generative AI die ideale Technik, um die individuellen Lernbedürfnisse jedes einzelnen Studierenden zu berücksichtigen. Langfristig soll Syntea zu einem personalisierten Lernbuddy werden, der die Studierenden aktiv motiviert und dabei unterstützt, ihre Lernziele zu erreichen."  

"Langfristig soll Syntea zu einem personalisierten Lernbuddy werden, der die Studierenden (…) unterstützt, ihre Lernziele zu erreichen." 
Quintus Stierstorfer, Director Synthetic Teaching, IU

Darüber hinaus sei Syntea viel mehr als ein reiner Bot, erläutert Stierstorfer: "Syntea hat ein Gesicht und einen Namen. Es redet mit den Studierenden, motiviert sie und macht zwischendurch sogar Scherze. Viel wichtiger noch ist, dass Syntea nicht nur auf Zuruf funktioniert, es ermutigt die Studierenden zum Weiterlernen, macht proaktiv auf sich aufmerksam und lenkt den Nutzenden in die richtige Richtung. So schlägt Syntea nächste Schritte vor, etwa wenn eine Prüfung ansteht und die oder der Studierende noch ein Kapitel zu lernen hat." 

Studierende werden aus ihrer Komfortzone gelockt 

Auf die Frage von Forschung & Lehre, ob ein Lern-Bot bei den Studierenden nicht den eigenständigen Blick über den Tellerrand einschränke, kontert Dr. Sven Schütt, CEO Internationalen Hochschule, überzeugt: "Das Gegenteil ist der Fall. Durch den sokratischen Lernansatz werden Studierende aus ihrer Komfortzone gelockt und zu weiteren Fragen und tieferem Verständnis angeregt. Syntea hat dabei den Vorteil, dass die KI Informationen aus der IU-eigenen Lernbibliothek heranzieht. Dies ermöglicht es Syntea, akademisch korrekte und prüfungsrelevante Antworten zu geben, die – im Gegensatz zu Antworten generischer KI-Bots – von den Studierenden direkt verwendet werden können. Darüber hinaus verweist Syntea in den Antworten direkt auf die Quelle im Skript, was ein nahtloses Weiterlernen ermöglicht." 

"Durch den sokratischen Lernansatz werden Studierende aus ihrer Komfortzone gelockt und zu weiteren Fragen und tieferem Verständnis angeregt."
Sven Schütt, CEO Internationalen Hochschule

Zudem sei die Hemmschwelle, Fragen zu stellen, laut Schütt deutlich gesunken: "Zuvor trauten sich viele Studierende in der Gruppe nicht, bestimmte Fragen an ihren Tutor oder ihre Tutorin zu stellen. Seit Herbst 2023 können sie Syntea in einem privaten und anonymen Chat-Dialog Fragen stellen. Seitdem werden um ein Vielfaches mehr Fragen gestellt. Und nach unseren Erhebungen empfinden 85 bis 90 Prozent der Studierenden Synteas Antworten als hilfreich." 

KI erstellt Prüfungsfragen für Staatsexamina 

Auch in der Hochschulwelt ist KI längst angekommen. In Bonn zeigte man sich kürzlich dennoch überrascht: Ein Test des Instituts für Medizindidaktik ergab, dass Studierende in fast der Hälfte der Fälle nicht korrekt zuordnen konnten, ob Multiple-Choice-Fragen von Mensch oder KI kamen. Zudem stuften sie die Schwierigkeit der Aufgaben als praktisch identisch ein, wie das Uniklinikum Bonn schildert. 

Bekannt war dort zwar schon, dass ChatGPT und ähnliche Tools Fragen in medizinischen Staatsexamina beantworten können. Genutzt würden die Programme auch bereits zum Selbsttesten des angeeigneten Wissens. Nun scheine für das Medizinstudium also noch dazu ein vielversprechendes Werkzeug für das Erstellen von Prüfungsfragen gefunden zu sein. 

Laut Dr. Sven Schütt, CEO der IU, werden die Lehrenden zukünftig durch den Einsatz von KI enorm entlastet: "Die ideale Situation für jede oder jeden Lehrenden wäre, Studierenden den Lernstoff in individuellen Tutorien zu vermitteln. Dies ist in größeren Gruppen aber leider nur begrenzt möglich. Durch den Einsatz von KI ist eine wesentlich zielgerichtetere und personalisierte Vermittlung von Wissen möglich. Die Erfahrungen von Studierenden mit Syntea zeigen etwa, dass Syntea ihnen gezielt und individuell hilft, Lernlücken zu erkennen, schneller zu lernen und ihre Lernergebnisse zu verbessern. Damit komplementiert Syntea die Lehre unserer Fakultät. Zusätzlich beantwortet Syntea häufig wiederkehrende Fragen, so dass sich unsere Professorinnen auf wertstiftendere Tätigkeiten konzentrieren können."

dpa/cva