Freiheit
Im heutigen Russland Wissenschaftler sein
Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine haben Hunderte Akademikerinnen und Akademiker die Russische Föderation verlassen, Tausende andere sind geblieben. Wie kann akademische Freiheit in einem Umfeld gelebt werden, in dem die freie Meinungsäußerung nicht gesichert ist?
Die russische Politik hat Universitäten und einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den letzten zehn Jahren immer mehr beschränkt. Exzellente akademische Leistungen sind fast nur noch mit Abwägungen und Kontrollen möglich, darunter das Bemühen der Forschenden um eine besonders vorsichtige Ausdrucksweise und sogar die Selbstzensur. Die russische Invasion in der Ukraine hat alle unterschwelligen Spannungen aufgedeckt, die sich in der akademischen Welt aufgebaut hatten: Die schwindende Autonomie der Universitäten wurde ebenso immer deutlicher wie die politischen Eingriffe in den Forschungs- und Bildungsprozess sowie die Vereinzelung und Entfremdung der akademischen Gemeinschaft.
Zahlreiche politische Entwicklungen folgten unmittelbar auf den russischen Einmarsch in der Ukraine. Dazu gehörte der Abbruch von Beziehungen zu internationalen Partnern beispielsweise durch das Einfrieren der Zusammenarbeit mit russischen Institutionen der deutschen Wissenschaftsorganisationen und Universitäten oder die Aussetzung der Kooperationen mit Russland in Forschung und Innovation durch die Europäische Union. Weitere Beispiele sind der Ausschluss vom Bologna-Prozess, das Erstarken einer am Patriotismus orientierten Bildung in Russland sowie die anhaltende militärische Mobilisierung, die im September 2022 begann. All diese Entwicklungen wirkten sich dramatisch darauf aus, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Arbeitssituation erlebten. Der Artikel untersucht, wie das akademische Umfeld in Russland auf den staatlichen Druck reagiert.
Wissenschaftsfreiheit als Forschungsobjekt
Trotz umfangreicher Forschung und kontinuierlichen politischen Bemühungen gibt es noch immer keine einheitliche Definition von Wissenschaftsfreiheit, die für die gesamte Vielfalt bestehender akademischer Kontexte gleichermaßen relevant und beschreibend wäre. Die verschiedenen Beschreibungen unterscheiden sich in den zugrunde gelegten Daten und Herangehensweisen: So kann die Wissenschaftsfreiheit analysiert werden, indem Experten sie beurteilen, indem die gelebten Erfahrungen einzelner Forschender berücksichtigt werden oder indem bestehende Gesetze, die sie schützen oder eingrenzen, analysiert werden. Die letzte Herangehensweise erlaubt es, den Zustand der gesellschaftlichen Institutionen zu beurteilen. Bewertungen von Experten ermöglichen, eine Vergleichbarkeit herzustellen. Es sind jedoch die persönlichen Erfahrungen einzelner, die einen Einblick erlauben, wie Betroffene selbst die Situation wahrnehmen und bewerten.
Wissenschaftsfreiheit ist untrennbar mit der akademischen Praxis verbunden. Daher bilden die Erfahrungsberichte der akademischen Gemeinschaft einen der Schlüssel, um den Zustand der Wissenschaftsfreiheit zu verstehen und richtig zu kontextualisieren. Das gilt insbesondere, wenn man politisch herausfordernde Situationen betrachtet, die von einem externen Standpunkt aus hoffnungslos wirken. Aus diesem Grund habe ich für meine Studie "Speaking Up at Work: Narrative Analysis of Academic Freedom in Russia" zwischen Oktober 2017 und September 2018 mit 27 russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern über ihre Eindrücke der Wissenschaftsfreiheit in Russland gesprochen. Die Studie wurde im Januar 2022 veröffentlicht.
"Wissenschaftsfreiheit" in der russischen Sprache
Im umgangssprachlichen Russisch wird Wissenschaftsfreiheit meist als "Berufsfreiheit" oder einfach als "Freiheit" bezeichnet. Dies spiegelt nicht nur das Fehlen klarer Abgrenzungen der wissenschaftlichen Community gegenüber anderen Berufen wider, sondern – noch wichtiger – die enge Verbindung zwischen beruflichen und bürgerlichen Identitäten. Meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner haben Wissenschaftsfreiheit meist definiert als die "Fähigkeit, seine Arbeit ohne Einmischung zu erledigen". Dies betont ein negatives Verständnis von Freiheit als "Freiheit von etwas". Wie einer der Befragten beschrieb: "Du merkst nicht, wie viel Freiheit du hast, es sei denn, sie wird dir weggenommen." Mit anderen Worten, es ist die Veränderung des Status quo und die immer deutlicher werdende Freiheitsberaubung, die ein Bewusstsein für die frühere Freiheitserfahrung bringt. Dies kann als eine indirekter Hinweis darauf verstanden werden, dass in Russland die Freiheit des Einzelnen in den letzten zehn Jahren allmählich nachgelassen hat.
"Du merkst nicht, wie viel Freiheit du hast, es sei denn, sie wird dir weggenommen."
Laut Maggie MacLure (2003) ist das Etablieren von binären Gegensätzen eine der wichtigsten Arten der menschlichen Meinungsbildung. Um ein Phänomen zu verstehen, konstruiert ein Mensch demnach ein "Anderes", dem definierende Merkmale des zu verstehenden Phänomens fehlen. Den Berichte meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner folgend, habe ich zwei Arten von Freiheitsnarrativen identifiziert: zunächst das nach außen gerichtete (extravertierte) Narrativ und dann das selbsterhaltende (introvertierte) Narrativ. Diese Narrative sind um zwei Schlüsselkonzepte organisiert, die bei der Arbeit erlebt werden: "Bedrohung" und "Sicherheit". Extraversion und Introversion sind hier metaphorisch zu verstehen und haben nichts mit dem Persönlichkeitstyp der Befragten zu tun.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit einem nach außen gerichteten Freiheitsnarrativ betonten Bedrohungen innerhalb des beruflichen Umfelds, während diejenigen mit selbsterhaltenden Vorstellungen des beruflichen Raums sich auf die verfügbare Sicherheit konzentrierten. Es ist wichtig, "Sicherheit" hier nicht als eine physische Sicherheit zu verstehen, sondern im Sinne von "Vertrautheit" oder "Wohlfühlen".
Wie russische Forschende Bedrohungen empfinden und welche Strategien sie entwickeln
Während die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Sicherheit ganz allgemein als Voraussetzung verstehen, ungestört zu sein, erläutern sie "Bedrohung" als Folge zweier Hauptfaktoren. Einerseits würde sie dadurch ausgelöst, dass sich das institutionelle Umfeld einmischt und für Unterbrechungen sorgt, wie etwa durch Kolleginnen und Kollegen oder die Verwaltung. Einer meiner Interviewpartner etwa nannte als Einschränkung seiner freien und unabhängigen Arbeit als Wissenschaftler, dass er sich in der Hochschulpolitik einbringen und opportunistisch netzwerken musste, um seinen gesellschaftlichen Status und andere Ressourcen zu maximieren. Die Bedrohung provoziert Gereiztheit, Müdigkeit und Verdruss. Die andere Art von Bedrohung ist mehr globaler Natur, abstrakter und mit Einmischungen durch Staat oder Regime verbunden. Ein weiterer Gesprächspartner beschrieb, dass er und seine Kollegen unter dem Druck der ideologischen Kontrolle einer Autorität lebten. Die Gefühle, die dieses Beispiel und weitere Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in Bezug auf diese Bedrohung ausdrückten, waren eher Sorge oder Angst.
Befragte mit einer extravertierten Erzählung reagieren allgemein sensibler auf Bedrohungen und haben eine klarere Vorstellung davon, was tatsächlich "bedrohlich" ist, im Gegensatz zu ihren Kolleginnen und Kollegen mit introvertierten Erzählungen, die ebenfalls Unbehagen empfinden, aber versuchen, dies weniger stark wahrzunehmen.
Die Befragten haben drei Strategien identifiziert, um die Angst vor Bedrohungen zu bewältigen. Erstens, Konfrontation: Sicherheit wird erreicht, in dem man sich auf das Schlimmste vorbereitet, soweit es vorhersehbar ist. Einer meiner Gesprächspartner sagte, dass er sich darüber im Klaren sei, dass Kollegen bereits von FSB-Geheimagenten für Gespräche vorgeladen wurden und er selbst bereit sei, sollte es dazu kommen. Als zweite Strategie beschrieben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Diversifizierung der eigenen Optionen. Dazu gehört, dass man sich breitere akademischen Zugehörigkeiten sucht – etwa eine in Russland und eine im Ausland – und sich darauf vorbereitet, gegebenenfalls die Institution oder sogar das Land zu verlassen. Die dritte Strategie, die die Befragten identifiziert haben, besteht darin, sich weniger riskant zu verhalten, auch wenn dies ein gewisses Maß an Selbstzensur beinhaltet. Die Sicherheit wird in diesem Fall durch eine radikale Verschiebung dessen, was man sich noch erlaubt zu sagen oder zu tun, so maximiert, dass Unterbrechungen der beruflichen Tätigkeit ignoriert werden, bis ein neues, höheres Maß an Unerträglichkeit erreicht ist. Eines des besten Beispiele, das von verschiedenen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern genannt wurde, ist die Problematik, nationale Fördergelder für Forschunsgprojekte zu erhalten, die sich mit politischem Regimewechsel beschäftigen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen beschrieben, dass es ungemein helfe, politisch sensitive Forschungsthemen hinter harmloseren Formulierungen zu tarnen. Allerdings stammt diese Empfehlung aus den Jahren 2017 und 2018 und dürfte der deutlich repressiveren Realität von 2023 so nicht mehr entsprechen.
Umgang mit akademischer Unfreiheit
Die Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmer haben diese Strategien, um mit Bedrohungen der wissenschaftlichen Arbeit und damit Freiheit umzugehen, als Reflexion ihrer eigenen Erfahrungen ebenso deutlich identifiziert wie die Bedrohungen selbst, die schon lange vor Beginn der russischen Invasion in der Ukraine aktiv waren.
Obwohl sich das Alltagsverhalten vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Kriegsbeginn nicht unbedingt geändert hat, ergaben sich recht schnell Situationen, in denen sie spezifisch reagieren mussten. Tausende russische Forschende, Journalistinnen und Journalisten haben einen offenen Brief gegen den Angriff auf die Ukraine unterschrieben und ihn Ende Februar 2022 veröffentlicht. Als Gegenreaktion darauf haben etwa 200 Rektoren russischer Universitäten (etwa ein Viertel der Gesamtzahl), darunter auch Institutionen, die schon lange für ihre exzellente Arbeit bekannt sind, Anfang März 2022 einen öffentlichen Brief zur Unterstützung der sogenannten "speziellen Militäroperation" Russlands in der Ukraine verfasst, ohne im Vorhinein ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu konsultieren. Dieser Schritt verlagerte die Wissenschaft erheblich von einer vormaligen Existenz außerhalb der Politik hin zu einer politischen Positionierung auf höchster Ebene.
Interessanterweise sehen sich die im Land verbliebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler laut Margarita Zavadskaya und Theodore Gerber als Überlebende und Kämpfer, denen es gelingt, trotz alltäglicher Risiken und negativer Zukunftsprognosen professionelle Leistungen zu erbringen (Zavadskaya und Gerber, 2023). Ihre Freiheit wird auf allen Ebenen beeinträchtigt, nicht aber ihr Berufsethos oder ihre Begeisterung für die Wissenschaft. Laut den Interviews, die Zavadskaya und Gerber im Sommer 2022 geführt haben, seien in Russland verbliebene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler motiviert durch die Wichtigkeit ihrer Forschung und ihrer pädagogischen Pflichten. Sie seien von denen enttäuscht, die das Land verlassen haben. Die Spannungen zwischen denjenigen, die gegangen sind und denen, die – aus unterschiedlichen Gründen – in Russland geblieben sind, bilden einen der Konflikte, die zukünftig aufgearbeitet werden müssen.
Anmerkung der Autorin: Dieser Artikel stützt sich auf die Ergebnisse meiner Studie "Speaking Up at Work: Narrative Analysis of Academic Freedom in Russia". Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) hat sie 2022 mit dem zweiten Preis beim "Fundamental Academic Values Award" ausgezeichnet. Die Studie wurde vor dem russischen Angriff auf die Ukraine veröffentlicht. Die weiteren Auswirkungen des Kriegs können im aktuellen Text nur vermutet werden und erfordern in den kommenden Jahren weitere empirische Analysen.
Ein Jahr russischer Angriff auf die Ukraine
Am 24. Februar 2022 griffen Truppen der Russischen Föderation die Ukraine an. In der Folge mobilisierten beide Länder und begannen einen zähen Krieg. Viele Menschen flohen aus der Ukraine, viele konnten in den Nachbarländern und auch in Deutschland Zuflucht finden. Auch Menschen in Russland verließen ihre Heimat und versuchten in anderen Ländern zumindest vorübergehend ein neues Leben aufzubauen.
Die deutschen Wissenschaftsorganisationen entschieden, nicht länger mit russischen Einrichtungen zu kooperieren und bestehende Projekte einzufrieren. Derweil können und sollen persönliche Kontakte mit russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern weiter gepflegt werden, auch um den Kontakt zu kritischen Forschenden im Land zu bewahren.
Währenddessen geht der Krieg in der Ukraine weiter. "Auch Hochschulen wurden angegriffen und zerstört. Viele Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen, ihr Studium oder ihre Forschung unter Beschuss weiterzuverfolgen", sagte Professor Joybrato Mukherjee, der Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) kurz vor dem Jahrestag.
Mit finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat der DAAD laut Mitteilung im vergangenen Jahr rund 21 Millionen Euro für Projekte zur Ukraine mobilisiert. Die Organisation förderte demnach rund 170 Projekte deutscher Hochschulen mit ukrainischen Partnerhochschulen. Rund 10.000 ukrainische Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Hochschulbeschäftige erhielten vom DAAD und im Erasmus-Programm Unterstützung.
cpy
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