Ältere Zuhörerinnen und Zuhörer sitzen in einem Hörsaal bei einem Gastvortrag
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Lehrformat
Mit der Ringvorlesung die Dritte Mission beleben

Die Ringvorlesung ist ein offenes Lehrformat für alle Interessierten. Das stützt die Dritte Mission der Unis. Empfehlungen anhand eines Beispiels.

Die Dritte Mission der Hochschulen ist heute mehr als nur der Ruf nach Vernetzung mit gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren außerhalb der Campus-Mauern. Sie ist eine zunehmend gelebte Praxis bei gleichzeitig knappen zeitlichen und finanziellen Ressourcen in Forschung und Lehre. Trotzdem könnte noch etwas mehr Leben nicht schaden, denn selbst in den anwendungsorientierten Disziplinen erreichen Erkenntnisse aus der Forschung und Lehrinhalte noch immer zu selten die Praxis. Gleichzeitig verschließt so manche universitäre Lehre die Augen davor, dass die meisten Studierenden keine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen werden. Gerade diese Mehrheit profitiert von Anwendungsbezug und Blick über den Tellerrand eng gefasster Module. Zu dieser erweiterten Perspektive gehört letztlich auch die Öffnung der eigenen Lehre in Richtung benachbarter Fachdisziplinen.

Alles unbestritten wichtig und dennoch nicht wirklich neu. Ein tatsächliches Novum jedoch ist die spürbare Unruhe seit Herbst 2022 im Hochschulwesen, ausgelöst durch einen Chatbot, der letztlich nur erfahrbar macht, was schon lange dämmerte: Technologie kann frontale Wissensvermittlung perspektivisch zumindest in Teilen übernehmen. Unsere Aufgaben als Lehrende aus Fleisch und Blut werden daher zunehmend die Orchestrierung sozialen Lernens und die Moderation kritischen Denkens sein. Wie das gelingen kann? Die für Disziplinen und Praxis offene Ringvorlesung ist eine Option.

Rezept für eine Ringvorlesung

Das dritte Corona-Wintersemester am Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin zwischen Zoom-Müdigkeit, Überarbeitung und Zukunftsängsten – das schrie förmlich nach inhaltlicher Abwechslung, sozialer Dynamik und positivem Ausblick. Unsere Antwort: Open Lecture Series "Future of Work" im internationalen Master of Psychology. Die Zutaten: wöchentlich am späten Freitagnachmittag ein Impuls von Expertinnen und Experten verschiedener Disziplinen aus Forschung und Praxis. Im Plenum ein bunter Mix aus Studierenden unseres Instituts, anderer Hochschulen und Interessierten aus der Berufspraxis. Zwei Drittel Input, ein Drittel Diskussion – moderiert im Co-Teaching. Doch was schmackhaft klingt und dann auch munden soll, bedarf einer intensiven Vorbereitung, strukturierten Durchführung und akribischen Nachbereitung – im Folgenden schlaglichtartig dargestellt.

Die Vorbereitung

Ein farbenfroher thematischer Mix kann auch schnell zu bunt und damit ungenießbar werden. Daher ist die Wahl einer inhaltlichen Klammer auf einem angemessenen Abstraktionsniveau entscheidend. Im vorliegenden Fall: Zukunft der Arbeit im Kontext digitaler Transformation – lässt viel zu und umrahmt zugleich. Themen wiederum sowie deren Vermittlung hängen an Personen und so ist die Rekrutierung passender Expertinnen und Experten eine der zentralen Herausforderungen. Wer steht eigentlich wofür? Wer präsentiert gut und ist bereit, Zeit zu investieren? Antworten auf diese Fragen lassen sich nur mit ausreichend Vorlauf und einem lebendigen Netzwerk finden. In unserem Format fußte die Auswahl der 13 Gastdozierenden aus Wissenschaft, Praxis sowie Grenzbereichen beider Welten auf einer wiederum pandemisch getriebenen Vorarbeit, denn plötzlich hatten viele Zeit und Diskussionsbedarf. Im Open-Access-Publikationsprojekt "Sonderband Zukunft der Arbeit" wurden Ende 2020 insgesamt 122 Kurzartikel von 181 Autorinnen und Autoren als kostenfreies eBook veröffentlicht – eine ideale Plattform zur Auswahl von Gästen für eine Ringvorlesung. Sind thematischer Rahmen und Mitwirkende gesetzt, sollte das Augenmerk auf Netzwerkeffekten liegen. Die schönste Veranstaltung verhallt, wird sie nicht konsumiert – von Studierenden, vom Kollegium und von der Praxis. LinkedIn und ResearchGate bieten sich hier an, um das Lehrformat in die Öffentlichkeit zu bringen und ein Plenum zu kuratieren, das allen Beteiligten nützt.

Die Durchführung

Wie eine solche Ringvorlesung letztlich konkret umgesetzt wird, hängt von Disziplin, Institution und persönlichen Vorlieben ab. Allerdings lassen sich einige grundsätzliche Empfehlungen aussprechen: Randzeiten – wie in unserem Fall freitags um 17 Uhr – ermöglichen vielbeschäftigten Gastdozierenden, berufstätigen Studierenden und Gästen aus Unternehmen am ehesten die Teilnahme. Inklusiv wirkt zudem ein hybrides Format, da ortsunabhängig sowie kostenfrei agiert werden kann. Werden Präsenz vor Ort und Teilnahme in der Cloud kombiniert, bietet sich Co-Teaching an – so können physischer und virtueller Raum gesondert moderiert und somit alle animiert werden.

Die Nachbereitung

Ist die Durchführung gelungen, gilt dasselbe wie für alle Lehrformate: Am Ende ist auch das schönste Format flüchtig, wenn nicht das Wesentliche festgehalten wird – zur Vertiefung und für all diejenigen, die nicht teilnehmen konnten. Daher kommt der Nachbereitung eine besondere Bedeutung zu. Über Lernplattformen, Mailings und Social Media lassen sich die Erkenntnisse aus Vortrag und Diskussion in kondensierter Form sowie mit Literaturempfehlungen zur intensiveren Beschäftigung gut verbreiten. In unserem Fall: wöchentlich nach der Veranstaltung eine Langversion, unterfüttert mit aktueller Literatur aus der Forschung, für Studierende per Moodle und Gasthörende per E-Mail sowie eine Kurzversion für ein breiteres Publikum per LinkedIn. Soll der Erkenntnisgewinn länger nachhallen, bietet sich eine summative Zusammenfassung zum Semesterende an, die in allen Kanälen gestreut werden kann. Ein solches Booklet wurde nach der letzten Vorlesung auf LinkedIn zur Verfügung gestellt und führte zu mehr als 17.000 Impressions und 155 Reaktionen – Dritte Mission in Zahlen. Die Erkenntnisse und Empfehlungen zum eigenen Lehrformat im Kollegium zu teilen rundet die Nachbereitung ab.

Wie bewerten Veranstalter und Teilnehmende die Ring­vorlesung?

Eine Bewertung mit etwas Abstand zeigt, dass Licht und Schatten auch bei diesem Lehrformat untrennbar zusammengehören, hier in Form von Chancen und Herausforderungen kurz umrissen.

Die Chancen

Sollen Studierende unter Einbezug von Praxis und über Disziplinen hinweg lernen, Inhalte ganzheitlich und kritisch zu reflektieren, ist eine Ringvorlesung ein passendes Vehikel. Zudem ergeben sich vielfältige Netzwerkmöglichkeiten für Studierende, Gasthörende und Dozierende, die nicht selten in Zugängen zu Praktika, Einstiegsjobs oder auch Kooperationen in Lehre und Forschung münden. Auf institutioneller Ebene dürfte die Positionierung auch außerhalb der eigenen Region und wissenschaftlichen Community attraktiv sein. Nicht zuletzt ist die persönliche Fortbildung der Veranstalter durch die Konfrontation mit Modellen und Befunden benachbarter Forschungsbereiche definitiv ein Gewinn.

"Licht und Schatten gehören auch bei diesem Lehrformat untrennbar zusammen."

Die Herausforderungen

Zunächst zum hässlichen Bruder des Erkenntnisgewinns, dem Prüfungswesen. Die Frage nach der Klausurrelevanz – so zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk gestellt – lässt sich bei einer Ringvorlesung nicht ganz so einfach beantworten. Der Notendruck ist hoch und Studierende wollen oft genau wissen, was sie lernen sollen. Da nur bedingt Kontrolle über die Inhalte der Gastvorlesungen besteht und die hohe Dynamik in den Diskussionen nur begrenzt eingefangen werden kann, dürfte die Prüfungsvorbereitung ein Unsicherheitsfaktor bei derartigen Formaten sein. Im vorliegenden Fall wurden die Gastdozierenden aus einem Autorenkreis rekrutiert, wodurch via Verweis auf den jeweiligen Fachartikel eine strukturierte Basis für die Prüfungsinhalte vorhanden war. Das mag nicht immer so möglich sein und stellt die Lehrenden vor gewisse Herausforderungen.

Werden Prüfungsinhalte auf Schriften ausgelagert, um möglichst frei im Diskurs zu sein, ergibt sich eine weitere Hürde: die Teilnahmemotivation. Bei kleinen Studiengängen und hoher Abwesenheitsrate kann es für Gastgeberin und Gastgeber sowie Dozierende unangenehm werden, wenn vor leeren Rängen gespielt wird. Erfahrungsgemäß hilft die Animation der Studierenden über die oben beschriebene Nachlese. Ebenfalls motivierend wirken Gasthörende, die nicht nur den Raum füllen, sondern auch viele Debatten mit Perspektiven aus der Praxis dynamisieren. Doch auch für Studierende, die regelmäßig teilnehmen, bestehen Hindernisse. Zunächst sind Interdisziplinarität, Praxisnähe sowie die hohe personelle Variabilität der Lehrkräfte ungewohnt, was insbesondere zu Semesterbeginn für Zurückhaltung bei Fragen und Diskussionen führt. Hinzu kommt das offene Format, wodurch im Plenum nicht nur bekannte Gesichter, sondern auch Gäste außerhalb des Studiengangs anzutreffen sind. Einige Studierende tun sich mit dieser Art Öffentlichkeit zumindest zu Beginn schwer, ihre Hemmungen abzulegen und sich zu beteiligen, was bei internationalen Studiengängen durch Sprachbarrieren noch verstärkt werden kann. Eine weitere Herausforderung sind ausgeschaltete Kameras der Cloud-Zuhörerschaft. Ein Phänomen, das in der Hochschullandschaft bekannt ist, als ausbleibendes Echo der Zuhörerschaft jedoch insbesondere Gastvortragende irritieren kann.

Nachahmung der Ringvorlesung empfohlen

Eine Ringvorlesung macht Arbeit, ist unwägbar und bricht mit Konventionen. Doch die Dritte Mission lässt sich mit diesem Format gut bedienen. Der Ressourceneinsatz ist gerade in Zeiten etablierter Formen virtueller Zusammenarbeit vertretbar. Brücken zur Praxis und zu anderen Disziplinen lassen sich bauen, müssen allerdings auch gewartet werden, um Nutzen zu stiften. Und wer sich um die Zukunft der Vorlesung in Zeiten von ChatGPT und Co. sorgt, ist mit dieser Variante sicher gut beraten. Am Ende lebt die Ringvorlesung vor allem von der Offenheit und dem Mut aller Beteiligten. Dazu gehört auch der kollegiale Austausch, zu dem wir hiermit einladen möchten.