Eine Seniorin und zwei Mädchen sitzen auf einer Veranda in Indonesien
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Einsamkeit und Verbundenheit
"Ich bin einfach allein"

Einsamkeit ist weltweit zu finden. Verschiedene Kulturen behandeln einsame Personen jedoch völlig unterschiedlich. Ein Gespräch.

Von Ina Lohaus 18.10.2022

Forschung & Lehre: Frau Professorin Röttger-Rössler, in welchen Kontexten ist Vereinsamung in unterschiedlichen Kulturen zu finden?

Birgitt Röttger-Rössler: Einsamkeit scheint zu einem globalen Problem zu werden. Sie betrifft grundsätzlich alle Gruppen, unabhängig von Nationalität, Klassenzugehörigkeit, Geschlecht oder Alter. In statistischen Erhebungen zeigt sich jedoch, dass es drei Gruppen gibt, die ein besonderes Einsamkeitsrisiko haben. Das sind alte Menschen, junge Menschen etwa zwischen 13 und 19 Jahren sowie "displaced persons", also migrierte, geflüchtete und vertriebene Personen. Bei dem Versuch zu interpretieren, warum die Einsamkeit nicht nur in Europa und Amerika, sondern in vielen Ländern statistisch nachweisbar zunimmt, wird häufig argumentiert, dass dies ein Hinweis auf eine Individualisierung und Singularisierung in den Gesellschaften sei. Da würde ich persönlich ein Fragezeichen hinter setzen. Meiner Ansicht nach ist bei über 250 Millionen Migranten und ungefähr 70 Millionen Menschen, die gezwungenermaßen zu "displaced persons" geworden sind, eine Zunahme an Einsamkeit nicht erstaunlich, denn wir müssen davon ausgehen, dass diese Gruppen in besonderer Weise einem Einsamkeitsrisiko ausgesetzt sind.

Portraitfoto von Prof. Dr. Birgitt Röttger-Rössler
Birgitt Röttger-Rössler ist Seniorprofessorin am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin. Miriam Klengel

F&L: Sind es eher persönliche Bindungen, die darüber entscheiden, ob jemand einsam wird, oder spielen auch die Strukturen einer Gesellschaft eine Rolle?

Birgitt Röttger-Rössler: Dazu muss zunächst geklärt werden, was unter Einsamkeit zu verstehen ist. Es gibt eine subjektive Einsamkeit bei Menschen, die sich als nicht verbunden, nicht sozial eingebettet, nicht zugehörig fühlen. Das sagt aber zunächst nichts darüber aus, ob diese Personen auch de facto sozial isoliert sind. Vielmehr ist es durchaus möglich, dass sich Menschen selbst in einem dichten familiären und sozialen Netz einsam fühlen. Diese subjektive Einsamkeit ist meiner Meinung nach auf fehlende sozioemotionale Verbundenheit zurückzuführen und nicht unbedingt auf physische Isolation. Es gibt sie zum Beispiel bei älteren Menschen, die zwar eine Familie haben, die sich um sie kümmert, die sich aber trotzdem einsam fühlen, weil ihre Zeitgenossen, Peers und Freunde verstorben sind und es immer weniger Menschen in ihrem Umfeld gibt, die dieselben Zeiten durchlebt haben. Ich denke dabei an eine sehr alte Indonesierin aus meiner Forschungsregion, die mitten in ihrer großen Familie saß, umgeben von Enkeln und Urenkeln, und mir sagte: "Ich bin einfach allein." Das wirkte zunächst befremdlich, aber dann erzählte sie, dass ihre etwas jüngere Schwester kürzlich gestorben sei. Das war ihre letzte Zeitgenossin, mit der sie nun viele Erinnerungen nicht mehr teilen konnte. Eine solche subjektiv empfundene Einsamkeit ist ein Gefühl, das es bei allen Menschen in allen Kulturen geben kann. Sie muss jedoch abgegrenzt werden von echter sozialer Vereinsamung, die mit soziokulturellen und demografischen Faktoren zusammenhängt.

F&L: Gehen verschiedene Kulturen auch verschieden mit dem Phänomen der Einsamkeit um?

Birgitt Röttger-Rössler: Wie einsame Menschen behandelt werden, hängt sehr stark von den soziokulturell fundierten Praktiken der mitmenschlichen Fürsorge ab. Wie will man grundsätzlich für andere da sein? Wie sehr fühlen sich Familienmitglieder oder Nachbarn dazu verpflichtet, sich zum Beispiel um alte Menschen zu kümmern, die plötzlich allein sind?

F&L: Können Sie ein Beispiel aus Ihrer Forschung nennen?

Birgitt Röttger-Rössler: In Indonesien, aber auch in vielen anderen Ländern, ist es absolut unüblich, alte Menschen allein zu lassen. De facto sind sie nie allein. Das gilt jedoch nicht nur für Alte, sondern für alle vulnerablen Personen. Wenn eine Person einen Schicksalsschlag erlitten hat, wird sie in Indonesien Tag und Nacht von anderen umgeben. Das können Familienangehörige sein, die kurzfristig oder auch für längere Zeit zu der einsamen Person ziehen, oder auch Nachbarn, die dann immer für sie da sind und auch dort übernachten. Da es eigentlich so gut wie keine "Single-Haushalte" gibt, gilt die Fürsorge in einer Problemlage, bei einem Trauerfall oder bei Krankheit immer auch den nächsten Angehörigen der unmittelbar betroffenen Personen. Einsame werden selbst in ihrem Bett nicht allein gelassen. Das ist für uns, die wir mit dem Alleinsein eher vertraut sind, sehr ungewohnt. Als ich einmal auf einer Forschungsreise in Indonesien krank wurde, hatte ich das Bedürfnis, mich ins Bett zurückzuziehen und allein zu sein. Aber ich wurde ständig umsorgt, ständig saßen Mitglieder meiner Gastfamilie bei mir oder lagen mit in meinem Bett. Das empfand ich als anstrengend, aber es war unmöglich, diese Fürsorge zurückzuweisen.

F&L: Welche Praktiken des sozialen Zusammenlebens spielen dabei eine Rolle?

Birgitt Röttger-Rössler: Neben der Familie ist in Indonesien die Nachbarschaft extrem wichtig. Selbst in den großen Städten, auch in der Megacity Jakarta, wird Nachbarschaft noch gelebt. Die Nachbarn kennen sich gut, verbringen Zeit miteinander und wissen, wer welche Sorgen hat. Sich gegenseitig zu helfen ist eine Selbstverständlichkeit. Oft helfen die Nachbarn, bevor man sie darum bittet. Die Praktiken des sozialen Zusammenlebens unterscheiden sich deutlich von denen, die bei uns zu finden sind. Meine These ist, dass es ein fundamental anderes Erleben ist, ob jemand in einer dichten sozialen Einbettung einsam ist oder in sozialer Isolation. Gerade in unserer Gesellschaft gibt es gruselige Berichte über Menschen, die kaum noch soziale Kontakte haben und nur noch sprechen, wenn sie einkaufen oder zum Arzt gehen. Sie nehmen die subjektive Einsamkeit ganz anders wahr.

F&L: Einsamkeit gibt es nicht nur bei alten oder kranken Menschen, sondern auch Jugendliche sind davon betroffen…

Birgitt Röttger-Rössler: Ja, auch junge Menschen, gerade aus der Altersgruppe der Teens, artikulieren, dass sie allein und einsam sind. Sie haben oft ihren sozialen Platz noch nicht gefunden und ringen um Akzeptanz vor allem bei den Gleichaltrigen. Es gibt interessante kulturanthropologische Studien zu jungen Leuten in Japan. Japan gehört zu den Ländern, die eine hohe Selbsttötungsquote bei jungen Menschen vor allem in ihren 20er und frühen 30er Jahren aufweisen. In der Wirtschaftskrise der 1990er und Anfang der 2000er Jahre ist die Selbsttötungsrate auf 35 Prozent der Gestorbenen angestiegen. Davon waren zum großen Teil auch Menschen in ihren 50er Jahren betroffen, hier vor allem Männer. Die Rate ist bei den älteren dann insgesamt wieder zurückgegangen, jedoch nicht in der Altersgruppe der 20- bis 30-Jährigen. Hier ist sie sogar noch angestiegen und zwar auf 50 Prozent. Noch 2018 war die Selbsttötung der häufigste Todesgrund in dieser Altersgruppe.

F&L: Wie ist diese hohe Selbsttötungsquote zu beurteilen?

Birgitt Röttger-Rössler: Die Sozialanthropologin Chikako Ozawa-de Silva hat dieses signifikante Problem in Japan untersucht und sich vor allem mit den sog. "suicide websites" beschäftigt. Diese Websites gibt es etwa seit dem Jahr 2000. Benutzer und Benutzerinnen sprechen auf diesen Plattformen über ihre Selbsttötungsabsichten. Einerseits kann sich das positiv auswirken, weil sie hier über ihre Einsamkeit sprechen können und sich wenigstens in dieser Zeit nicht allein fühlen. Aber diese Plattformen werden auch benutzt, um sich zu gemeinsamen Selbsttötungen zu verabreden – "too lonely to die alone" ist zum Beispiel eine Formulierung, die sich dort findet. Chikako Ozawa-de Silva hat nach den Gründen für die Selbsttötungsabsichten gefragt. Es waren insbesondere zwei Aspekte, die von fast allen jungen Japanerinnen und Japanern auf diesen Websites artikuliert wurden: Das Leben ist sinnlos und diese Sinnlosigkeit ist eng gekoppelt mit dem Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Indem der Sinn des Lebens mit dem "sense of being needed" verknüpft wird, ist er relational über Verbundenheit definiert. Verbundenheit und Interdependenz werden in der japanischen Sozialethik betont, aber in den japanischen Medien wird, nicht zuletzt im Kontext des Neoliberalismus, diskutiert, ob sich das ändert und Japan sich in eine de-relationale Gesellschaft verwandelt.

F&L: Sie hatten anfangs erwähnt, dass die "displaced persons" besonders von Einsamkeit betroffen sind. Inwiefern haben sie ein spezifisches Risiko, einsam zu werden?

Birgitt Röttger-Rössler: Vereinsamung spielt bei allem, was unter den englischen Begriff "displacement" fällt, eine große Rolle. Alle, die migrieren, fliehen oder vertrieben werden, müssen nicht nur Personen zurücklassen – Teile ihrer Familie, Nachbarn, Freunde –, sondern sie müssen sich auch von ihrer vertrauten Umgebung trennen und finden sich in einem Lebensbereich wieder, der in jeder Hinsicht fremd ist: Die sozialen Regeln ändern sich, die Formen der Kontaktaufnahme und des Zusammenseins unterscheiden sich. Hinzu kommt noch, dass sich auch die sensorischen Umfelder verändern wie zum Beispiel das Essen, die Gerüche, die Geräusche, das Klima et cetera. Eine weitere wichtige Dimension der Verbundenheit, die verloren geht, ist die mit Orten, Landschaften oder allgemein mit "places", wie es im Begriff "displacement" zum Ausdruck kommt. Auch diese Aspekte der Trennung spielen im Hinblick auf die Vereinsamung eine große Rolle. Sie intensivieren in erheblichem Maße die Einsamkeitserfahrungen. Wir müssen also Verbundenheit und Relationalität viel breiter denken und dürfen sie nicht nur auf die soziale Umgebung beziehen – gerade wenn wir Einsamkeit im Kontext von Flucht und Migration verstehen wollen. Vor diesem Hintergrund sind auch viele Verhaltensweisen von Menschen in sogenannten Diaspora-Gemeinschaften zu deuten: Wenn sie so kochen wie in ihrer Heimatregion oder ihre Wohnung entsprechend gestalten, ist dies  als Versuch zu verstehen, sich auf einer sinnlichen Ebene neu zu beheimaten. Häufig werden diese Formen des "place-making" als mangelnde Integrationsbereitschaft gedeutet. Doch meines Erachtens ist es das Bemühen, an einem neuen Ort Wurzeln zu schlagen.