eine leuchtende und drei nicht-leuchtende Glühbirnen
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Pädagogik
Wie Schulbildung für exzellente Forschung sorgt

Die Herausforderungen der Menschheit können nur durch Wissenschaft bewältigt werden. Wie kann dafür schon in der Schule der Grundstein gelegt werden?

Von Volker Ladenthin 27.11.2023

Deutsche Schülerinnen und Schüler haben in der diesjährigen PISA-Studie so schlecht abgeschnitten wie noch nie. Dies hat die Diskussion über Schwachstellen im deutschen Bildungssystem neu entfacht. Welche dies sind und wie sie vermieden werden können? Seine Perspektive erläutert Erziehungswissenschaftler Professor Volker Ladenthin in Forschung & Lehre 11/23.


Eine Studie hätte die an Wissenschaft interessierte Öffentlichkeit mit dem Befund aufschrecken müssen, dass in "einem Zeitraum von mehr als 60 Jahren die Zahl an bahnbrechenden Erkenntnissen und Patenten in zahlreichen Disziplinen gesunken" sei. In Zahlen: "In den Sozialwissenschaften beispielsweise seien zwischen 1945 und 2010 fast 92 Prozent weniger bahnbrechende Studien erschienen. Bei den Patenten liegt dieser Wert etwa im Bereich der Medizin bei 91,5 Prozent, im Fall der Computer- und Kommunikationstechnik bei fast 79 Prozent."

Ist das so? Ist angesichts einer vernetzten Welt und sich immer neu stellender Aufgaben nicht eher zu erwarten, dass sich lediglich die Forschungszen­tren verlagern werden: Von der Alten und Neuen Welt in die bisher eher weniger lauten Regionen? Nicht die Forschung wäre dann müde geworden – nur die Forschung an den reichen Standorten scheint müde geworden zu sein – vielleicht auch deshalb, weil Wissen und Wissenschaft öffentlich als illegitime Herrschaft diskreditiert oder politisch funktionalisiert werden.

Will man Europa oder sogar Deutschland künftig als Kraftzentrum in der globalen Forschung erhalten, muss es also zu grundlegenden Veränderungen im Bereich Wissenschaft kommen. Aus pädagogischer Sicht lassen sich einige Zielvorgaben formulieren – wobei es nicht um einzelne Maßnahmen geht, sondern um prinzipielle Orientierungen. Thematisiert werden drei Bereiche: Vorschule, Schule und Universität.

Die Prinzipien lauten:

  • Kindgemäße Förderung in vorschulischen Institutionen.
  • Konzentration des Gymnasiums auf Propädeutik.
  • Universität als Ort von Forschung und Lehre – nicht als Ort des Lernens.
  • Trennung von Förderung und Betreuung im Vorschulbereich.

Die Vermischung der Zieldimensionen von KiTas, einerseits Eltern von der Kindererziehung zu entlasten, um sie so für den Arbeitsmarkt zur Verfügung zu haben, sowie Kinder aus prekären familialen Situationen zu holen und andererseits Ich-Entwicklung und Schulfähigkeit zu gewährleisten, löst zwar aktuell Arbeitsmarkt- und soziale Probleme – trägt aber nicht zur Verbesserung vorschulischer Qualifikationen bei, sondern erdrückt sie.

Das inzwischen wissenschaftsorientiert qualifizierte Personal sollte sich folglich vorrangig der umfassenden Förderung der kindlichen Entwicklungsprozesse widmen können. Im Vordergrund stehen sollten erstens die gut vorbereitete Ermöglichung freien, das heißt selbstwirksamen Spielens und zweitens die Vorbereitung auf die nächste Lebensphase, die Schule. Raum und Zeit müssen da sein, damit die Kinder eigene Interessen entdecken und durchsetzen können, Kooperationspartner finden, neue Spiele aushecken und bis zum Ende durchführen: Kinder können so lernen, Verantwortung für den nächsten überschaubaren Zeitabschnitt zu übernehmen und sich weder als Mittelpunkt der Welt noch als passiver Teil einer Gruppe zu verstehen, sondern bei konkreten Vorhaben selbstgesetzte Ziele zu erreichen. Gerahmt sein muss derlei Aufforderung zur wirksamen Selbsttätigkeit von aufgabenorientierten Arbeiten seitens der Erziehenden: Sie achten darauf, dass eine sinnbesetzte Vertrautheit mit dem Alltäglichen und den Ressourcen der überlieferten Kultur entsteht. Die Vorbereitung auf Schule betrifft in erster Linie Sozialverhalten, Selbststeuerung und Lernbereitschaft. Das Spiel in der KiTa muss also ernsthaft geplant sein.

"Speziell am Gymnasium sollte es um die Qualifikationen von lernstarken und verantwortungsbereiten Schülerinnen und Schülern gehen."

Die sozialen Probleme, Betreuung und Schutz, brauchen ein ganz anderes Konzept, um zumindest aufgefangen zu werden. Erstens die Einsicht, dass pädagogische Institutionen nie kompensieren können, was Elternhäuser versäumen. Zweitens folgt hieraus eine stärkere Begleitung von Eltern, die Hilfe in Anspruch nehmen wollen. Drittens brauchen Kinder aus problematischen sozialen Situationen eine spezifische Förderung, zumeist in der Sprachfähigkeit, die in die Nähe einer Therapie kommt, die gar nicht für alle Kinder notwendig ist. KiTas müssen differenzieren, wen sie wie fördern wollen.

Schule: Abschied von der Sozialpädagogik

Diese Differenzierung zwischen Betreuen und Bilden muss auch das Schulsystem strukturieren: Das bedeutet, dass man das Gymnasium so weit wie möglich von sozialpädagogischen Aufgaben entlastet und es auf seine (auch in den meisten Schulgesetzen der Bundesländer formulierte) Aufgabe reformiert: auf das Lernen im propädeutischen Kontext. Wertbezogene Kenntnis der kulturellen Standards, problemlösendes Lernen und die Schulung abstrahierenden und ordnenden Denkens sind dabei die drei Säulen.

Speziell am Gymnasium sollte es um die Qualifikationen von lernstarken und verantwortungsbereiten Schülerinnen und Schülern gehen. Es muss künftig Bildungswege geben, die bereits frühzeitig eine Ausrichtung auf Forschungstätigkeiten anvisieren. Gradmesser für diese propädeutische Schulart sind Lerngeschwindigkeit und Abstraktionsgrad der Anforderungen. 

Ideal der Allgemeinbildung darf nicht das Gymnasium sein, sondern eine Basisschulart, in der in angemessener Zeit all das zu lernen ist, was den Einzelnen zur verantwortungsvollen Bewältigung des Alltags in Berufen befähigt, die nicht Wissenschaftlichkeit als Kennmerkmal haben. Die Ziele aller anderen Bildungsgänge beinhalten nicht nur diese Alltagsfähigkeit, sondern zusätzliche Qualifikationen – am Gymnasium die Studierfähigkeit. Je früher diese Zusatzqualifikationen angeboten werden, umso zielgenauer ist jene Gruppe aus der nachwachsenden Generation zu fördern, die diesen Weg gehen will und gehen kann.

Wenn indessen das Gymnasium weiterhin Abschied nimmt von seiner Zielausrichtung Studierfähigkeit, ist es im Ensemble der Schularten gar nicht mehr begründet. Es überfordert derzeit einen Teil seiner Klientel durch kognitive Orientierung, und es unterfordert durch Egalisierung den anderen.

Der berühmte Aufschrei eines Mädchens namens Naina K., sie habe in der Schule alles gelernt, nur nicht, wie man eine Steuererklärung ausfülle, ist Ausdruck eines schulpolitisch befeuerten Selbstmissverständnisses. Das Mädchen war auf der falschen Schulart. Das Ausfüllen von Steuererklärungen wäre durchaus Gegenstand der neuen Basisschule, nicht aber des Gymnasiums. Dort lernt eine Klientel, die so schnell lernen und so formal denken kann, dass es sich die Herausforderungen einer Steuererklärung künftig selbst aneignen kann.

Die anlasslos implementierte Kompetenzorientierung der deutschen Bildungspläne hat die Tendenz unterstützt, weder Wissen noch abstraktes Denken von Gymnasiasten zu verlangen und stattdessen dazu gedrängt, fragmentierte Teilfähigkeiten für eine Praxis einüben zu lassen, die längst eine andere geworden ist, wenn die Schulabgänger in den Beruf gehen. Die geschulte Modellierungsfähigkeit in der Mathematik ist auf die forschungsrelevante höhere Mathematik überhaupt nicht zu übertragen und hält den auf zunehmende Abstraktion zielenden Mathematikunterricht mit der umständlichen Konstruktion angeblich lebensnaher, bei genauerer Prüfung jedoch lebensfern konstruierter Praxisbeispiele auf. Ein solcher Unterricht findet mathematische Exzellenz in der Schülerschaft nur durch Zufall. Der Umstand, dass Universitäten in den betreffenden MINT-Fächern Stützkurse einrichten müssen, die den Schulstoff nachholen, macht das Scheitern der Kompetenzorientierung öffentlich sinnfällig. Bereits vor 20 Jahren wurde genau vor einer solchen Entwicklung gewarnt: folgenlos. Dies gilt analog auch für die Schulung von Sprachkompetenz: Weiterführend im akademischen Bereich sind Einsichten in die Struktur und Strukturierung von Sprache (bedeutsam etwa für sprachgelenkte Maschinen), nicht aber das Einüben der sprachfremd gedachten Lesekompetenz anlässlich von Fahrplänen und Gebrauchsanweisungen. 

"Die Universität darf kein Ort des Lernens sein, sondern sie muss ein Ort des Forschens und des Lehrens werden. Das Lernen muss außerhalb der Universität erfolgen."

Statt des ausgegebenen Bildungsziels Teilhabe, also Anpassung an den Ist-Zustand, müssen ausdrücklich Wissenschaftsorientierung (Innovation) und verantwortungsvolle Kritikfähigkeit (Wertorientierung) Ziele des gymnasialen Bildungsgangs sein: Nicht Anpassung an gegenwärtige Trends, sondern die Fähigkeit und Bereitschaft, Innovationen verantwortungsvoll denken und durchsetzen zu können. Teilhabe orientiert sich am Status quo, Wissenschaftsorientierung dagegen an der Grundidee von Forschung, selbst Neues entdecken zu wollen – eine Grundidee, die auch die Intention von Literatur, bildender Kunst und Musik ist, die an Schulen allenthalben marginalisiert wurden. Letzteres rächte sich sehr schnell, ist aber nur langsam wieder zu kompensieren. Unterricht am Gymnasium muss alles zu Wissende und Könnende so lehren, dass man lernt, wie es erzeugt wird und wie man es künftig selbst erzeugen kann: konstruktives und innovatives Denken.

Die Universität: Ort der Forschung und Lehre

Die Universität darf kein Ort des Lernens sein, sondern sie muss ein Ort des Forschens und des Lehrens werden. Das Lernen muss außerhalb der Universität erfolgen. Seminare abzuhalten, in denen die Semesterlektüre von den meisten Teilnehmern nicht gelesen wurde, wird keine Innovationen hervorbringen. Spitzenforscher zur Kontrolle von Anwesenheitslisten oder zum Korrigieren von Klausuren einzusetzen, ist Verschwendung gesellschaftlicher Ressourcen. Credit Points zu addieren, statt Eignungen und Qualifikationen zu beurteilen, war ein ins Nichts führender Abweg, der die Erbringung von Teilleistungen mit wissenschaftlicher Qualifikation verwechselt. Die Universität muss ihre Klientel von dem Ansinnen schützen, die Psychometrie könne eher Auskunft über Forschungsfähigkeit geben als wissenschaftsbasierte Gutachten. Die Qualität von Wissenschaft lässt sich nicht quantifizieren und messen, und daher sollte die Universität auch nicht die Illusion verbreiten, in ihren Lehrveranstaltungen würden mit exakten Methoden lernzielbezogene Teilleistungen testiert, deren Zusammensetzen wissenschaftliche Exzellenz garantiere. Ließen sich Albert Einsteins Forschungen mit Note Eins, und Max Plancks mit einer Zwei plus beziffern? Kein Nobelpreis, keine große Forschung lässt sich in einem Notensystem ranken – Wissenschaft funktioniert so nicht. Also sollte die Universität es in der Lehrpraxis auch nicht vortäuschen.

Die Universitäten müssen sich von ihrer Ausrichtung auf Masse statt Klasse und vom Habitus einer sich um das Leben der Absolventen kümmernden Institution verabschieden. Seminare mit über 15 Studierenden können den Qualifikationsansprüchen rasend schnell expandierender und viel Lesebereitschaft verlangender Wissenschaft nicht genügen. Wenn einige Universitäten heute dazu übergehen, für ihre Erstsemester lustige Einführungswochen zu veranstalten (wie beim Übergang vom Kindergarten zur Grundschule), senden sie fatale Signale. Die Universität ist kein Ort des betreuten Lernens und fürsorglicher Lebensbegleitung. Sie bietet kostenlos (also von der arbeitenden Bevölkerung finanziert) eine Ausbildung in einem Lebensalter an, in dem Gleichaltrige als MTAs, Mechatroniker oder Installateure bereits Verantwortung für Leib und Leben ihrer Mitbürger tragen. Da darf man von Studierenden verlangen, dass sie wissen, wie sie zu studieren haben.

Fachspezifisch ist die Reduktion von Praxisanteilen zu überprüfen. Ein Studium dient der (zeitintensiven) Einarbeitung in Forschungsstand und Theorie und nicht dem Anlernen in einer zeitverbrauchenden Praxis. Praxis hinkt der Forschung immer hinterher – je mehr also in einem Studium Praxisanteile zu finden sind, desto weniger Zeit bleibt für das innovierende Studium der Theorie. Studium der Theorie heißt: kritische und problembezogene Aneignung des bisherigen Forschungsstands und damit die Fähigkeit, Forschungslücken zu entdecken. Praxisanteile verschmieren die Forschungslücken durch scheinbare Üblichkeiten in der Praxis.

Ein Studium soll nicht die Praxis studieren, sondern Wissen und Können so vorbereiten, dass es später die Praxis erneuern kann. Die Transferleistung Theorie-Praxis muss vom Absolventen geleistet werden, nicht aber vorauseilend von der Universität unter Bindung zeitlicher, personaler und finanzieller Ressourcen betreut werden. Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen sind keine Lebensbegleiter, nicht einmal Lernbegleiter: Sie sind Fachleute für ihre Wissenschaft. Ihre Lehrkompetenz gründet in ihrer Fachkompetenz, rührt nicht aus der Anwendung auf Praxis, pseudomethodischen Lernspielereien und farben­frohen Animationen.

"Die Menge der Probleme für den Menschen bleibt immer gleich, mögen die Arten ihrer Bewältigung auch wechseln."

Lehre an der Universität hat nur die Aufgabe, das Selbststudium zu ermöglichen (und nicht zu betreuen oder gar dazu zu motivieren). Lehre an der Universität heißt, Forschung auszulösen ("studieren"), heißt paradox ausgedrückt, dasjenige zu lehren, was es noch nicht gibt – bereits ab dem ersten Semester. 

Die eingangs zitierte Studie legt nahe, dass sie einen globalen Trend analysiert, dem sich keine der bisher führenden Wissenschaftsnationen entziehen könne. Aber das muss nicht so sein. Man muss nur nicht das weiter machen, womit auch andere Länder scheitern, und man muss schneller als sie auf die Fehlentwicklung reagieren. Das übrigens wäre ein Zeichen von wissenschaftsorientierter Politik.

Die in der Studie nahegelegte Auflassung, die Welt sei ausgeforscht, es gäbe nichts mehr zu erfinden, ist Ausdruck jener Krise, die die Studie nur beschreiben wollte: Die Menge der Probleme für den Menschen bleibt immer gleich, mögen die Arten ihrer Bewältigung auch wechseln. Geforscht werden muss nach Medikamenten gegen Krebs und Demenz, nach sozialverträglichem Umgang mit Seuchen, nach neuen Möglichkeiten ressourcenschonender Mobilität, Energiegewinnung und Nahrungsmittelsicherheit, nach Modalitäten einer neuen, nunmehr weltgerechten Wirtschaftsordnung, nach unverbrauchten Formen internationalen Zusammenlebens, nach globalen Gestaltungsformen rationaler und daher gleichberechtigter Diskurse, und der Artikel könnte durch weitere Aufzählung noch sehr lang werden. Die Welt könnte am Anfang des Wissenschaftszeitalters stehen, nicht am Ende.