Autos und ausgestiegene Reisende im Stau
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Mobilität
Das Auto als Zuhause

Die Menschen sind immer schneller und öfter unterwegs. Wie werden wir uns in Zukunft fortbewegen? Mobilität aus Sicht eines Verkehrspsychologen.

Von Friederike Invernizzi 10.06.2019

Forschung & Lehre: Herr Professor Schlag, schaut man auf Deutschlands Straßen, hat man den Eindruck, dass Autofahren nach wie vor sehr beliebt ist...

Bernhard Schlag: Es ist richtig, dass wir in den hochindustrialisierten Ländern eine hohe Dichte an Fahrzeugen haben. In Deutschland sind derzeit über 57 Millionen Kraftfahrzeuge (das sind 692 Kfz je 1.000 Einwohner) angemeldet, darunter 47 Millionen Pkw. Mit diesen Zahlen ist ein hoher Sättigungsgrad erreicht, was insbesondere in Ländern wie China oder auch Indien nicht der Fall ist.

F&L: Was genau bindet die Menschen so stark an das Auto?

Bernhard Schlag: Da ist zunächst einmal der große Nutzen des Autos als Transportmittel. Aus psychologischer Sicht spielen noch zwei andere Motive eine Rolle: Autos und auch andere Fahrzeuge sind nach wie vor ein soziales Symbol. Man stellt sich selbst dar und das, was man erreicht hat. Außerdem macht vielen Menschen das Autofahren nach wie vor Spaß, das zeigen Befragungen. Hier sieht man also eine stark intrinsische Motivation. Einerseits wird das Fahren zwar durchaus als stressig erlebt, aber andererseits eben auch als Gewinn, da man sich in seinem Fahrzeug frei und eigenständig bewegen kann. Das ist relativ skurril insofern, als es kaum einen Lebensbereich gibt, der so stark reglementiert ist wie der Straßenverkehr.

"Das Auto wirkt wie eine Art Kokon, es ist eine Verlängerung des privaten Raums."

Außerdem fühlt man sich im Auto relativ sicher, nicht im Sinne von "safety" (Schutz vor Unfällen), sondern im Sinne von "security", (Schutz vor Belästigungen und Angriffen von außen). Das Auto wirkt hier wie eine Art Kokon, in dem man sich heimisch fühlt, es ist eine Verlängerung des privaten Raums, zu dem ich den Zugang kontrollieren kann. Das Fahrzeug transportiert so immer einen Teil des Zuhauses mit. Zudem ist man mit dem Auto flexibler und kann mehrere Wege miteinander kombinieren.

Portraitfoto von Prof. Bernhard Schlag
Bernhard Schlag ist Professor für Verkehrspsychologie an der TU Dresden. privat

F&L: Freie Fahrt für freie Bürger – auf deutschen Straßen sieht die Realität zunehmend anders aus. Wie beeinflussen wachsende Staus und andere Verkehrsbehinderungen unsere Autofahrten?

Bernhard Schlag: Der tägliche Stau ist eigentlich ein Erlebnis, das uns vom Autofahren abhalten müsste. Tatsächlich tolerieren das aber viele Menschen. Zeitverluste durch Stau werden vielfach schon eingeplant, auch wenn dies viele frustriert. Die meisten Menschen sehen allerdings trotz dieser Frustration keine Alternative zum Autofahren, was leider auch oft den Tatsachen entspricht, zum Beispiel in vielen ländlichen Gegenden, wo die Infrastruktur nicht so stark ausgebaut ist.

F&L: Was macht der tägliche Stau mit den Pendlern?

Bernhard Schlag: Staus sorgen für starke Frustrationserlebnisse in dem klassischen Sinn, dass sie unseren ungestörten Weg zum Ziel unterbrechen. Manchmal werden sie aber auch als "erzwungene" Pause gesehen, die die Möglichkeit gibt, Zeit für sich zu haben oder zu telefonieren.

F&L: Oft scheint es, als ob die Vernunft beim Autofahren schnell an ihre Grenzen kommt. Ruft das Automobil versteckte Instinkte in uns wach, die jenseits der Ratio liegen?

Bernhard Schlag: Ich würde nicht sagen, dass das Automobil generell versteckte Instinkte weckt. Es hilft auch nicht beim Ausleben unterdrückter Aggressionen. Für viele Menschen ist es jedoch so, dass das Gefühl, so viele "Pferdestärken" zu steuern, belebend wirkt. Die meisten gehen damit jedoch eher vernünftig und maßvoll um. Oft genügt das gute Gefühl, über große Möglichkeiten zu verfügen, ohne dass man diese im Alltag jederzeit nutzen möchte.

"Oft genügt das gute Gefühl, über große Möglichkeiten zu verfügen, ohne dass man diese im Alltag jederzeit nutzen möchte."

F&L: Autofahrer werden insgesamt immer älter....

Bernhard Schlag: Der Prozess der demografischen Veränderung ist schon im vollen Gange. Wir haben jetzt die erste Generation von alternden Autofahrern, die ihr Leben lang Auto gefahren sind. Die geben das nicht auf, weil sie das ihr Leben lang so gewohnt sind und ihren Alltag auch darauf abgestimmt haben. Wir haben deshalb zur Zeit möglicherweise die "autoaffinsten" Jahrgänge, die es je gegeben hat und die es je geben wird, weil die Jüngeren da schon wieder zurückhaltender sind. Die 20-Jährigen zum Beispiel machen später ihren Führerschein oder kaufen nicht direkt ein Auto. Sie haben andere Möglichkeiten der Mobilität, und außerdem haben sich Lebensphasen verschoben. Da wird ein Auto eben erst angeschafft, wenn das erste Kind unterwegs ist. Der Gang der Dinge ist, dass die Älteren eine deutlichere Präsenz im besonderen Maße im Straßenverkehr haben werden.

F&L: Welche Probleme erwachsen daraus?

Bernhard Schlag: Das wirft natürlich Probleme auf, weil Älteren ein paar Dinge beim Autofahren nicht mehr so leicht fallen, die von Belang sind, vor allem, was die Wahrnehmungsfunktionen sowie kognitive und motorische Funktionen wie geteilte Aufmerksamkeit, schnelles Reagieren oder Multitasking betrifft. Auf der anderen Seite sind die Älteren aber durchaus geschickt und daher auch in der Lage, dies zu kompensieren, indem sie beispielsweise langsamer fahren, mehr Abstand halten oder zu anderen Zeiten fahren. Ein großes Thema ist derzeit, ob man obligatorische Screenings für Ältere einführt. In Deutschland setzt man hier auf freiwillige Tests der Fahrkompetenz.

F&L: Wie verändern Assistenzsysteme (Parkassistenz, ABS, Navigationssysteme) das Fahren und welche Gefahren sind damit verbunden?

Bernhard Schlag: Assistenzsysteme sind ein zentrales Thema der Verkehrspsychologie geworden. Mittlerweile haben alle Automobilhersteller und -zulieferer, die an diesen Systemen arbeiten, Psychologen mit an Bord, um eine nutzergerechte Gestaltung zu gewährleisten. Das hat eine hohe Bedeutung für die Zukunft. Hier spielen Komfortfunktionen, aber auch Sicherheitsfunktionen eine Rolle. Bei den Sicherheitsfunktionen geht es um die passiven klassischen Systeme wie ABS, ESP und so weiter, aber auch um Systeme, die aktiv das Fahren gestalten oder Teilfunktionen übernehmen. Letzteres geht dann in Richtung "Autonomes Fahren". Einige Assistenzsysteme sind bereits von der EU bei Neufahrzeugen verpflichtend vorgeschrieben. Ein Nachteil mancher Systeme der aktiven Sicherheit ist, dass sich die Fahrerinnen und Fahrer zu sehr daran gewöhnen und sich zu sehr darauf verlassen.

F&L: Wie beurteilen Sie denn die Zukunft des "Autonomen Fahrens"?

Bernhard Schlag: Ich bin skeptisch, ob sich das "Autonome Fahren" komplett durchsetzt. Ich vermute, dass Teilautomatisierungen und "gemischte" Systeme dominieren werden. Häufig werden aber in der öffentlichen Diskussion einige Szenarien durcheinandergebracht. Da gibt es zum einen die Möglichkeit, dass der Mensch nur noch "Passagier" ist, er also von der Lenkung von Fahrzeugen komplett abgekoppelt ist. Es gibt bereits autonom, d.h. führerlos fahrende Bahnen. Diese Systeme müssen jegliche Art von Konflikten vollständig vermeiden, sie folgen konsequent der Philosophie "safety first". Sie erfordern damit ein "eingehaustes" System, geschützt vor jedem Eingriff von außen. Wenn sich das komplett durchsetzen würde, würde das die Situation in den Städten völlig verändern, in einer Art, wie es sich eigentlich keiner wünscht.

Bei nicht vollständig automatisierten Systemen ist hingegen ein Hauptproblem die Überwachung, der Mensch müsste im Notfall direkt und schnell übernehmen. Die Aufgabe verändert sich von einer aktiven Tätigkeit zu einer passiven Überwachungstätigkeit. Menschen sind aber für "Monitoring"-Tätigkeiten dieser Art nicht gut geeignet. Zurzeit forscht man daran, wie eine "Warnkaskade" gestaltet sein müsste, damit es rechtzeitig und schnell zur Gefahrenintervention kommt. Attraktiv werden eher Fahrzeuge sein, bei denen der Fahrer selbst aktiver Fahrer bleibt, aber durch eine Vielzahl von hilfreichen Assistenzfunktionen unterstützt wird.

F&L: Welche neuen Risiken und Unfall­arten prognostizieren Sie für die Zukunft?

Bernhard Schlag: Es wird andere Risiken geben, allerdings wird die technische Entwicklung insgesamt dazu beitragen, dass die Sicherheit steigt. Das liegt hauptsächlich daran, dass die teil- oder auch vollständig automatisierten Fahrzeuge viel langsamer unterwegs sein werden und so weniger Unfälle passieren und vor allem die Personenschäden geringer werden.

F&L: Ihre Vision des Automobils der Zukunft?

"In Deutschland und anderen industrialisierten Ländern wird das Auto an Bedeutung verlieren."

Bernhard Schlag: In Deutschland und anderen hochindustrialisierten Ländern wird das Auto an Bedeutung verlieren, in anderen Nationen wird das allerdings umgekehrt sein. Das Auto wird bei uns neben anderen Fahrzeugen in einer Art "Mobilitätsmix" existieren. Es wird zum Beispiel mehr Sharing-Modelle geben: Der Besitz eines Autos ist nicht mehr so wichtig, sondern die Verfügbarkeit unterschiedlicher Fahrzeuge. Man könnte sich hier vorstellen, dass sich Autohändler in "Mobilitätsanbieter" verwandeln.

Das Automobil der Zukunft wird zudem sehr stark assistiert sein, der Mensch bleibt Fahrzeugführer, bekommt aber jede Menge kleine Helfer an die Seite. Profitieren werden vor allem in den Städten nutzerfreundlich organisierte öffentliche Verkehrsmittel, unterschiedliche Formen von Fahrrädern und anderen bevorzugt elektrisch angetriebenen Kleinfahrzeugen sowie das klassische Zufußgehen. Wir beobachten auch in diesem Zusammenhang eine große Veränderung der Städte: Früher fuhr man mit dem Auto in die Stadt, um Einkäufe zu erledigen, heute will man die Stadt als Ort aufsuchen, um zu flanieren und zu entspannen. Der Stadtraum erfährt eine völlig andere Nutzung.