Migration und Corona
"De-Globalisierung findet auch im Kopf statt"
Obgleich der Mensch ein sesshaftes Wesen ist, hat Mobilität für ihn eine große Bedeutung. In der Phase intensivierter globaler Verflechtungen seit dem Zweiten Weltkrieg wuchs die internationale Mobilität stark an: Nach UN Angaben stieg die Zahl internationaler Migrantinnen und Migranten zwischen 1960 und 2019 von etwa 75 Millionen auf rund 272 Millionen. Internationale Mobilität kann die verschiedensten Gründe haben, wobei Arbeitsmigration und Flucht zwei der bedeutendsten – und zugleich die am stärksten politisierten – Ursachen sind. Im Zuge der Corona-Pandemie erleben wir derzeit erhebliche Einschränkungen unserer Mobilität, die von internationalen Migrantinnen und Migranten am stärksten und am schmerzlichsten wahrgenommen werden.
Transnationale Lebensrealitäten
Die geographische Migrationsforschung untersucht als eine wesentliche Auswirkung internationaler Migration Prozesse der Transnationalisierung, das heißt intensive und dauerhafte soziale Verflechtungen über Staatsgrenzen hinweg, die sich über Generationen fortsetzen und in denen transnationale Referenzsysteme und Beziehungsgeflechte eine wesentliche Bedeutung für die eigene Lebensgestaltung und Identitätsfindung haben. Welche Auswirkungen hätte eine nachhaltige De-Globalisierung für diese transnationalen Lebensrealitäten?
Im Kontext der Corona-Pandemie wird derzeit verstärkt über das Phänomen der De-Globalisierung diskutiert, also der zunehmenden Entflechtung von zuvor intensiven und als stabil angenommenen internationalen Verflechtungen. Am deutlichsten wird dies durch die Schließung von zuvor durchlässigen Grenzen, aber auch durch die Kappung von internationalen Flugverbindungen und durch Bestrebungen, Produktions- und Lieferketten zu re-nationalisieren. Am stärksten treffen die Grenzschließungen jene, für die internationale Mobilität ein wesentlicher Bestandteil der Lebensrealität ist. Transnationale Familien können sich nicht mehr sehen, Arbeitsmigranten müssen sich vielfach zwischen der Aufrechterhaltung des Arbeitsplatzes im Ausland oder dem Leben mit der Familie entscheiden. Flüchtlinge sind mit der Aussetzung von Asylverfahren und einer erheblichen Verzögerung von Resettlement-Prozessen oder Familienzusammenführungen konfrontiert. Dabei ist es zu einer Verstärkung staatlicher Definitions- und Handlungsmacht gekommen: Während viele Migrationsformen mit Hinweis auf die Corona-Pandemie stark eingeschränkt wurden, wurden Migrationen dort zugelassen, wo ihre Nützlichkeit im Abwägungsprozess überwiegt – zum Beispiel bei landwirtschaftlichen Saisonarbeitern.
Psychologische Grenzziehungen
Neben diesen faktischen Folgen für internationale Migrantinnen und Migranten dürfen auch die langfristigen psychologischen Effekte von Grenzschließungsprozessen nicht vergessen werden. Denn De-Globalisierung findet auch im Kopf statt. Seit jeher erzeugt die Verschränkung von Mobilität und Sesshaftigkeit Spannungen zwischen sesshaften und mobilen Menschen, basierend auf der Frage von Zugehörigkeit. Aus der sozialpsychologischen Integrationsforschung wissen wir, dass die Angst vor "dem Fremden" dort am größten ist, wo "Fremde" am wenigsten präsent sind. Diese oftmals diffusen Ängste sind gekoppelt mit Abgrenzungsbestrebungen und der Konstruktion des "Eigenen" als homogene Gemeinschaft. Aus dieser Perspektive erhält die Definition von Zugehörigkeit ein besonderes Gewicht, verbunden mit Fragen nach der Legitimität der Anwesenheit von "Fremden" und der Notwendigkeit, diese am gesellschaftlichen Leben und Wohlstand teilhaben zu lassen.
"Die Angst vor 'dem Fremden' ist dort am größten, wo 'Fremde' am wenigsten präsent sind."
In Zeiten starker Politisierung von Migration, sei es die "Flüchtlingskrise", der Brexit oder nun die Corona-Pandemie, werden Ängste und Vorbehalte gegenüber Migranten durch den öffentlichen Diskurs befördert. Bereits vor dem Brexit verließen viele Migranten das Vereinigte Königreich, weil sie zunehmend angefeindet wurden. In den Jahren des großen Flüchtlingszuzugs in Deutschland brannten Asylbewerberheime, um eine Zuweisung von Geflüchteten zu verhindern. In der Corona-Krise gibt es teils Denunziationen innerhalb der Bevölkerung, wenn die Vermutung besteht, "Fremde" würden sich entgegen der Allgemeinverordnung in einer Region aufhalten, in der sie nicht wohnhaft sind. Daraus lässt sich folgern, dass eine De-Globalisierung infolge der Corona-Pandemie nicht nur durch physische Mobilitätserschwernisse, sondern auch durch zunehmende psychologische Grenzziehungen nachteilige Effekte für Migrantinnen und Migranten haben wird.
Auswirkungen auf internationale Migration
Dies gilt umso mehr für jene, die aufgrund prekärster Lebensverhältnisse in der Migration kaum Handlungsmacht besitzen, zum Beispiel die rund 40.000 Geflüchteten, die derzeit in heillos überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln ausharren. Ihr Schicksal ist im Kontext der Corona-Krise zunehmend in den Hintergrund geraten. Während sich im Januar und Februar auf EU-Ebene ein Konsens entwickelte, zumindest die minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten aus den Lagern herauszuholen und auf andere europäische Staaten zu verteilen, sind diese Ansätze durch die Corona-Pandemie fast zum Erliegen gekommen. Inzwischen wurden zwar zwölf Kinder und Jugendliche nach Luxemburg und 50 weitere nach Deutschland ausgeflogen, doch das ist angesichts der Gesamtsituation in den Lagern, insbesondere für die vulnerabelsten Gruppen und in Erwartung der Corona-Pandemie, erschütternd wenig. Während der Prozess um die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems bereits vor Corona sehr schleppend voranschritt, dürfte es auf absehbare Zeit und vor dem Hintergrund des Pandemiegeschehens und seiner Folgen keine weiteren Initiativen auf EU-Ebene geben, sich auf maßgebliche Verbesserungen des Asylsystems im Sinne der Menschenwürde zu einigen.
Aus diesen Überlegungen muss das traurige Resümee gezogen werden, dass die durch die Corona-Pandemie zu erwartenden nachhaltigen De-Globalisierungsprozesse starke Auswirkungen auf internationale Migration haben werden. So wie die ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie die soziale Ungleichheit innerhalb von Staaten und weltweit verschärfen wird, so wird sie auch zu einer weiteren Polarisierung im Bereich der Migration führen: Auf der einen Seite stehen dabei die potenten Migrantinnen und Migranten und jene, die im Sinne der staatlichen Regulierungen als nützlich erachtet werden. Auf der anderen Seite stehen die vulnerablen Migrantinnen und Migranten, die keine eigenen Ressourcen haben und zugleich unter einem hohen Migrationsdruck stehen und dementsprechend am stärksten auf internationale Solidarität angewiesen sind.