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Social Media
Nach Feierabend Wissenschafts-Kommunikation auf TikTok

Sie nimmt über 430.000 Menschen mit ins Labor. Doktorandin Amelie Reigl führt einen der größten deutschen TikTok-Accounts zum Thema Wissenschaft.

Von Charlotte Pardey 15.02.2023

Forschung & Lehre: Mit welchem Ziel haben Sie Ihren TikTok-Account "@dieWissenschaftlerin" gestartet, der inzwischen über 430.000 Zuschauerinnen und Zuschauer hat?

Amelie Reigl: Ich habe in dem Videoportal TikTok eine Herausforderung gesehen. Nach ersten Versuchen mit eher privaten Themen habe ich im März 2020 ganz offiziell "@dieWissenschaftlerin" gestartet. Ich wollte Wissenschaft sichtbar machen und bekam auch schnell mehr Zuschauerinnen und Zuschauer. Corona beziehungsweise die Pandemie waren Türöffner, sowohl für mich als auch für andere Wissenschaftskommunikatorinnen und -kommunikatoren. Die Leute waren interessiert und wollten wissen, was passiert. Ich erzähle es in ganz einfacher Sprache: Was ist ein Virus? Warum ist die Pandemie gerade so wie sie ist? Warum ging es so schnell mit der Impfstoffentwicklung? Mein Publikum stellte weitere Fragen: Was macht eine Wissenschaftlerin den ganzen Tag? Wie sieht es im Labor aus? Das zeige ich in meinem Format "Der Alltag einer Wissenschaftlerin". Das erste Video dieser Art war tatsächlich mein erster viraler Clip mit mittlerweile knapp zwei Millionen Ansichten. Für mich war so viel Interesse an meinem Alltag als Wissenschaftlerin überraschend. Allgemein habe ich mit diesem schnellen Erfolg nicht gerechnet.

Portraitfoto von Amelie Reigl
Amelie Reigl ist Doktorandin am Lehrstuhl für Tissue Engineering und Regenerative Medizin am Universitätsklinikum Würzburg. @dieWissenschaftlerin

F&L: Sie teilen ganz unterschiedliche Videos: Vlogs, also kurze Videozusammenfassungen ihres Tages, Infotainment, Comedy… Was kommt am besten an?

Amelie Reigl: Das ändert sich ständig und ich muss immer wieder überlegen, wie ich meine Videos interessant gestalte. Zur Zeit laufen "Reaction Videos" gut, wo ich mich dabei filme, wie ich auf andere Videos reagiere und wissenschaftlich fundiert erkläre, was in dem ursprünglichen Video passiert. Ich mache keine hochkomplexen Videos, in denen ich wie eine Biolehrerin alles erläutere, sondern ich versuche die Neugierde der Zuschauenden zu wecken, damit sie sich selbstständig weiter informieren.

F&L: Wen erreichen Sie damit?

Amelie Reigl: Die Nutzerinnen und Nutzer von TikTok sind sehr junge Leute, auch wenn sich das aktuell hin zu etwas älteren Zuschauenden verändert. Es sind aber vor allem Menschen, die nichts mit Wissenschaft zu tun haben. Es sind Leute, die mir schreiben, dass sie den Beruf "Wissenschaftlerin" gar nicht kannten. Meinem Instagram-Kanal folgen eher Menschen, die sich auch für Wissenschaft interessieren. Sie stellen mir spezifischere Fragen zu meinem Laboralltag, studieren Naturwissenschaften oder arbeiten in dem Bereich. Und sie sind auch ein bisschen älter als mein Publikum auf TikTok. Allgemein möchte ich Menschen erreichen, egal, ob sie an Wissenschaft interessiert sind oder nicht, weil ich mehr Sichtbarkeit für Wissenschaft und Forschung erwirken möchte.

F&L: Sie posten zu naturwissenschaftlichen Themen. Eignet sich das besonders gut für die breite Kommunikation?

Amelie Reigl: Ich glaube, dass man alles adäquat darstellen kann. Es gibt aber in jedem Forschungsfeld Themen, die sehr herausfordernd sind. Die Schwierigkeit der Wissenschaftskommunikation liegt meiner Meinung nach darin, in einer Sprache zu sprechen, die einfach genug ist, dass man verstanden wird, aber nicht zu vereinfacht. Das Thema soll immer noch unterhaltsam sein und beim Zuhören Spaß machen.  

F&L: Wie können Sie über Themen sprechen, die eigentlich nicht Ihr Fachgebiet sind?

Amelie Reigl: Zum einen spreche ich nicht sehr detailliert über die einzelnen Themen, und wenn ich etwas thematisiere, dann immer mit sehr guter Hintergrundrecherche. Quellen gebe ich an, damit Interessierte selbst weiterlesen können. Woran ich selbst forsche, kann ich nicht in der kompletten Fülle erzählen. Meine Forschung ist noch nicht publiziert, teilweise geht es auch um Patente. Ich erkläre nur die Basics, dass ich etwa an einem Hautmodell arbeite oder noch allgemeiner, indem ich zeige, wie eine Zellkultur funktioniert.

F&L: Sie haben inzwischen über 1.500 Videos auf TikTok veröffentlicht, Sie posten teilweise mehr als ein Video pro Tag. Dazu noch Hunderte Instagram-Beiträge. Wie viel Zeit nimmt die Pflege Ihrer Accounts in Anspruch?

Amelie Reigl: Ich arbeite hauptberuflich an meiner Promotion, da bin ich zu 65 Prozent angestellt, arbeite aber über 100 Prozent. Alles, was ich in den Sozialen Medien mache, ist Freizeit, selbst wenn es zu einem Nebenverdienst geworden ist. Als ich auf TikTok angefangen habe, habe ich dreimal täglich neue Clips veröffentlicht. Auch wenn ich Kooperationen mit Kunden habe und Deadlines anstehen, kann es stressig werden. Inzwischen habe ich eine Firma gegründet und beschäftige ein dreiköpfiges Team. Aufgaben wie Rechnungen und Angebote schreiben kann ich so auslagern und mir bei der Literaturrecherche Unterstützung holen. Ich stehe lieber kreativ vor der Kamera. In Stunden ist meine Arbeitszeit schwierig zu beziffern, weil ich viel nebenbei mache, für einen Vlog zum Beispiel filme ich mich über den Tag verteilt immer mal nebenbei. Das schneide ich, wenn ich nach Hause fahre in der Straßenbahn oder kurz abends oder morgens im Bett. Communitymanagement und Nachrichtenbeantwortung mache ich auch nebenbei. Die Produktion von Videos kann sehr unterschiedlich zeitaufwendig sein und reicht von meinem schnellsten Clip mit 30 Sekunden von Aufnahme drücken bis Hochladen und geht bis zu mehreren Stunden.

F&L: Können Sie sich vorstellen, diese Contentproduktion zu Ihrem Hauptjob zu machen?

Amelie Reigl: Die Wissenschaftskommunikation ist in den letzten Jahren sehr wichtig für mich geworden, aber nur Wissenschaftskommunikation zu betreiben, wäre mir zu wenig. Ich liebe es, im Labor zu stehen, zu forschen, Projekte zu planen, Ergebnisse zu sehen und anschließend darüber zu reden. Deshalb ist es für mich auch kein Ausschluss, entweder das eine oder das andere zu machen, sondern für mich gehört Kommunikation mit Wissenschaft zusammen.

F&L: Zeigen Sie auch negative Seiten Ihrer Arbeit als Wissenschaftlerin?

Amelie Reigl: Ich lege Wert darauf, dass man alle Aspekte sieht, etwa dass man auch am Wochenende im Labor steht, obwohl man keine Überstunden bezahlt bekommt. Ich würde nicht uneingeschränkt jedem jüngeren Menschen eine Promotion empfehlen. Für mich ist es der richtige Weg, aber es ist natürlich nicht der einzige. Ich beschäftige mich auch vermehrt mit den Themen Gleichstellung und Frauen in den MINT-Berufen. Es liegt mir am Herzen, ein Rollenvorbild zu sein, das hat mir früher in den Sozialen Medien gefehlt. Ich merke selbst, wenn ich Frauen in höheren Positionen sehe, zum Beispiel als Gruppen- oder Institutsleiterinnen, dann motiviert mich das. Ich habe jetzt noch ein Jahr meiner Doktorarbeit vor mir. Was dann kommt, weiß ich nicht. Diese strukturelle Unsicherheit ist für alle Doktorandinnen und Doktoranden psychisch anstrengend. Das war mir nicht klar, als ich angefangen habe zu studieren. Offen über Karrierewege und vorhandene Hürden zu kommunizieren, finde ich wichtig. Ich will die Wissenschaft nicht romantisieren. Forschung macht unglaublich viel Spaß, aber es gibt genauso negative Seiten.

F&L: Wie wird Ihre Social Media Arbeit von Kollegen betrachtet? Wie gehen Sie mit Kritik um?

Amelie Reigl: Es gibt zwei Arten von Kolleginnen und Kollegen: die, die wissen, was ich tue und total begeistert sind, und diejenigen, die keine Sozialen Medien nutzen. Generell reagieren Kollegen neutral bis positiv. Mein Glück war aber auch, dass ich TikTok lange anonym machen konnte, weil meine Kollegen nicht auf der Plattform präsent waren. Sie haben es erst erfahren, als ich schon eine große Community aufgebaut hatte und es dann gleich mit anderen Augen gesehen. Von TikTok-Nutzerinnen und -Nutzern bekomme ich mitunter kritische Kommentare und Hass. Einerseits sind diese Kommentare themenabhängig, zum Beispiel von Impfgegnern, ich bekomme aber auch sexistische Kommentare von Zuschauenden, die glauben, mit meinem Aussehen oder meiner Kleidung könnte ich keine Wissenschaftlerin sein. Da merke ich, dass noch viel Arbeit geleistet werden muss, bis klar ist, dass egal, wie ich aussehe, was ich anhabe und ob ich einen Lippenstift trage oder nicht, ich trotzdem Wissenschaftlerin bin.

F&L: Welches Potenzial sehen Sie in der social-media-basierten Wissenschaftskommunikation?

Amelie Reigl: Sie hat ein großes Potenzial, denn man kann Menschen erreichen, die sich nicht aktiv über wissenschaftliche Themen informieren. Es ist wichtig, zu zeigen, warum wir in Deutschland forschen und was die Forschung jedem Einzelnen von uns bringt. Die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten finanziert mit Steuergeldern und daher haben wir die Pflicht zu erklären, was mit dem Geld passiert, das wir erhalten. Ich finde aber, es muss nicht immer die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler sein – auch Universitäten und Institute sollten die Kommunikation übernehmen. Nicht jeder mag es, vor einer Kamera zu stehen. Forschende haben schon genug zu tun mit ihrer Forschung und dem Einwerben von Drittmitteln, dass nicht auch noch die Kommunikation auf ihren Schultern lasten sollte, es sei denn sie wollen es explizit. Auch über Anlaufstellen, an denen sich Forschende Hilfe bei der Kommunikation holen können, etwa an den Hochschulen oder über das Nawik, das Nationale Institut für Wissenschaftskommunikation, muss noch besser informiert werden.

F&L: Welche Tipps können Sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geben, die noch keine Sozialen Medien nutzen, um ihre Forschungsergebnisse und Meinungen zu teilen?

Amelie Reigl: Man sollte sich genau überlegen, was einem Spaß macht. Rede ich gerne und möchte ein Podcast machen oder mag ich es, vor der Kamera zu stehen und Videos zu filmen? Wen möchte ich adressieren? Entsprechend meiner Zielgruppe suche ich die Plattform aus. Vielleicht wäre statt TikTok Twitter oder sogar LinkedIn besser? Die Plattform sollte so sein, dass ich sie gerne nutze.